19
Die Lichtwandlerin
Mila
Zu mir! Er ist zu mir zurückgekehrt, dachte ich ungläubig, während ich mich enger in Sams Arme schmiegte. Trotz all der unfassbaren Dinge, die er mir soeben mit seiner klaren, zielgerichteten Art erzählt hatte, war es dieses wunderschöne Liebesgeständnis, das mich gefangen hielt. Es war ihm, allen Widerständen zum Trotz, gelungen, das Meer zu passieren. Und nicht nur das - er hatte mich sogar in die Sphäre mitgenommen.
So unauffällig es ging, hob ich den Kopf. Sam war nach seiner Erzählung in Schweigen verfallen und ich wollte ihn nicht aufschrecken. Langsam ließ ich meinen Blick umherschweifen, denn ich wollte nur allzu gern dasselbe für die Sphäre empfinden wie Sam. Für ihn war sie ein lebendiger, berauschender Ort voller Farben, doch für mich war sie ein Schwarzweißfilm aus einer fernen Zeit, als der Mensch der Natur noch schutzlos ausgeliefert war. Ich konnte es mir noch so sehr wünschen, mich hier heimisch zu fühlen, die Sphäre schüchterte mich ein. Selbst hier auf dieser schönen Lichtung, die Sam ausgesucht hatte.
»Dir geht gerade etwas Ungutes durch den Kopf, nicht wahr?«
Ertappt zuckte ich zusammen. »Ich hatte ganz vergessen, wie gut du darin bist, Menschen zu lesen.«
»Das brauche ich gar nicht, ich kann es an deiner Anspannung erkennen«, erklärte Sam. »Die ganze Zeit über hast du so ruhig in meinen Armen gelegen, dass ich nicht einmal darüber nachgedacht habe, ob ich mit meinem Redefluss nicht lieber mal eine Pause einlegen sollte. Aber jetzt hast du deine Muskeln mit einem Mal angespannt, als würdest du dich auf einen Kampf vorbereiten.«
»Höchstens auf einen Kampf mit mir selbst.«
Erneut schmiegte ich mich in Sams Arme, der es allem Anschein nach nicht überbekam, mich festzuhalten. Um mich abzulenken, begann ich an dem Shirt herumzuspielen, das immer noch um seinen Unterarm gewickelt war. Als ich jedoch den frischesten Schnitt frei gelegt hatte, zog ich die Finger zurück, als hätte ich mich daran verbrannt. Wie konnten längst vernarbte Messerschnitte nur so eine Magie entfalten? Denn um nichts anderes handelte es sich ja. Dass mich diese Magie berührte, verstörte mich mehr, als ich mir eingestehen mochte. Vermutlich wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen, um Sam davon zu berichten, was damals passiert war, als ich die Symbole das erste Mal betrachtet hatte. Wie dieser Schatten nach mir gegriffen hatte, mit dem Ziel, sich meiner zu bemächtigen. Aber ich brachte es nicht über mich. Zu groß war meine Furcht, Sam könnte auf die Idee kommen, dass er eine Gefahr für mich darstellte. Zu oft hatte er in dieser Nacht nun schon daran gezweifelt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, als er mich in sein Geheimnis einweihte. Außerdem sah es doch ganz danach aus, als wenn er die Symbole beherrschte. »Wie kommt es eigentlich, dass du trotz der Zeichen wechseln konntest?«
Ich spürte, wie ein Schauder durch Sams Körper lief und die Härchen auf seinen Unterarmen sich aufstellten. »Ich habe dir ja erzählt, dass die Narben beim Wechsel aufklaffen, anstelle von Blut jedoch etwas Schattenartiges herausströmt. Die Symbole sind quasi Risse in der Wirklichkeit, aber Risse kann man zusammenhalten. Das habe ich gelernt, obwohl es alles andere als angenehm gewesen ist. Diese Aura, die mich umgibt, lässt sich ähnlich einer Hand einsetzen, die sich auf die Symbole legt. Es hilft allerdings, wenn ich die Narben außerdem bedeckt halte. Ohne diesen zusätzlichen Schutz würde es mir wohl nicht gelingen, die Schatten zurückzudrängen, die nach mir greifen.«
Unwillkürlich musste ich an das Bild denken, das ich von Sam gemalt hatte. Es zeigte ihn nicht in der Sphäre, sondern in der Umarmung dieses Schattenkokons. Ich hatte gemalt, wie Sam in ihm gefangen war, aber auch, wie er Widerstand zu leisten begonnen hatte. Sein Gesicht hatte er sich auf meinem Bild ja bereits freigekämpft gehabt.
