31

Gewitterfront

Sam

Als wir die Ruine erreichten, nahm ich zu meiner Verwunderung jede einzelne Schattenschwinge, die meiner Einladung gefolgt war, wahr, auch ohne dass ich meinen Blick dazu umherschweifen lassen musste. Ich kam mir vor wie ein Blinder, der jedes einzelne Gesicht um sich herum abgetastet und auf diese Weise mehr über die Personen in Erfahrung gebracht hatte, als es ein bloßer Blick möglich gemacht hätte. Allem Anschein nach hatte die Verbindung, die ich durch meinen Ruf mit den Schattenschwingen aufgebaut hatte, eine Art Echo hinterlassen. Das musste dieses Surren sein, das ich einfach nicht wieder loswurde. Ich dachte an Milas Vergleich mit dem Radarschirm, und obwohl es der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür war, musste ich lächeln. Da hatte sie genau das richtige Bild gefunden. Allerdings blinkten auf diesem Radar mehrere Punkte in einem ziemlich zornigen Rot auf.

»Bilde ich mir das ein oder sind einige schon gereizt, bevor ich überhaupt meinen Mund aufgemacht habe?«, fragte ich Shirin leise, als sie sich nach der Landung hinter mir aufgebaut hatte, als wolle sie mir Deckung geben. Oder sich hinter meinem Rücken verstecken.

»Manche sind nicht besonders glücklich darüber, dass du ihnen gegen ihren Willen eine Nachricht zukommen lassen konntest. Besonders die Körperlosen dürften das als eine Demonstration deiner Überlegenheit ansehen, schließlich halten sie sich viel darauf zugute, dass sie sich für die meisten von uns Schattenschwingen so gut wie unsichtbar machen können.«

Das war ja wirklich beruhigend. Offensichtlich verfügte ich über die Gabe, so ziemlich jeden aus der Sphäre gegen mich aufzubringen. Wenn nicht wegen meiner menschlichen Freundin, dann, weil ich die Fähigkeit besaß, diejenigen zu kitzeln, bei denen es eigentlich gar nichts mehr zu kitzeln gab.

In diesem Moment spürte ich, wie die Körperlosen sich der Versammlung näherten und ihre durchscheinenden Finger nach mir ausstreckten. Oder vielmehr nach jenem Teil von mir, den Mila immer meine »Aura« nannte, der mir jedoch eher wie ein Körperteil vorkam, vergleichbar mit meinen Schwingen. Die Berührung gefiel mir ganz und gar nicht, aber ich biss die Zähne zusammen und ließ sie über mich ergehen. Schließlich hatte ich ja denselben Trick benutzt, um sie hierher zu lotsen. Da war es nur fair, wenn ich nun stillhielt.

Jetzt, während die Körperlosen mich umschwärmten, begriff ich zumindest, warum einige Schattenschwingen meine Nachricht mit einer solchen Vehemenz abgelehnt hatten: Dieser Art der Berührung wohnte etwas sehr Körperliches inne, auch wenn unsere Aura eher ein Energiefeld war. Und wer lässt sich schon gern von Fremden berühren? Was auch immer die Körperlosen dadurch in Erfahrung brachten, einige von ihnen besänftigte es, andere brachte es noch mehr gegen mich auf. Wie bei einem Glockenschlag verlor sich die Berührung und sie stoben auseinander, um sich an den Rändern der Versammlung zu platzieren. Ihre Berührung war nicht nur äußerst unangenehm gewesen, sie ließ mich auch geschwächt zurück, als hätten die Körperlosen meine Wahrnehmung eingedämmt. Ich kam mir vor, als säße ich plötzlich unter einer Glaskuppel, abgeschnitten von mir selbst und den übrigen Schattenschwingen. Doch verflüchtigte sich dieser Eindruck schon wieder.

Ich drehte mich um und wollte etwas zu Shirin sagen, da bemerkte ich, dass sie nicht länger hinter mir stand. Genau wie die anderen war sie vor mir zurückgewichen und sah mich mit einem fast ehrfürchtigen Ausdruck an - auch wenn das bei ihr kaum vorstellbar war. Als würde sie Schutz bei ihm suchen, hatte sie sich an die Seite von Lorson, dem Jäger, gedrängt, einem schlanken, jung aussehenden Mann mit Bart und langem rotbraunem Haar. Shirins Reaktion brachte mich aus dem Konzept - ein denkbar schlechter Zeitpunkt, den jemand anderes sofort auszunutzen wusste. In einiger Entfernung erklang Applaus.

»Für jemanden, der sich der Menschenwelt so verbunden fühlt, war das eben keine schlechte Leistung. Die wenigsten hier würden sich wohl freiwillig einer solchen Prüfung unterziehen und dabei stehen die älteren Schattenschwingen den Erhabenen wesentlich näher als ein Neuzugang wie du.« Obwohl Asami seine Stimme nicht sonderlich angehoben hatte, schall sie klar zu mir herüber. Er stand hoch aufgerichtet mit weit ausgebreiteten Flügeln auf der Ruine und schaute auf mich herab. Sein langes schwarzes Haar bewegte sich im Wind, der mit der Nacht aufkam.

