32
Schattenhände
Mila
In dem Moment, als Ranuken mich am Rand des Fichtenwaldes absetzte, stieß ich seine Arme, die mich fest umschlungen hielten, beiseite. Zwar sah ich auf dem Hof vor der Ruine nichts anderes als ein undurchdringliches Wirrwarr aus Kämpfenden, doch ich wusste nur allzu gut, dass im Herzen dieses Tumults Asami gerade dabei war, seinen grausamen Plan in die Tat umzusetzen. Das konnte ich nicht zulassen, auf keinen Fall.
»Mila, wo zum Teufel willst du denn hin?« Ranuken streckte die Hand nach mir aus und ich wich ihm geschickt aus, was ihn nur lauter fluchen ließ. »Da kannst du nichts ausrichten, ich flieg da jetzt rein, verstanden!«
Nein, ganz und gar nicht. Das war mein Sam, den dieser Asami verstümmeln wollte. Ich stürmte mit dem festen Willen los, mir einen Weg durch diesen Wahnsinn zu kämpfen, doch es gelang mir gerade einmal, die Bäume hinter mir zu lassen, als unvermittelt ein Körperloser vor mir auftauchte und mich aus leeren Augenhöhlen anstarrte. Fast wäre ich in dieses schemenhafte Wesen hineingelaufen, doch ich bremste im letzten Moment ab und stürzte. Ich muss zu Sam!, dachte ich noch. Dann war alles wie mit einem Fingerschnipsen ausgeknipst.
Um mich herum wurde es vollkommen schwarz, weich und angenehm. Kein Geräusch vermochte die bleierne Stille, die mich umfing, zu durchdringen. Die Zeit schien sich auszudehnen, während ich in Finsternis schwebte oder vielleicht auch fiel - ich konnte es nicht sagen. Warum auch? Hier war nichts von Bedeutung, nur der tiefe Schlaf, der mich einlullte. Die Sorgen und die Wut, die eben noch mein Herz zum Rasen gebracht hatten, waren fort und hatten nicht einmal eine Spur hinterlassen. Ich trieb dahin, ohnmächtig und ausgeliefert. Und so bemerkte ich auch nicht, wie sich die ersten Schatten in die mich umgebende Finsternis hineinschlichen, wie sie Weiß ins Schwarz mischten, wenn auch kaum sichtbar. Sie umtanzten mich wie Schemen, die man nur aus den Augenwinkeln wahrnimmt, und machten mich schwindelig, bis ich nur noch samtene Schwerelosigkeit um mich herum fühlte.
Dann war ER da. ER flüsterte mit Worten auf mich ein, die ich nicht verstand, aber ich konnte mich auch nicht gegen seine Verführung wehren. ER umringte mich mit seinen Schattenhänden, wand sich so eng um mich, dass ich glaubte, jeden Moment mit ihm zu verschmelzen.
Auch wenn es unmöglich war, so kannte ich ihn doch, diesen Namenlosen, hatte seine Berührung bereits gespürt, wenn auch nur flüchtig. Damals, als ER schon einmal nach mir gegriffen und Sam mich von ihm befreit hatte. In meinen Albträumen und bei dem Bild, das ich von Sam gemalt hatte, als er fort war. Nun beherrschte ER mich und ich fand nicht den Willen, mich gegen ihn zu wehren. Warum überhaupt sich wehren? Was war verkehrt daran, im Schatten gefangen zu sein, sich darin zu verlieren? Unter seiner Berührung verwandelte ich mich in ein Gefäß, das zum ersten Mal gefüllt wurde. Energie durchflutete mich, jene klebrige unheilvolle Energie, die die Körperlosen umgab. Und doch wohnte ihr etwas Vertrautes inne, etwas, das tief in meinem Unterbewusstsein die Erinnerung an Sam weckte. Bevor die Energie mich jedoch zerreißen konnte, entlud sie sich wie ein Gewitter, trieb von mir fort und alles Dunkel wurde wieder in Helles getaucht. Aufgelöst in reines Weiß. Nein, nicht alles: Für den Bruchteil eines Herzschlags sah ich noch zwei dunkelgraue Augen, die auf mich gerichtet waren, eindringlich und voller beunruhigender Vorfreude, bevor das Licht sie bannte.