»Du kannst die Zeichen jetzt also beherrschen?«
Sam kaute auf seiner Unterlippe herum, den Kopf gesenkt, sodass seine Haare die Augen verdeckten. »Schon besser, aber nicht richtig«, sagte er leise. »Eigentlich müsste ich den Bannspruch brechen, damit ich meine volle Stärke entfalten kann. Ich weiß allerdings nicht wie.«
»Volle Stärke, das klingt doch gut. Vielleicht könntest du dann sogar übers Wasser wandeln oder mit deinen Augen Blitze abschießen.«
»Sehr witzig.« Sam zupfte mich an einer meiner Haarsträhnen. »Aber jetzt im Ernst: Wäre es besser gewesen, wenn ich dir das alles gar nicht erzählt hätte?«
Ich hörte die Sorge in Sams Stimme und musste wider Willen lächeln. Er glaubte, dass ich von dem eben Gehörten überfordert war, dabei war ich schon längst einen Schritt weiter. So verrückt es klingen mochte, ich fühlte mich keineswegs überfordert, nachdem ich erst einmal akzeptiert hatte, was Sam war. Mir ging es jetzt vielmehr darum, ihm etwas zurückzugeben, mich seiner Liebe ebenbürtig zu erweisen, indem ich die Sphäre, seine eigentliche Heimat, akzeptierte. »Das fragst du doch nur, weil ich so behütet aufgewachsen bin«, neckte ich ihn. »Nun, vielleicht bin ich in mancher Hinsicht ein ahnungsloses Schaf. Aber wenn mir meine Vorzeigefamilie eins mit auf den Lebensweg mitgegeben hat, dann Stärke und Vertrauen. Du brauchst dir also keine Sorgen um mich machen, ich lande ganz bestimmt nicht auf der Couch eines Psychologen.«
»Ich weiß nicht …«
Ich konnte die Zweifel direkt von seinem Gesicht ablesen. »Hör mal, Sam: Wenn nicht ich damit klarkomme, wer dann? Du hast doch selbst gesagt, dass ich die Dinge anders sehe als die meisten Menschen. Damit hast du recht gehabt. Ich habe es von Anfang an als gegeben hingenommen, dass du dich auf eine grundlegende Art von uns allen unterscheidest. So gesehen hast du mir bloß etwas bestätigt, was ich tief in mir drinnen eh immer gewusst habe.«
Was auch immer ihn an meinen Worten überzeugt hatte, ich konnte regelrecht spüren, wie sich etwas in Sam löste und seine Sorgen wie eine Flut wegspülte. Eine besonders prickelnde Flut offenbar, denn nun grinste er mich herausfordernd und sehr sexy an. »Das ist übrigens ein wirklich schickes T-Shirt, das du da anhast.« Sein Blick glitt über den fluoreszierenden Aufdruck auf meiner Brust und sein Grinsen wurde noch breiter. »Lass mich raten: ein Geschenk von Rufus.«
Das bestätigte meinen unschönen Verdacht. »Das ist Spanisch und heißt ›Kleine Schwester‹.«
»Ja, das ist Spanisch, aber es heißt definitiv nicht ›Kleine Schwester‹.«
Automatisch schossen mir unzählige Möglichkeiten durch den Kopf, was die Aufschrift wohl bedeuten könnte. Keine davon war sonderlich beruhigend. Ich zog meine Augenbrauen zusammen und schenkte Sam einen ungeduldigen Blick, sodass er gleich abwehrend die Hände hochhob.
»Die Aufschrift bedeutete so in etwa ›Überreife Jungfrau‹. Herr Sales hat uns mit solchen lustigen Vokabeln im Spanischunterricht bei Laune gehalten. Typisch Rufus.«
»Mann, ich hasse meinen Bruder! Und dann lässt er mich mit dem Ding auch noch an meinem Geburtstag rumlaufen, als wenn nicht die Hälfte unserer Schule Spanisch bei Sales belegt hätte. Rufus hat vielleicht ein Glück, dass er sich gerade in einer anderen Welt aufhält, dieser Mistkerl.«
Ich hatte mich immer noch nicht wieder beruhigt, als Sam mit dem Zeigefinger die Buchstaben auf meinem T-Shirt nachzuzeichnen begann. Als würde er sich der plötzlichen Stille bewusst, sagte er: »Mir gefällt es - das T-Shirt, meine ich.«
»Wenn du damit nicht aufhörst, verwirrst du mich wirklich noch vollkommen«, sagte ich ein wenig atemlos.
