3
Meereslocken
Sam
Ich saß mit geschlossenen Augen da und wartete die kurze Ruhepause ab, bis die nächste Welle gegen das Segelschiff der Levanders brandete und es zum Tanzen brachte. Der gleichbleibende Rhythmus des Meeres beruhigte mich, viel mehr noch: Ich war kurz vorm Einschlafen.
»Sam, du Penner, schlafen ist nicht!«
Nachdem Chris das jetzt schon zum dritten Mal gesagt hatte, gab ich auf und öffnete die Augen. Ich hatte nichts verpasst. Die Jungs saßen immer noch eng gedrängt in der Schiffskabine und starrten gemeinschaftlich auf den Bildschirm des Laptops, den Luca mitgebracht hatte. Irgend so ein durchgedrehter Kung-Fu-Film, während im Hintergrund in einer Endlosschleife ein Album von The Clash lief. Klassisches Freitagabend-Programm zum Warmlaufen, bevor man auf die Partys ausschwärmte.
Ich saß oben auf der schmalen Treppe, die aufs Deck führte. Die Enge der Kabine war nicht nach meinem Geschmack, dort unten wäre ich mir eingepfercht vorgekommen. Von zu kleinen Räumen hatte ich heute nämlich schon bei meiner Tankstellen-Schicht genug gehabt. Zwar war es auf Deck ziemlich frisch, weil der Wind von Nordwest kam, aber es gefiel mir richtig gut, wenn der Wind mir die Wangen kühlte und an meiner Kleidung riss.
Gerade als ich mich wieder dem Geräusch der Wellen überlassen wollte, pfiff Rufus nach mir. Er verrenkte sich beinahe den Rücken, als er mir über Luca hinweg eine Tüte mit Chips reichte. »Greif zu, bevor Chris alle vernichtet hat.«
Lustlos schnappte ich mir eine Handvoll und gab die Tüte dann an Chris weiter, der bereits nervös in meine Richtung schielte. Der Gute ertrug Kampfszenen einfach nur, wenn er sich dabei etwas in den Mund stopfen konnte. Das galt auch für Geballere und Horrorkram. Nur der Anblick halb nackter Schönheiten konnte seinen Kautrieb stoppen. Die beste Diät für den etwas in die Breite gehenden Chris wäre zweifelsohne eine ganze Festplatte voller Erotikstreifen gewesen. Im Hintergrund starteten The Clash gerade wieder von vorne durch.
Ich stand auf, wobei erst meine steif gewordenen Knie mir verrieten, wie lange ich schon auf dieser Treppe gesessen hatte, und ging aufs Deck. Dort spielte ich kurz mit dem Gedanken, eine Taschenlampe zu holen, aber der Wind hatte den Nachthimmel blitzblank gepustet, dass die Sterne die Umgebung erleuchteten. Die Wilden Vaart lag in zweiter Reihe, doch ich hatte einen guten Blick auf den Kai, der verlassen dalag. Außer uns Jungs trieb sich hier heute Nacht keiner herum, dafür war es noch zu kühl. Viele Anlegestellen waren um diese Jahreszeit nicht einmal besetzt. Die meisten Segler und vor allem die Touristen würden ab dem nächsten Monat in St. Martin einfallen, wenn die ersten Sonnenstrahlen sie anlockten. Mir gefiel gerade die erste, stets raue Hälfte des Frühjahrs am besten, wenn das Meer aufgewühlt war, der Strand unberührt und die Steilklippe sich noch nackt zeigte, bevor Heide und Seelavendel sich darauf ausbreiteten. Mein Blick wanderte zu den Hafengebäuden rüber, wo auch die Spelunke lag, die mein Vater zu seinem zweiten Wohnzimmer erklärt hatte. Zwar war niemand zu sehen, aber drinnen war noch Licht. Es gab also zumindest noch einen Besucher, und wer das war, wollte ich lieber nicht so genau wissen.