»Erhaben - nennst du so die körperlosen Schatten, die sich lediglich am Rand unserer Versammlung wohlfühlen?« Ob nun erhaben oder körperlos - diese Schattenschwingen waren nicht mehr als Reste ihres früheren Ichs. Egal, welche Gaben sie beim Zurücklassen ihres Körpers erhalten hatten, sie standen außerhalb des Zentrums.

»Natürlich.« Die Antwort kam Asami so glatt von der Zunge, dass es unmöglich eine Lüge sein konnte. Er hielt die Körperlosen tatsächlich für die besseren Schattenschwingen. »Schließlich sind sie uns allen voraus, die wir uns an unsere menschliche Hülle klammern, anstatt den nächsten Schritt zu tun. Wir sind wie Küken, die sich weigern, endlich die letzten Eierschalen abzustreifen.«

»Wenn dir das Menschliche so zuwider ist, warum lässt du es dann nicht einfach hinter dir, Asami? Aber du solltest nicht so ohne weiteres über die richten, die das Menschliche an sich nicht ablehnen.«

Mit einem Schlag spannten sich sämtliche Muskeln in Asamis Körper an und ich machte mich bereit, mich seinem Angriff zu stellen. Soweit kam es jedoch nicht.

»Ich denke, dass reicht erst einmal.«

Die Stimme, die uns da Einhalt gebot und sämtliche Schattenschwingen aufhorchen ließ, war hoch, aber nichtsdestotrotz Ehrfucht einflößend. Ich musste den Kopf in den - Nacken legen, um ihre Besitzerin ansehen zu können, die regungslos über der Versammlung schwebte. Das musste Juna sein, die Einzige unter den Schattenschwingen, die gealtert war, wie Ranuken mir einmal erzählt hatte. Und tatsächlich war Juna die erste Schattenschwinge, an der ich Zeichen von Alter sah: Ihr Haar bestand aus grauen und weißen Strähnen, ihre Haut war von einem Gitternetz aus Falten überzogen und ihre gebeugten Schultern stachen scharf unter dem formlosen Gewand hervor. Sie hatte meine Nachricht recht emotionslos hingenommen und auch jetzt wirkte sie ausgesprochen neutral. Asami blickte sie kalt an, und obwohl sie außer-halb der Wächterhierarchie stand, setzte er ihrer Unterbrechung nichts entgegen. Offensichtlich respektierte selbst er ihre Sonderstellung unter den Schattenschwingen. Wenn ich Glück hatte, würde Juna dafür sorgen, dass ich mir Gehör verschaffen konnte, bevor Asami sich auf mich stürzte.

»Das Tribunal«, fuhr Juna fort, »sollte sich erst einmal dem Verhalten der Wächterin zuwenden, bevor wir uns darüber beraten, wie wir mit dem aufsässigen Neuling verfahren wollen.«

»Moment«, unterbrach ich sie. »Das hier ist eine Versammlung, kein Tribunal.«

»Vielleicht wäre es eine Versammlung geblieben, wenn du uns mit dieser hergerichteten Ruine nicht so deutlich vor Augen geführt hättest, wie sehr sich dein Eigensinn schon manifestiert hat.« Mit einer ausladenden Handbewegung zeigte Asami auf die von Schutt und Grünzeug befreite Ruine und den gerodeten Vorplatz. Sein Schützling Jason, der schräg hinter ihm stand, legte den Kopf schief und grinste mich stumpf an. Da erst bemerkte ich die Decke, die er sich über seine massige Schulter gelegt hatte - Shirins Geschenk, das auf dem Schlaflager gelegen hatte. Asami und sein Helfer Jason hatten sich während meiner Abwesenheit also gründlich umgesehen.

»Seit wann bauen wir Schattenschwingen uns Heime, wie die Menschen es tun?«, setzte Asami hinzu. »Mit Türen und Schlaflagern. Nein, das tut niemand von uns und ganz gleich, was du auch behaupten magst, Samuel: Bei dir wird es auf keinen Fall anders sein. Diese Ruine, die du in ein Obdach für einen Menschen zu verwandeln begonnen hast, ist der Beweis, wie weit es mit dir schon gekommen ist. Wie weit Shirin es hat mit dir kommen lassen.«

»Du schuldest uns eine Erklärung, Shirin«, forderte Juna, die sich nach wie vor weigerte, ihre erhobene Position aufzugeben. »Wieso hast du deine Aufgaben als Wächterin nicht nur vernachlässigt, sondern dich sogar gegen die Regeln gestellt? Du hast diesen Jungen wechseln lassen. Viel mehr noch: Du hast zugelassen, dass er einen Menschen mit in die Sphäre nimmt. Du hast seine Verwirrung unterstützt, wo du nur konntest. Dieser klägliche Versuch, ein Menschenheim zu schaffen, beweist deine Schande.«

Nun regte sich endlich etwas in Junas Gesicht, doch was zum Vorschein kam, war zu meiner Enttäuschung pure Ablehnung. Ganz offensichtlich war sie genau wie Asami mit dem festen Vorsatz hierher gekommen, Shirin und mich abzustrafen, nur, dass sie es so lang wie möglich unter dem Deckmantel der Neutralität versteckt hatte. Als ginge es bei diesem »Tribunal« um Gerechtigkeit! Shirin trat vor mich und wieder einmal bewunderte ich ihre stolze Haltung, als würden sämtliche Anschuldigungen an ihr abprallen. Junas Mundwinkel verzogen sich noch weiter nach unten.