»Sich ein wenig verwirrt fühlen, ist doch gar nicht so schlecht.« In seine Stimme hatte sich ein lasziver Ton geschlichen, der ausgesprochen gut zu seiner Stimme passte.
Ich wollte etwas erwidern, doch im nächsten Moment hatte ich meinen Text auch schon vergessen. Denn ich war viel zu sehr mit dem Magnetismus beschäftigt, den Sams Fingerspitzen auf meinem Dekolleté auslösten. Unmöglich, auf diese Berührung zu verzichten. Ich hatte ihn so schrecklich vermisst, all die langen Wochen. Ich wollte ihn so nah bei mir haben, wie irgend möglich. Ihn spüren, ihn halten. Doch gerade, als ich meine Augen schließen wollte, um mich ganz diesem verführerischen Spiel hinzugeben, sah ich ein sanftes Aufleuchten im Dunkel zwischen den Bäumen. Wunderschön wie morgendlicher Nebel. Meine Erregung war mit einem Schlag vergessen, als wäre mein Geist von den Empfindungen meines Körpers getrennt worden. Abrupt richtete ich mich auf und hörte Sam frustriert aufschnaufen.
»Dort drüben«, sagte ich und deutete auf das helle Schimmern, das sich so lange verdichtete, bis es die Gestalt einer Frau annahm. Ihre Züge waren kaum auszumachen und auch nicht klar umrissen. Es war, als würde ich Sams Strahlen als milde Ausgabe sehen, nur dass da eben kein Sam war, sondern einzig sein Strahlen. Die Frauengestalt war reinste Aura.
Sam hatte sich neben mich gestellt und nahm meine Hand, während ich wie gebannt die fast durchsichtige Frau betrachtete, die zwischen den Bäumen lustwandelte und einen Schweif feinster glitzernder Tautropfen hinter sich herzog. Obgleich sie uns nicht bemerkte, fühlte ich mich doch von ihr berührt. Gleichmut, gepaart mit einer Spur von Melancholie, breitete sich in mir aus, schenkte mir Ruhe und Traurigkeit zugleich. Ich war so froh, dass Sam bei mir war, dass ich mich an ihn lehnen und seine Wärme spüren konnte, während diese Gefühle über mich hinwegzogen wie ein sanfter Regen. Noch eine ganze Weile, nachdem die ätherische Erscheinung die Lichtung hinter sich gelassen hatte, stand ich ergriffen da, als habe man mir ganz unverhofft ein Geschenk gemacht.
»Das war eine Lichtwandlerin«, flüsterte Sam mir zu, als wäre auch der leiseste Ton nach diesem Erlebnis noch zu laut. »Es sind Schattenschwingen, die ihren Körper in der Menschenwelt verloren haben, es aber trotzdem irgendwie geschafft haben, in die Sphäre zu wechseln.«
»Warum?«
»Vielleicht ist es noch nicht an der Zeit für sie zu gehen oder sie lieben die Sphäre einfach zu sehr. Das glaube ich zumindest. Wahrscheinlich, weil ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen kann, ohne die Sphäre zu existieren.«
Das brachte mich zu einer Überlegung, bei der ich sofort klamme Handflächen bekam. »Sam, mir gefällt die Sphäre ja auch ganz gut. Nun ja, zumindest gefällt sie mir deutlich besser, nachdem ich gerade festgestellt habe, dass hier solche wundersamen Wesen leben. Aber willst du denn gar nicht mehr mit mir in meine Welt kommen?«
Sams Händedruck, der plötzlich fester wurde, verriet mir, dass ich einen wunden Punkt berührt hatte.
»Kommt dir die Sphäre denn nicht wie das Paradies vor, viel schöner als die Menschenwelt?«
Eine Gegenfrage anstelle einer Antwort. Es sah so aus, als wenn es uns beiden nicht leichtfallen würde, in der Welt des anderen heimisch zu werden. Ich hatte noch im Ohr, wie Sam mir bei unserem Spaziergang am Strand verraten hatte, dass er sich unserer Welt nie richtig zugehörig fühle, wohingegen er nun mühelos mit der Sphäre verschmolz. Mir hingegen jagte die Sphäre eine gehörige Portion Ehrfurcht ein, als wäre ich eine Nummer zu klein für Grenzen, die aus gleißendem Licht bestanden, und eine Natur, die nicht vom Menschen gezähmt worden war. Ja, die nicht einmal eine Zuflucht vor dem unnatürlich klaren Sternenlicht bot. Wenn ich mich allerdings an Sams Begeisterung und der Erinnerung an die Lichtwandlerin festhielt, würde ich vermutlich gelegentlich gern hierher kommen.