»Ist arschkalt hier draußen.«
Rufus stellte sich dicht neben mich und zog die Schultern so hoch, dass sie fast seine Ohren berührten. Für Rufus konnte es nie warm genug sein, er war ein regelrechtes Reptil. Es grenzte an ein Wunder, dass er so gern Segeln ging. Na ja, dafür jammerte er dabei unablässig darüber, wie kalt der Wind sei und welche Körperteile er schon nicht mehr spürte.
»Was ist los, Sam? Du wirkst komplett abwesend.«
Das musste wohl sehr auffallen, ansonsten wäre Rufus nie auf die Idee gekommen, mich darauf anzusprechen. In der letzten Zeit passierte es mir häufiger, dass ich den Anschein von Aufmerksamkeit nicht mehr aufrechterhalten konnte. Mein ganzes Leben - Schule, Jobben, Zeit mit den anderen totschlagen - kam mir so unerklärlich fern vor. Nicht, dass ich eine Sinnkrise hatte. Das war es nicht. Aber irgendwie war die Verbindung zwischen mir und der Welt nicht mehr bloß schwach, wie früher, sondern regelrecht gestört. Mein Leben und ich funkten quasi auf zwei verschiedenen Frequenzen. Bis auf gestern Abend, als Mila neben mir auf dem Sofa gesessen hatte. Da hatte die Verbindung mit einem Mal Funken geschlagen. Ich stand immer noch unter Strom.
»Bekomme ich jetzt mal eine Antwort?«, fragte Rufus, mittlerweile ausgesprochen genervt. Er kam nie sonderlich gut damit klar, ignoriert zu werden. Aber was sollte ich sagen? Deine Schwester hat mich gestern ziemlich umgehauen, ich kann immer noch keinen klaren Gedanken fassen? Wohl eher nicht.
»Nachdem wir seit gut eineinhalb Jahren jeden Freitag schwachsinnige Filme gucken, bringe ich eben nicht mehr die gleiche Begeisterung dafür auf.« Das war eine Ausrede, und das hörte man ihr auch an.
Rufus verdrehte die Augen. »Du willst es mir also nicht verraten? Mensch, Sam, ich bin schließlich dein … na, du weißt schon. Wir hängen ständig zusammen rum.« Es war typisch für Rufus, dass er die Bezeichnung »bester Freund« nicht aussprechen konnte. Das klang zu altmodisch und traf es vielleicht auch nicht hundertprozentig. Auch wenn Rufus es meisterhaft überspielte, war mir schon klar, dass er den Verdacht hegte, er würde mehr an mir hängen, als ich an ihm. So etwas ging schlecht mit seinem Ego zusammen.
»Okay, ich versuch’ s«, setzte ich an, aber dann fehlten mir schlicht die richtigen Worte. »Ich passe nicht rein … in mein Leben, meine ich. Das fühlt sich alles so unecht an.«
»Dir fällt die Decke auf den Kopf? Hallo, das geht uns doch allen so. Nur noch gut zwei Monate, dann haben wir diesen Schulscheiß hinter uns und gehen auf große Reise mit dem Rucksack.«
Ich warf Rufus einen gereizten Blick zu. Mit dieser Rucksacktour lag er mir schon länger in den Ohren und überhörte stets, dass ich dabei nicht mitmachen wollte. Ich hatte schon genug Abenteuer im Leben, da brauchte ich nicht noch ohne Geld in den Taschen loszuziehen. Außerdem erschien mir St. Martin seit Neuestem sehr verlockend. Nein, nicht St. Martin, sondern Rufus’ kleine Schwester. Womit wir wieder beim Thema waren.