Mit einem Angstschrei auf den Lippen kam ich zu mir, ausgestreckt auf dem Waldboden liegend, im Hinterkopf ein grauenhaftes Pochen. Da, wo ich aufgeschlagen war, vermutlich auf einem Stein. Obwohl mein Körper mich unmissverständlich aufforderte, liegen zu bleiben, richtete ich mich auf und wurde prompt mit Übelkeit und einem noch schlimmeren Pochen belohnt. Zu meiner Verwunderung war der Kampfeslärm, der mir vor meinem Sturz noch in den Ohren geklungen hatte, vollkommen verebbt. Auf dem Platz vor der Ruine herrschte Stille, nur ein schwaches Keuchen drang mir in die Ohren. Das war wohl mein eigenes. Widerwillig öffnete ich die Augen, davon überzeugt, den Blick vor Schmerzen bestimmt nicht scharf stellen zu können. Doch vor meinen Augen zeichnete sich alles ausgesprochen klar ab. Trotzdem blinzelte ich einige Male, weil ich kaum glauben konnte, was ich da sah.
Von den Körperlosen, die den Waldrand gesäumt hatten, war keine Spur mehr zu sehen. Der ganze Hof war übersät mit regungslosen Schattenschwingen, die in einem Knäuel übereinander lagen, als wären sie nichts anderes als Marionetten, deren Bänder mit einem Schlag durchgeschnitten worden waren. Von dem Strahlen, das eben noch eine jede von ihnen umgeben hatte, war nur noch ein schwacher Abglanz zu entdecken. Nicht weit von mir entfernt konnte ich Shirin erkennen, zusammengekauert wie ein Embryo, die Augen starr zum Himmel gerichtet, in einer unnatürlichen Körperhaltung, die kaum zu dieser stolzen Frau passte. Doch was auch immer ihr widerfahren war, musste ihr eine grauenhafte Angst eingejagt haben, bevor es sie niedergeworfen hatte.
Oh Gott, sie sind alle tot!, schoss es mir durch den Kopf. ER hat sie getötet, sie ausgelöscht mit diesem Sturm von Energie, den ER durch mich hindurchgejagt hat.
Während mir Panik die Kehle zudrückte und mich am Boden gefangen hielt, begannen einige der Schattenschwingen zu zucken und leidvolles Stöhnen erklang. Zuerst glaubte ich, mich zu täuschen, bis inmitten des Schlachtfelds ein zerzauster Blondschopf auftauchte und wankend auf die Füße kam, die Schultern bebend vor Anstrengung. Bevor ich mein Glück fassen konnte, hatten Sams Augen mich gefunden. Wenn er befremdet war, mich zu sehen, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Seine Lippen formten meinen Namen, dann setzte er sich auch schon in Bewegung, dem Chaos um sich herum keinerlei Beachtung schenkend. Obwohl ihm anzusehen war, dass er seinen Körper kaum wieder unter Kontrolle hatte, kletterte er über die gerade erwachenden Schattenschwingen hinweg, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von mir zu nehmen. Gerade so, als würde ich mich wie eine Fata Morgana auflösen, wenn er auch nur einmal blinzelte. Oder wie ein Traum.
Als er endlich vor mir ankam, riss er mich mit einer solchen Gewalt in seine Arme, dass ich fast vor Schmerz aufgeschrien hätte. Seine Finger gruben sich zwischen meine Rippen und in meine Schulter. Morgen würde meine Haut zweifelsohne mit den Spuren seiner Berührung übersät sein.