»Ich finde die Sphäre ziemlich überwältigend, aber eben nicht unbedingt menschengerecht. Ich mag leckeres Essen, Elektrizität und Sofas, auf denen ich mich gemütlich zusammenkugeln kann. Außerdem brauche ich Wege im Dickicht, wo ich doch nicht fliegen kann. Na ja, und gegen Toiletten hätte ich auf die Dauer vermutlich auch nichts einzuwenden.«
Das waren alles alberne Nebensächlichkeiten, aber sie entlockten Sam zumindest ein leises Lachen. Zuerst stimmte ich mit ein, aber es verging mir relativ schnell, weil mir etwas klar wurde. »Du hast nicht vor, dich wieder offiziell in der Menschenwelt blicken zu lassen, richtig?«
Sam biss sich auf die Unterlippe. »Ich weiß es, ehrlich gesagt, noch nicht. Es hat sich schon gut angefühlt, wieder einmal drüben zu sein. Aber ich denke auch an den ganzen Ärger, der mir bevorstehen würde, und frage mich, ob es die Sache wert wäre. Meine Schwester Sina ist sicherlich traurig, aber vermutlich auch ganz froh, mich endlich los zu sein. Und dass mein Vater hinter Gittern sitzt, stimmt mich nicht gerade traurig. Wenn ich erst wiederauftauche, lassen sie ihn womöglich frei und das ganze Spiel geht wieder von vorn los. Ich könnte mir gelegentliche Besuche vorstellen, um dich zu sehen, aber mir ein richtiges Leben aufbauen … Das kann ich, glaube ich, nicht.«
Obwohl die Antwort für mich ein Schlag in die Magengrube war, nickte ich verständnisvoll. Auch wenn Sam es nicht aussprach, so war uns beiden doch klar, dass er vermutlich niemals wieder in die Menschenwelt, wie er sie nannte, zurückgekehrt wäre, wenn es mich nicht gäbe. Ich war unendlich glücklich über die Stärke seiner Gefühle für mich, gleichzeitig machte unsere schwierige Lage mich aber auch traurig.
»Es ist nicht so, als wenn ich dich nicht verstehen könnte«, setzte ich vorsichtig an. »Aber das kann zu einer echten Zerreißprobe für mich werden. Ich bin ein Familienmensch, meine Eltern vertrauen mir, und ich habe einen Bruder und eine Freundin, die mir sehr viel bedeuten. Wenn du offiziell vermisst bleibst, werde ich sie alle anlügen müssen.«
»Das hältst du nicht lange aus, so gut kenne ich dich, Mila.« Sam sah so verzweifelt aus, wie ich mich fühlte. »Wenn ich dich zu oft zum Lügen zwinge, wirst du dich eines Tages gegen mich entscheiden.«
Seine Worte trafen mich wie eine Anschuldigung. »Wie kannst du so etwas sagen! Ich will ganz bestimmt nicht lügen, aber dich deshalb verlassen? Glaubst du wirklich, dass mir meine Liebe zu dir so wenig wert ist, dass ich sie einfach beim ersten Widerstand in den Wind schreibe? Glaubst du, nur du bist zu tiefen Gefühlen fähig?«
Sam blinzelte, seine Lippen bewegten sich stumm, aber es kam nichts heraus. Er trat auf mich zu, doch ich stieß ihn weg. Für einen Moment leuchtete sein Strahlen auf wie ein Flutscheinwerfer, ehe er es wieder in den Griff bekam. Ich wankte einen Schritt zurück, halb geblendet.