»Ich leide nicht unter Fernweh und auch nicht unter Langeweile. Es ist etwas anderes und es wird schlimmer. Ich bin am richtigen Ort und dann auch wieder nicht. Als wäre ich ein Kuckucksei ohne einen blassen Schimmer von meiner wahren Herkunft, nur mit dem vagen Gefühl, dass etwas schiefläuft. Als würde ich bloß träumen, ich wäre hier, während der wichtigste Teil von mir woanders verwurzelt ist. Überhaupt: Träume. Das wird in der letzten Zeit auch immer schlimmer. Ständig derselbe schwarz-weiße Film. Und wenn ich in der Nacht so richtig abgetaucht bin, kommt mir die Realität am nächsten Morgen total falsch vor. Als würde erst der Schlaf mir die Wirklichkeit zeigen.«
Rufus knabberte nachdenklich an seinem Daumennagel und ich konnte ihm regelrecht ansehen, wie es in ihm drin arbeitete. »Alles bloß ein Traum, hm? Du brauchst einfach mal einen Tapetenwechsel, mein Freund. Und jetzt werde nicht gleich wieder stinkig. Du führst seit Jahren dieses superbrave Leben: kein Alkohol, keine Exzesse, keine Frauen.« Beim letzten Wort schenkte ich Rufus ein Grinsen und sofort zeigte er drohend mit dem Finger auf mich. »Falls du gerade an Mila denken solltest, rate ich dir eins: Vergiss das ganz schnell wieder. Such dir eine andere, mit der du ein paar weitergehende Experimente starten kannst. Meine kleine Schwester ist absolute No-Go-Area für dich, verstanden?«
Rufus sagte das zwar mit einem Grinsen, aber mir war durchaus klar, dass es ihm ernst war. Auch wenn ich sein eifersüchtiges Großer-Bruder-Gehabe nachvollziehen konnte, ging er mir damit doch ein bisschen auf die Nerven. Schließlich hatte ich keineswegs vor, mich nach Rufus-Manier für einen Abend auf Milas Kosten zu amüsieren, um sie anschließend links liegen zu lassen.
Ehe ich ihm allerdings meinen Standpunkt klarmachen konnte, tauchte Luca an Deck auf. Er nickte uns kurz zu, dann prüfte er, aus welcher Richtung der Wind kam, bevor er sich zum Pinkeln an die Reling stellte. Seitdem sich einer von uns nicht an das Hinsetz-Gebot auf der Toilette gehalten hatte, schloss Frau Levander die Tür vor unseren Besuchen ab. Sie war eine wirklich nette und lockere Frau, aber in dieser Hinsicht verstand sie keinen Spaß. Wir könnten auf der Toilette im Bootshaus zusammen mit den anderen Kerlen anstellen, was wir wollten, aber nicht auf ihrem Boot, hatte sie gesagt. Dabei hatte sie allerdings nicht bedacht, dass man sich auf einem Boot auch anders erleichtern konnte. Besser, sie erfuhr es gar nicht erst.
Die Arme leicht zur Seite ausgestreckt, kam Luca auf uns zu. Er war nicht gerade ein Seebär und sein Gleichgewichtssinn überdies keineswegs der Beste, seit er sein Ohr bei einem Manowar-Konzert an die Box gelegt hatte. »Sollen wir mal langsam durchstarten? Chris hat zwar noch einen Baller-Film dabei, aber ich bekomme langsam Hirnerweichung von dem Blödsinn.«
»Ja, klar. Lass uns aufbrechen. Ich sag dem Chips-König Bescheid und mache die Kabine dicht.« Immer noch grinsend rempelte mich Rufus auf dem Weg unter Deck an. Ich musste einen Schritt zurücksetzen, so hart hatte mich seine Schulter erwischt. Das nennt man wohl seinen Standpunkt klarmachen.