»Mila«, sagte Sam mit rauer Stimme, und dann noch einmal: »Mila.« Er presste mein Gesicht so fest an seinen Hals, dass ich kaum Luft bekam. Dafür spürte ich sein wild schlagendes Herz und für dieses lebendige Trommeln hätte ich alles ertragen. Ich gab keinen Ton von mir, als Sam seine Umarmung löste, um meinen Kopf in den Nacken zu legen und mir forschend in die Augen zu blicken. Er prüft mich, begriff ich. Er ist sich nicht sicher, wer ich bin. Nicht nach dem, was eben geschehen ist. Was auch immer er in meinen Augen fand, es beruhigte ihn, denn sogleich glitten seine Finger über meine Haut, tastend, liebkosend, als wolle er sich immer wieder aufs Neue bestätigen, dass er mich auch wirklich im Arm hielt.
Vorsichtig beugte ich mich vor und streifte seine Lippen mit meinem Mund. Sie waren heiß, regelrecht glühend. Sam versteifte sich, ehe er den Kuss erwiderte, dann jedoch umso leidenschaftlicher. Einen Moment lang vermischte sich meine Freude, ihn wieder bei mir zu haben, mit einer Spur von Furcht, während Sam mich küsste, als hätte er die Welt um uns herum vergessen. Fast verzweifelt, als wolle er sie unbedingt vergessen. Ich spürte seine Kraft und seinen Willen mehr als je zuvor. Was hätte ich ihm entgegensetzen können, wenn er etwas anderes in meinen Augen gesehen hätte als nur mich, Mila? Was, wenn jener Schatten, der in mich eingedrungen war, eine Spur hinterlassen hätte?
Schließlich wurden Sams ungestüme Küsse sanfter, bis es ihm sogar gelang, sich von mir zu lösen. Erst jetzt bemerkte ich, wie kalt mir war. Als Sam seine Fingerspitzen betrachtete, sah ich es auch: Ein feiner silberner Schimmer haftete dort - derselbe Schimmer, der sich auf mich gelegt hatte, damals, als das Dunkel schon einmal nach mir gegriffen hatte. Er hatte ihn damals von meinem Gesicht gestrichen. Während meiner Ohnmacht war etwas geschehen, das ich mir nicht im Geringsten erklären konnte, das aber so grauenhaft war, dass der Junge, der Welten gewechselt hatte, um bei mir zu sein, mich einen Augenblick lang für seine Feindin gehalten hatte. Immer noch brannten meine Wangen unter seinem forschenden Blick.
»Was ist mit mir passiert?«, fragte ich Sam, unsicher, ob er meine leisen Worte überhaupt verstehen konnte.
Sam schüttelte nur schweigend den Kopf. Der Geste haftete etwas Ratloses an, das mir Tränen in die Augen steigen ließ. Was auch immer ich getan hatte, es war böser und mächtiger gewesen als Asamis Angriff und die Auseinandersetzung unter den Schattenschwingen. Doch nicht ich hatte das getan: Jemand hatte mich benutzt, einer, dessen verborgene Kraft größer war als die aller Schattenschwingen zusammen. Das machte die Sache aber keineswegs leichter.
»Mila, nicht.« Unerwartet liebevoll strich Sam mir über die Augenlider und lehnte dann seine Stirn an meine. »Egal, was vorhin passiert ist, es war nicht deine Schuld. Also mach dir keine Vorwürfe. Die muss sich ein anderer machen.«
»Aber wer?« Ich wollte Klarheit, musste unbedingt wissen, wer sich meiner bemächtigt hatte.