»Wenn ich dich jemals verlassen sollte, dann nicht, weil ich nicht stark genug empfinde. Wie denkst du eigentlich von mir?«
»Ich wollte dir doch nichts Gemeines unterstellen«, brachte Sam endlich hervor. »Sondern nur klarstellen, dass ich Verständnis dafür habe, wenn dir das alles zu kompliziert ist. Du musst mir glauben, dass ich absolut nicht an deinen Gefühlen zweifle, nicht nach allem, was du durchgemacht hast. Ich will doch nur das Richtige tun … für dich.«
Ich glaubte ihm. Trotz des Schmerzes, der immer noch in mir tobte, zog ich ihn an mich heran und küsste ihn mit einer ruppigen Leidenschaft, als wolle ich ihn doch noch ein wenig bestrafen. Sam zuckte nicht zurück, sondern ließ mich gewähren, bis dem Spiel unserer Lippen nichts Rücksichtsloses mehr innewohnte, sondern nur noch Zärtlichkeit. Ehe ich mich versah, hatte sich das Chaos meiner Gefühle in Begierde verwandelt. Das Einzige, was ich noch wahrnahm, fühlte und schmeckte, war Sams Mund. Bis das mit einem Mal nicht mehr reichte - ich wollte mehr von ihm, wollte ihn an mich binden, mit ihm verschmelzen. Angespornt von einer Leidenschaft, die mich von Kopf bis Fuß in Brand setzte, ließ ich meine Lippen zu Sams Hals hinabwandern und kitzelte seine raue Haut mit der Zungenspitze, bevor ich ihr einen Kuss aufdrückte. Sam stieß einen schwachen Laut aus. Ich konnte nicht widerstehen und sah mir sein Gesicht an, dessen vor Erwartung angespannte Züge sich im Dämmerlicht des anbrechenden Morgens klar abzeichneten. Seine geschlossenen Augenlider bebten leicht, während seine Lippen einladend offen standen und glänzten. Doch bevor ich sie wieder in Besitz nehmen konnte, schaltete sich meine Vernunft ein: Der Morgen war angebrochen. Ich wollte den Gedanken wieder beiseiteschieben, ihn weiterküssen - doch es war zu spät.
»Gott, ich hasse es, das jetzt sagen zu müssen, aber ich muss zurück, Sam. Hoffentlich hat Lena noch nicht den ganzen Strand nach mir abgesucht. Das wird ein Drama geben.«
Es brauchte einen Augenblick, bis Sam sich regte. Und selbst dann sah er noch aus wie jemand, den man aus einem süßen Traum gerissen hatte. Er räusperte sich und nahm seine Hände von meinem Rücken. Mir war gar nicht aufgefallen, dass sie einen Weg bis unter meine Kapuzenjacke samt T-Shirt gefunden hatten.
»Ja, klar«, sagte er und wischte sich ein wenig hilflos über das Gesicht.
Obwohl mir angesichts seiner offensichtlichen Orientierungslosigkeit nach einem Lächeln zumute war, riss ich mich zusammen. Ich hatte zwar noch nicht sonderlich viel Übung darin, aber anscheinend gelang es mir ohne Weiteres, Sam mit einigen Küssen um den Verstand zu bringen. Das gefiel mir, auch wenn ich zugleich erleichtert darüber war, dass wir keine Chance gehabt hatten, weiterzugehen. Ansonsten, das spürte ich, wäre ich bis ans Ende mit ihm gegangen. Zu groß war das Auf und Ab der Gefühle in dieser Nacht gewesen.
Während mir bei dieser Erkenntnis etwas schummerig wurde, legte ich meine Arme um Sams Nacken und er breitete seine Schwingen aus. Dieses Mal traf mich der Wechsel nicht unvorbereitet, was jedoch nichts daran änderte, dass es mir den Atem verschlug, schlimmer als bei einem Sprung in kaltes Wasser. Dieses Mal wechselten wir allerdings im flachen Wasser ein Stück entfernt von den Klippen. Sam hatte einen Arm um mich geschlungen, während er den anderen unter meinen Knien hielt, damit mich das Wasser, das ihm bis zu den Oberschenkeln reichte, nicht erwischte.
»Das macht garantiert keinen guten Eindruck, wenn du die halbe Nacht verschwunden warst und dann klatschnass wiederauftauchst«, sagte Sam, nachdem er mich am Strand abgesetzt hatte und nun unglücklich in Richtung Sonne blickte, die bereits ihre ersten blassen Schimmer über den Horizont schickte. Glücklicherweise war die Nacht hier im Verhältnis zur Sphäre finster, sodass es noch etwas dauern würde, bis es wirklich hell war. Die Party hatte mittlerweile ihren Höhepunkt überschritten, vom Wasser her scholl betrunkenes Lachen von einigen späten Nachtschwimmern und im Sand konnte man das eine oder andere Pärchen erahnen. Doch bis zu den Klippen hatte es außer uns niemanden verschlagen.