Luca visierte die schmale Bootsplanke an, die an Land führte. »Das Ding schaukelt«, erklärte er niemandem Speziellem. Nachdenklich rieb er sich seinen immer gleich langen Dreitagebart. Es hätte mich wirklich mal interessiert, wie viel Zeit er täglich investierte, um so lässig runtergekommen auszusehen. »Hör mal: Bevor Rufus auf dich sauer wird, musst du ihm schon ordentlich auf die Füße treten. Und eben war er sauer. Hast du ihn wieder wegen dieser Rucksacktour abblitzen lassen?« Da ich nicht lügen wollte, aber noch weniger Lust hatte, jetzt über Mila zu reden, zuckte ich bloß mit den Achseln, was Luca prompt für ein Ja nahm. »Du weißt schon, wie wichtig es ihm ist, dass du mit von der Partie bist? Wer weiß, was sich nach diesem Sommer alles ändern wird.«
Ich blickte Luca ertappt an. Er hatte recht: Dieser Sommer war ein Scheidepunkt, er würde definitiv etwas verändern. Das spürte ich mit jeder Faser meines Körpers. Nur pflegten die Veränderungen, die mich betrafen, anders auszufallen wie bei meinen Freunden. Die würden sich mit Uni- und Ausbildungsplätzen, WG-Zimmern und weinenden Müttern herumplagen müssen. Bei mir sah es ganz danach aus, als würden die Veränderungen tiefer gehen. So tief, dass ich es mir nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte. Ich brauchte nur die Augen zu schließen, dann spürte ich ein Zerren an mir, das stärker war als jeder Wind. Bald würde es mich mitreißen.
Als die Jungs am Kai in Richtung Parkplatz abbiegen wollten, verabschiedete ich mich.
»Du willst dich doch wohl nicht etwa absetzen?« Chris blinzelte mich ungläubig an. »Das wird bestimmt eine Superparty bei Mimi. Ihre Eltern sind das ganze Wochenende über weg und in dem Haus gibt es angeblich eine Sauna. Mensch, denk mal über die Möglichkeiten nach!« Chris gelang es, mit einigen Gesten sehr eindrucksvoll vorzuführen, was ihm beim Stichwort Sauna so alles einfiel.
Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wenn ich mir bis eben noch nicht sicher war, ob ich die Party auslassen kann, jetzt bin ich’s.«
»Gehst du hoch zur Steilklippe?«, fragte Rufus mich. »Ich könnte mitkommen. Sauna ist nicht so mein Ding, vor allem nicht, wenn Chris quasi schon drinsitzt.«
Einen Moment lang dachte ich über das Angebot nach, dann schüttelte ich den Kopf. Mit Rufus auf der Steilklippe zu sitzen und einfach nur aufs Wasser zu schauen, war eine der besten Sachen überhaupt. Aber mein Freund stand nun einmal auf Party und ich war heute Abend alles andere als eine angenehme Gesellschaft. »Ich geh noch ein wenig zum Strand runter und dann nach Hause. Morgen habe ich Frühschicht an der Tankstelle und Samstagvormittag ist da immer die Hölle los.«
Rufus ließ lediglich ein Brummen hören, während sein Blick zur Hafenkneipe rüberwanderte, wo immer noch Licht brannte. Ich konnte die Sorge von seinem Gesicht ablesen. Wenn ich ihm noch ein, zwei Sekunden Zeit gab, würde er sich mir anschließen - ob ich wollte oder nicht. Also sagte ich schnell, um ihn abzulenken: »Wir sehen uns dann also am Sonntag zum Mittagessen. Da freue ich mich jetzt schon so richtig drauf, vor allem auf Mila.« Auch wenn es kindisch war, diesen Seitenhieb konnte ich mir nicht verkneifen. Zu sehr gingen mir seine Eifersüchteleien gegen den Strich.
Augenblicklich funkelte wieder dieser Widerwille in Rufus’ Augen auf. Treffer. »Ja, genau. Das wird bestimmt lustig, besonders weil mein Vater ja so ein Riesenfan von dir ist. Der ist bestimmt begeistert, wenn du dich an Mila ranmachst.«
Großartig, dachte ich, als ich mich umdrehte und den Weg in Richtung Strand einschlug. Das war wohl ein klassisches Eigentor gewesen. Bei Herrn Levander stand ich auf dem Prüfstand und er gab sich nicht die geringste Mühe, seinen Argwohn vor mir zu verbergen. Normalerweise machte ich mir nichts daraus, ich konnte ihn nämlich verstehen. Nur würde dieser Sonntag eh der reinste Nerventest für mich werden, auch ohne einen gereizten Vater im Nacken.