»Das werde ich noch herausfinden. Jetzt müssen wir dich allerdings erst einmal von hier wegbringen, bevor die anderen wieder bei Bewusstsein sind und dich hier bemerken. Schließlich gibt es schon genug Schwierigkeiten, auch ohne dass ein Großteil der Schattenschwingen zum ersten Mal seit einer Ewigkeit einen Menschen zu sehen bekommt.« Immer noch wackelig in seinen Bewegungen kletterte Sam hinter mich, um meinen angeschlagenen Hinterkopf in Augenschein nehmen zu können. »Das wird eine Mordsbeule, ist aber glücklicherweise nichts Schlimmeres. Kopfschmerzen und in ein paar Stunden etwas Übelkeit, wenn du Pech hast. Damit kannst du fliegen.«
Während Sam noch meine Verletzung abtastete, ließ ich meinen Blick über die erwachenden Schattenschwingen gleiten. Einige hatten sich bereits bis auf die Knie hochgestemmt, während andere versuchten, einfach nur vom Hof wegzukommen, selbst wenn sie dafür bäuchlings über den Boden kriechen mussten. Sie wirkten, als würden sie aus einer Narkose erwachen: Ihre Körper funktionierten mehr oder weniger, doch ihre Wahrnehmung war anscheinend weiterhin in einem Nebel gefangen, aus dem sie sich nur langsam befreien konnten. Zu meinem Schrecken lag Shirin immer noch zusammengerollt da, jetzt jedoch mit geschlossenen Augen, als würde sie schlafen. Und schlecht träumen, wenn man ihren angespannten Zügen Glauben schenken durfte. Als ich sie so sah, spürte ich das dringende Bedürfnis, zu ihr hinüberzulaufen und sie zu berühren, irgendetwas zu tun, das sie den Angriff vergessen ließ.
Bevor ich jedoch auch nur einen Schritt weit kam, hielt Sam mich zurück. »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, so leid es mir tut. Glaub mir, Shirin geht es den Umständen entsprechend gut - genau wie den anderen Schattenschwingen. Auch wenn es sie besonders arg erwischt zu haben scheint, wird sie wieder in Ordnung kommen.«
»Woher willst du das denn wissen?«
Zum ersten Mal schlich sich wieder so etwas wie ein Lächeln auf Sams Gesicht, auch wenn es sogleich von der Anspannung überdeckt wurde. »Mein Radar funktioniert wieder, und Shirin piepst ganz eindeutig. Genau wie unser Freund Ranuken, der dort drüben platt auf der Nase liegt. Dem Kerl werde ich seine Schwingen stutzen, sobald ich dich nach Hause gebracht habe. Der ist wohl nicht ganz bei Sinnen, dich einfach in die Sphäre zu bringen, während hier eine Versammlung stattfindet.«
Mit einem Rauschen breitete Sam seine Schwingen aus und schlang seine Arme um meine Taille. Ehe er zum Flug ansetzen konnte, tippte ich ihm gegen seine nackte Brust. »Wenn du unbedingt mit jemandem ein Hühnchen rupfen willst, dann mit mir. Ranuken hat mich nämlich ganz und gar nicht freiwillig hierher gebracht. Ich habe ihn erpresst.«
Sam zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich?« Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Anscheinend gefiel ihm die Idee, auch wenn ich dadurch ein solches Unheil angerichtet hatte.
»Sieht so aus, als hieltest du mich immer noch für das Unschuldslämmchen, das ich mal war. Aber glaub mir, du solltest mich nicht unterschätzen. Ich habe auch ein paar Tricks auf Lager«, sagte ich fast übermütig, denn in seinen Armen fühlte ich mich ausgesprochen sicher.
Ein kräftiges Schlagen der Schwingen und wir befanden uns in der Luft.
»Von den Tricks möchte ich, glaube ich, gern mal ein paar kennenlernen«, sagte Sam zu sich selbst, aber ich hörte es trotzdem.
Obgleich die Ruine nah am Grat der Steilküste lag, flog Sam ein ganzes Stück an ihr entlang, bis er schließlich knapp vor ihrem Ausläufer landete. Behutsam setzte er mich ab und ließ seine Arme so lange um mich liegen, bis er sicher sein konnte, dass ich auch wirklich stand. In der Tiefe unter uns schlugen die Wellen krachend gegen den Fels, obgleich die See verhältnismäßig ruhig war. Ich blickte zum Strand hinunter, der verlassen dalag, und fragte mich, ob sich um diese Uhrzeit in der Menschenwelt wohl noch einige Jugendliche beim Klippenausläufer herumtrieben und den Sommerabend ausklingen ließen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es so eine gute Idee ist, gerade hier zu wechseln. Jemand könnte uns dabei beobachten«, gab ich zu bedenken.