»Wenn ich Glück habe, war Lena zu beschäftigt, um meine Abwesenheit überhaupt zu bemerken. Ich kann mir gut vorstellen, dass Julius das eine oder andere Kunststück auf Lager hat.«
Leider ging Sam nicht auf meine Faxen ein, sondern begann an dem Baseballshirt herumzuzupfen, das die Zeichen auf seinem Arm bedeckte. Einer Eingebung folgend zog ich meine Kapuzenjacke aus und hielt sie ihm hin. »Die Jacke hat mehr Stoff, um die Zeichen zu bedecken«, begründete ich meinen Vorschlag. »Im Tausch kannst du mir ja dein Shirt überlassen.« Dabei wollte ich in Wirklichkeit etwas von ihm behalten, selbst wenn es lediglich ein arg zerknittertes Oberteil war. Glücklicherweise erriet Sam diesen Hintergedanken nicht.
»Meinst du wirklich? Das olle Ding …«
Fordernd streckte ich meine Hand aus und Sam reichte mir leicht verschämt sein Shirt.
»Wo wirst du heute Nacht schlafen?«, fragte ich, während Sam sich die Jacke um den Unterarm wickelte, ein Zeichen dafür, dass er sofort aufbrechen wollte. Wider besseren Wissens spielte ich mit dem Gedanken, ihn zu fragen, ob er nicht bei mir übernachten wollte. Wenigstens dieses eine Mal. Es fiel mir unendlich schwer, mich gleich wieder von ihm trennen zu müssen, selbst wenn es nur für eine kurze Dauer sein sollte. »Rufus’ Zimmer steht leer«, schob ich rasch hinterher. »Wenn wir es richtig anstellen, würde niemand es mitbekommen.«
Sam dachte einen Moment nach, schüttelte dann den Kopf. »Tut mir leid, aber ich halte das für keine gute Idee. Außerdem möchte ich noch ein paar Dinge erledigen, bevor wir beide uns wiedersehen. Ich hab da eine Idee, wie ich die Sphäre ein wenig heimischer für dich machen könnte.«
Ich zuckte ergeben mit den Schultern. »Was hältst du davon, wenn wir uns morgen Nachmittag auf dem Segelschiff meines Vaters treffen? Lena will zu Artemis und meine Eltern sind ebenfalls unterwegs. Dann bringe ich dir auch ein paar Klamotten von Rufus mit.«
Sam setzte zu einer Antwort an, hielt aber inne. Angestrengt lauschte er in den Nachtwind. »Lena sucht dich und sie klingt aufgeregt.«
»Tatsächlich?« Ich war überrascht, denn ich hatte nichts gehört.
Sam lächelte und gab mir einen leichten Kuss auf die Lippen. »Sie kommt geradewegs auf dich zu. Also, bis morgen Mittag - falls du es dir nicht anders überlegen solltest. Ich würde es dir nicht übelnehmen.«
»Keine Chance, ich werde da sein«, erwiderte ich und versuchte, Sam einen weiteren Abschiedskuss zu entlocken. Aber da hörte ich ebenfalls Lenas Rufe. Mit einem Seufzen trennte ich mich von Sam, der ohne zu zögern ins schwarze Wasser hineinlief, das zwischen den Klippen hochspritzte. Er warf mir noch einen Blick über die Schulter zu, dann war er verschwunden. Im nächsten Augenblick riss Lena mich in ihre Arme und stierte mich entgeistert an.
»Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Wo hast du dich nur die ganze Zeit versteckt?« Ihre grünen Haare standen wirr zu Berge und sie wirkte etwas neben der Spur.
»Ach, zuerst habe ich mal nachgeschaut, was sonst noch so auf der Party los war, und irgendwann wollte ich mal einen Moment für mich allein sein. War scheinbar ein Schluck Wein zuviel, ich bin jedenfalls eingeschlafen. Tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast, aber als ich losgezogen bin, warst du ja gerade bestens mit Julius beschäftigt.«
Ehe ich meine Ausrede weiterspinnen konnte, sagte Lena blitzartig »Ach so, okay« und hakte sich bei mir unter, während wir den Weg in Richtung Fahrräder einschlugen. Zuerst war ich ehrlich verblüfft, dass sie sich so leicht abwimmeln ließ, dann musste ich breit grinsen. Ich hatte also richtig gelegen: Lena war tatsächlich viel zu sehr mit Julius beschäftigt gewesen, um sich ernsthafte Sorgen um mich zu machen. Vermutlich war ihr erst vor ein paar Minuten aufgefallen, dass ich nicht wiederaufgetaucht war. Da brauchte ich ihr also gar nicht groß was vorzuflunkern.