Ein Brennen riss mich aus meinen Überlegungen, denn mit einem Mal begannen die Narben an meinem Arm zu pulsieren, als wollten sie mit aller Gewalt ein Zeichen aussenden. Ich wusste, was das bedeutete und hätte am liebsten laut über meine Dummheit geflucht. Es war eine Warnung. In Gedanken versunken, war ich nämlich fast an der Kneipe vorbeigelaufen, ohne zuvor einen prüfenden Blick auf den Eingang zu werfen. In den letzten drei Jahren hatte ich selbst bei Gelegenheiten, in denen ich deutlich besser aufgepasst hatte, immer mal wieder den Weg meines Vaters gekreuzt.
Hastig trat ich hinter einen Container, gerade noch rechtzeitig, wie die aufgehende Tür bewies. Mit der Hand umfasste ich meinen Unterarm, als könnte ich die Narben dadurch vom Pulsieren abhalten. Ich beobachtete meinen Vater, wie er ins Freie trat, leicht schwankend. Ein großer schwerer Mann mit Händen wie zwei Schaufeln, deren Kraft ich bestens kennengelernt hatte. Obwohl nur schwaches Licht aus der Kneipe drang, konnte ich doch seine Gesichtszüge erkennen. Wie immer verspürte ich Erleichterung darüber, ihm nicht im Geringsten zu ähneln. Ein Fremder wäre nie auf die Idee gekommen, dass Jonas Bristol mit mir verwandt war. Ein tröstlicher Gedanke.
Er legte den Kopf in den Nacken und witterte. Für einen Außenstehenden sah es vermutlich aus, als würde er nur die kühle Luft einatmen, um den Kopf frei genug für den Heimweg zu bekommen. Aber ich wusste es besser: Die Narben auf meinem Arm riefen nach ihm, lockten ihn auf eine Weise, die ich mir nicht erklären konnte. Trotzdem taten sie es und hatten mich schon das eine oder andere Mal an ihn ausgeliefert.
Jonas setzte einen Schritt in meine Richtung und während ich mich bereits für eine Auseinandersetzung wappnete, tauchte plötzlich ein anderer Mann hinter meinem Vater auf und packte ihn bei der Schulter.
»Dein Deckel ist noch nicht beglichen.«
»Nicht jetzt«, erwiderte mein Vater drohend, wobei er die Hand auf seiner Schulter abzuschütteln versuchte. Doch so leicht ließ sich der Wirt nicht abweisen.
»Wenn du nicht zahlen kannst, musst du dir Geld von einem deiner Kumpane leihen. Der Deckel wird jetzt sofort beglichen, oder du setzt nie wieder einen Fuß in meinen Laden. Du weißt, dass es mir ernst ist, Bristol.«
Einen Moment lang sah es so aus, als würde mein Vater sich davon nicht abhalten lassen. Aber dann machte er mit einem Knurren kehrt und verschwand in der Kaschemme. Mit langen Schritten hastete ich an der Kneipe vorbei. Während mir zwischen den Schulterblättern der Schweiß ausbrach, fragte ich mich zum hundertsten Mal, warum ich mich von der Küste und dem Hafen nicht einfach fernhielt. Jeder normale Mensch hätte einen weiträumigen Bogen um eine wandelnde Gefahrenquelle wie meinen Vater gemacht, dem selbst mit Kampfsportfertigkeiten wie dem Thaiboxen nicht beizukommen war. Aber es gelang mir einfach nicht, mich von der Küste fernzuhalten, denn das Meer übte einen Sog auf mich aus, der in seiner Intensität ungefähr genauso verwirrend war wie das verräterische Pulsieren der Narben in meinem Fleisch. Narben, die mein Vater mir zugefügt hatte. Nicht, um mich zu verletzen, sondern um mir etwas noch viel Schlimmeres anzutun.