Sam war bis an die äußerste Kante vorgetreten und schaute hinab. »Ja, könnte schon sein. Aber schau mal, es herrscht gerade Ebbe, also liegen die Höhlen trocken. Wenn wir hinter den Klippen auftauchen, sieht uns in der Dunkelheit kein Mensch. Ich würde sagen, ich setze dich für einen Moment in einer Höhle ab und sehe nach, ob die Luft rein ist. Was meinst du?«
Was auf mich zukommen würde, wenn die Luft nicht rein sein sollte, stellte ich mir lieber nicht vor. Ich hatte zwar deutlich weniger Angst vor dem Meer als früher, seitdem ich mit Sam zusammen war, aber ein nächtliches Bad im Meer war trotzdem nicht gerade nach meinem Geschmack. Vor allem, weil das Wasser an dieser Stelle selbst an windstillen Tagen aufgewühlt war. Der Lärm, den es auch jetzt erzeugte, war der Beweis für die Gewalt, mit der es gegen den aufragenden Fels anpeitschte.
Sam schien meine Bedenken zu erraten. »Ich weiß: keine besonders verlockende Vorstellung. Aber immer noch besser als ein Haufen schlecht gelaunter Schattenschwingen, die noch lange nicht alle Sinne wieder beisammenhaben. Da ist es besser, wenn ihr Blick nicht gleich als Erstes auf dich fällt, auch wenn du dafür einige Minuten lang in einer dunklen Höhle ausharren musst.«
»Wie kommt es eigentlich, dass du schon wieder so fit bist?« Mein Ablenkungsversuch war kindisch, aber ich konnte mich einfach nicht so schnell mit dem Gedanken anfreunden, gleich völlig allein gelassen gegen meine Urängste ankämpfen zu müssen.
Zu meiner Erleichterung ging Sam auf meine Frage ein. Vielleicht brauchte auch er eine Verschnaufpause nach den Schrecken dieses Abends. »Sieht so aus, als wäre meine Aura - oder was auch immer das ist, was mich umgibt - stärker als die der anderen. Deshalb habe ich diesen Übergriff einfach besser weggesteckt. Na ja, zumindest vermute ich das.« Sam schüttelte sich, als wollte er die Gedanken fortscheuchen und blickte auf seinen nackten Oberkörper. »Lass uns das Nachdenken auf später vertagen, ich brauche jetzt erst mal was, um den Bannspruch abzudecken. Wenn wir drüben sind, bleibt uns noch genug Zeit zum Kopfzerbrechen.«
Erst jetzt bemerkte ich die tiefe Schnittwunde an Sams rechtem Arm, die mit verkrustetem Blut bedeckt war, das ich auch auf meiner Kleidung wiederfand. Zum Glück waren die Symbole auf seiner Haut unverändert. Asami war es trotz aller Anstrengungen also nicht gelungen, dieses Werk zu vollenden. Erleichterung breitete sich in mir aus und machte mich schwindelig. Es fühlte sich an, als wäre ich gerade zu schnell Karussell gefahren. Plötzlich war in meinem Kopf kein Platz mehr für all die Sorgen, nur noch für Sam, der dicht bei mir stand und im kalten Dämmerlicht der Sphäre schimmerte.
»Meinen Pulli habe ich vor lauter Hektik auf dem Horst zurückgelassen. Meinst du, dass mein T-Shirt ausreicht, um die Zeichen abzudecken? Oder vielleicht nehmen wir doch besser meine Hose, unter dem Shirt trage ich nämlich nichts drunter«, bot ich an, und wie um das Ganze noch zu verschärfen, entfloh mir ein leises Kichern.
Sam musterte mich eigenartig fasziniert, dann griff er mit einer gefährlich langsamen Bewegung nach dem Saum meines Shirts und lüftete es leicht. Augenblick nahm ich die kühle Nachtluft auf meiner Haut wahr. Bei der Vorstellung, dass Sams warme Finger, die vor einigen Minuten noch so zärtlich über mein Gesicht gestrichen waren, nun vom Saum zu meinem Bauch wandern würden, wurde meine Haut jäh von einer Glutspur überzogen.
»Gar nichts also?«, hakte Sam nach und das Funkeln in seinen Augen verriet, dass ihm gerade ebenfalls ein paar Dinge durch den Kopf gingen, die nichts mehr mit den Geschehnissen vor der Ruine zu tun hatten.
Ich nickte bekräftigend, unfähig, diesen Augenblick zu zerstören, obwohl in meinem Hinterkopf die Sorge aufblinkte, dass die Zeit nicht stillstand, nur weil wir beiden der Anziehungskraft zwischen uns nachgaben. Als Sams Finger tatsächlich über meinen Bauch strichen und langsam nach oben glitten, hatte ich auch diese Sorge schon wieder vergessen. Ich drängte mich näher an Sam, darauf bedacht, den Spielraum seiner Hand nicht zu beengen und trotzdem seinen Körper eng an meinem zu spüren. Auffordernd küsste ich ihn auf die Vertiefung seiner Halslinie, während meine Hände seinen Rücken erkundeten und auch nicht vor jener Stelle haltmachten, wo die Schwingen begannen. Die flüchtigste Berührung reichte aus und Sam entfuhr ein heftiges Atmen. Ich glaubte schon, seine Hand endlich auf meinem Busen zu spüren, als eine kalte Stimme die Luft durchschnitt.
»Samuel«, erklang plötzlich eine heisere Stimme »Wenn dir so viel an diesem Mädchen liegt, hättest du in die Menschenwelt wechseln sollen, solange du noch die Zeit dafür hattest. Jetzt ist es zu spät. Ich werde sie töten. Nicht nur, weil sie ein Mensch ist, sondern auch für das, was sie uns eben angetan hat.«
Als wäre ein Blitz zwischen uns gefahren, sprangen Sam und ich auseinander. Hinter der Klippe stieg Asami auf wie ein unheilvoller Engel. Gleich auslaufenden Tuscheschlieren breitete sich seine Aura aus und seine schwarzen Augen erzählten von einer Wut, die nichts mehr mit auflodernden Gefühlen und Temperamentsausbrüchen zu tun hatte. Vielmehr verlieh sie ihm eine berechnende Stärke, die ihn zu einem beängstigenden Gegner machte.
Ich hatte nicht einmal annähernd begriffen, was gerade geschah, da hatte Sam sich auch schon vor mich gestellt und schirmte mich mit seinen Schwingen ab. »Mila, kaure dich auf dem Boden zusammen und rühr dich nicht von der Stelle.« Seine Stimme klang so ernst und beherrscht, dass ich erschrak. Das war keine Bitte, sondern ein Befehl. Ich spürte einen Luftzug, dann war er auch schon fort. Angstvoll richtete ich den Blick auf den sternenklaren Himmel.
Mit einem Wutschrei stürzte sich Sam auf Asami und der Aufprall schleuderte sie beide so weit aufs Meer hinaus, dass ich schon befürchtete, sie aus den Augen zu verlieren. Obwohl mir auf die Entfernung die einzelnen Bewegungsabläufe entgingen, erkannte ich, wie versessen sie einander umkreisten und dass sie keine Chance ungenutzt ließen, einander zu attackieren. Asami wusste, wie man einen Kampf in der Luft zum eigenen Vorteil führt. Trotzdem gelang es Sam, sich ihm zu widersetzen, auch wenn er stets aufs Neue ausbrechen musste, um nicht doch von seinem Gegner überwältigt zu werden. Trotzdem hatte er bereits einige Treffer hinnehmen müssen und seine Gegenwehr ermüdete viel zu schnell, während Asami ihm unbarmherzig zusetzte. Was mich jedoch mehr schockierte, war die Tatsache, dass Asamis schwarze Aura sich mit jedem Punktsieg weiter ausbreitete, bis Sams helles Strahlen nicht mehr als nur ein Glimmen war. Trotzdem gab Sam nicht auf und riss Asami, dessen schwarze Augen mich unentwegt auf der Steilklippe suchten, ein ums andere Mal zurück.