Als ich meinen Fuß endlich auf Sand setzte, atmete ich tief ein. Der Strand versprach Sicherheit, hier endete Jonas Bristols Revier. Er mochte nicht das Meer, sondern die Hafenanlage, und dort auch nur die schäbigen Ecken. Mehr kannte er vermutlich gar nicht von St. Martin, nur sein runtergekommenes Haus, die Docks und die Hafenkneipe. Neben Furcht war Verachtung die zweite Empfindung, die ich für meinen Vater hegte.
Ich schüttelte meine Anspannung ab und schlenderte auf die Brandung zu. Eines hatte ich während meiner Jahre im väterlichen Haus gelernt: Solange keine akute Gefahr bestand, lohnte es sich nicht, Energie an lauter unnütze Sorgen zu verschwenden.
Wie auch der Hafen lag der Strand verlassen da, der Wind scheuchte den Sand auf und brachte das Meer zum Tosen. Obwohl mir die Wangen zu brennen anfingen und ich meine Hände gar nicht tief genug in den Jackentaschen vergraben konnte, störte mich die Kälte kaum. Sie war da, mein Körper nahm sie wahr, mehr aber nicht. Erneut ließ ich meine Gedanken treiben und sogleich flogen sie zu Mila. Wie ich es auch drehte und wendete, ich kam nicht dahinter, wie es war: Fühlte ich mich zu ihr hingezogen, weil sie mir das Gefühl gab, dass alles mit mir stimmte im Hier und Jetzt - oder konnte sie mir dieses Gefühl geben, weil ich dabei war, mich in sie zu verlieben?
Abrupt blieb ich stehen und schluckte schwer. War die Lösung wirklich so einfach, lag diese andere Wahrnehmung in ihrer Nähe schlicht und ergreifend daran, dass ich in sie verliebt war? Ich brauchte mir bloß vorzustellen, wie Mila während unserer Matheübungen voller Konzentration meine Hände beobachtet hatte, die eine Seite eines Dreiecks darstellen sollten, und schon durchfuhr mich ein Energiestoß. Als wäre ich plötzlich doch ein echter Bestandteil dieser Welt und nicht lediglich ein Zuschauer am Rand. Neben Mila zu sitzen, war gewesen, als wäre ich zum ersten Mal aus dem Schatten in die Sonne getreten.
Okay, ich war tatsächlich auf dem Weg, mich zu verlieben. Anders ließen sich solche wirren Gedankengänge sicherlich nicht erklären.
Ich versuchte das Kribbeln, das jeder Gedanke an Mila mir einbrachte, abzuschütteln. Nicht etwa, weil es unangenehm war - ganz im Gegenteil. Aber es verwirrte mich. So fühlte Samuel Bristol sich einfach nicht. Unwillkürlich musste ich lachen und zwar ziemlich laut. Jetzt war es amtlich, ich war ein verliebter Schwachkopf.
Ohne mit dem Lachen aufhören zu können, streifte ich meine Stiefel ab, krempelte die Jeans hoch und lief ins eisige Wasser. Wie immer begrüßte mich das Meer, und seine Berührung fühlte sich an wie ein Versprechen. Ehe ich mich versah, stand ich bis zu den Knien in den Wellen und konnte gerade noch dem Drang widerstehen, tiefer hineinzugehen. Mein lebenslanges Gefühl, der Glasglocke, unter der mein Leben stattfand, nur zu entkommen, wenn ich dem Meer nah war, stellte sich dieses Mal jedoch nicht ein. Ich fühlte mich lebendig und der Grund dafür trug einen Namen: Mila.