Erneut hatten sich die beiden ineinander verkrallt und die Schwingen eingezogen, um den Gegner besser attackieren zu können. Dieses Mal sackten sie mit einer solchen Geschwindigkeit hinab, dass ich schon fest damit rechnete, sie gleich ins Meer stürzen zu sehen. Doch im letzten Moment strampelte Asami sich frei und schraubte sich schräg in die Luft, dicht gefolgt von Sam, der etwas länger gebraucht hatte, um sich zu fangen, und diesen Abstand jetzt verzweifelt wieder wettzumachen versuchte.
Ich hockte auf der Steilkippe, grub meine Finger vor Anspannung in den kargen Boden und begriff kaum, dass Asami im Flug auf mich zuhielt, den Blick fest auf mich gerichtet, die Arme weit ausgestreckt, in der Absicht, mich zu schlagen, wie ein Adler seine Beute schlägt. Ich konnte die Zornesfalte zwischen seinen Brauen erkennen, die dunklen Schlieren, die eine Wunde hinterlassen hatten, und seine vor Anstrengung zusammengepressten Lippen. Schon spürte ich den Windzug, der ihm vorausging, auf meinen Wangen. Er war nur noch einen Hauch von mir entfernt. Da hatte Sam ihn einholt und riss ihn mit sich in die Höhe.
Asamis Wutschrei gellte mir in den Ohren. In diesem Moment begriff ich, dass es nicht viel gebraucht hätte, und ich wäre jetzt tot. Wenn diese Schattenschwinge nur eine Sekunde schneller gewesen wäre, läge ich jetzt mit gebrochnem Genick auf der Steilklippe.
Auch auf Sams Gesicht spiegelte sich Begreifen, wie knapp dieser Kampf um Leben und Tod ausgegangen war, während er einen um sich schlagenden Asami hoch in den Nachthimmel zerrte. Entsetzen paarte sich mit Zorn und einer Entschlossenheit, die ich zuvor so noch nie bei Sam gesehen hatte. Von einer Sekunde zur anderen strahlte er so gleißendhell auf, dass ich meine Augen mit der Hand abschirmen musste. Ich sah nur Licht, kühles Sternenlicht. Dann durchschnitt ein Schmerzensschrei die Luft. Als ich wieder etwas erkennen konnte, hielt Sam einen leblosen Asami fest und schlang sich dessen schwarzes Haar wie einen Schleier um den Unterarm. Die Schattenschwinge ließ alles widerstandslos geschehen. Dann begriff ich: Asamis Schwingen waren gebrochen, nutzlos hingen sie von seinem Rücken herab. Entsetzt schlug ich die Hände vor den Mund.
Sam sah zu mir herüber - ein Abschied -, dann schlug er einmal mit den Schwingen, um einen rasanten Sinkflug einzuleiten.
Ich sprang wie von Sinnen auf, stürzte an den Grat, ungeachtet des bröckelnden Gesteins, und sah gerade noch, wie Sam mit Asami in den Armen in die Wellen stürzte. Das dunkle Wasser verschluckte sie und kochte auf, als wäre in der Tiefe plötzlich ein Geysir ausgebrochen. Das Herz schlug mir bis zur Kehle. Waren sie gewechselt oder hatte der unvollendete Bannspruch ein weiteres Mal seine Macht entfaltet und sie beide in einen Kokon aus Schatten gehüllt? Die Tiefe zog mich magisch an und ich verspürte den Drang zu springen, dorthin, wo auch immer Sam nun sein mochte.
Da wurde ich bei der Schulter gepackt und zurückgerissen. Es war Ranuken, und auf seinen Zügen zeigte sich die pure Panik. »Nicht, Mila! Du bringst dich doch um!«
Benommen blickte ich ihn an. »Aber Sam …« Meine Stimme brach ab,
»Was hat Sam getan?«
Mühsam berappelte ich mich. »Wir beide müssen wechseln, sofort.«
Als Ranuken nicht reagierte, verpasste ich ihm in meiner Verzweiflung einen groben Stoß vor die Brust. »Sofort, hab ich gesagt.«