»Ich habe getan, was ich für richtig hielt«, erklärte Shirin geradeheraus. »Im Gegensatz zu dir bin ich eine Wächterin und führe ein Leben, das nicht nur daraus besteht, im Schlaf Moos anzusetzen. Jemand wie du hätte Samuel vielleicht verkümmern lassen, nur damit in der Sphäre keine Unruhe entsteht. Aber mir ist eine lebendige, noch dazu hoch talentierte Schattenschwinge wichtiger als ein paar starre Regeln.«

»Als wenn es dir bloß darum gegangen wäre, diesen Jungen nicht zu brechen.« Junas helle Stimme stockte. »Was ich dir jedoch am meisten übelnehme, ist, dass du angesichts der Zeichen, die der Junge da unter der Armschiene verbirgt, deine Aufgabe nicht gleich an Asami übergeben hast. Wie kannst du es ertragen, auch nur in der Nähe dieser dunklen Magie zu sein, die dich schon einmal verunreinigt hat? Oder hast du gehofft, dass dieser Junge, der offenkundig stark genug ist, um seinen Bannspruch zu beherrschen, auch stark genug ist, dich von deinen Sklavenketten zu befreien?«

»Wer sagt denn, dass Shirin nicht immer noch unter dem Einfluss der Sklavenringe steht?« Asami hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte voller Verachtung auf die Wächterin hinab. »Wir wissen doch alle nur allzu gut, dass ihr alter Herr das Spiel mit den Menschen und ihrer Welt geliebt hat. Vielleicht hallt sein Wille immer noch als ferner Nachruf durch ihren Geist.«

Shirin stöhnte gequält auf. »Wie kannst du so etwas auch nur behaupten, Asami?«

»Warum er so etwas behauptet?« Juna stieß ein trockenes Lachen aus, das genau so abrupt endete, wie es ausgebrochen war. »Jeder weiß, dass du damals die Hure des Schattens gewesen bist. Liebevoll gehätschelt, während er uns andere ausbluten ließ.«

»Was meinst du damit?« Ich wollte die Frage nicht stellen, doch sie entwischte mir. Noch immer quälten mich die Nachwirkungen der Prüfung, der die Körperlosen mich unterzogen hatten. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, Teil dieses Streitgesprächs zu sein. Gerade so, als habe mir jemand meine Lebenskraft geraubt. Dabei war nur die Strahlkraft meiner Aura gemindert.

Juna musterte mich mit kalten blassgrauen Augen. »Hat dir deine Wächterin nichts von der ehrlosen Rolle erzählt, die ihr diese einzigartigen Armreifen aus Bernstein eingebracht haben? Wie sieht es aus, Shirin? Sollen wir das jetzt nachholen?«

»Du Miststück!« Mit einem geschmeidigen Sprung wollte Shirin die vollkommen überrascht dreinschauende Juna aus der Höhe hinabreißen. Ein aussichtsloses Unterfangen angesichts der ohnehin schon feindseligen Schattenschwingen, die uns umkreisten. Ehe ich jedoch reagieren konnte, hatte Lorson Shirin an der Hüfte gepackt und sie mit einem Ruck zurückgerissen. Shirin wehrte sich wie von Sinnen, doch Lorson, offenbar mit ihrer Kampftechnik vertraut, hielt sie fest. Schwer atmend lag sie schließlich in seinen Armen. Ihr Kampfeswille schien gebrochen.

Juna war nach dem Angriff ein Stück weiter in den Himmel aufgestiegen. »Hast du wirklich geglaubt, du könntest jemals wieder mit erhobenem Haupt vor uns treten?«, rief sie nun aus einigen Metern Höhe herab. »Sobald Asami deinen Wächter-Status als Strafe für deine Missachtung aufgehoben hat, werde ich dir beweisen, wozu eine ›Moos ansetzende‹ Schattenschwinge wie ich imstande ist. Du wirst ihren Status doch sicherlich aufheben, Asami?«

Doch zu meiner Überraschung ließ Asami sich keineswegs von Junas geiferndem Aktionismus anstecken. »Die Frage, was aus Shirin wird, kann warten. Ich werde erst einmal dafür sorgen, dass Samuel nicht länger zwischen den Welten wechseln kann.«

Nun riss auch mein Geduldsfaden. »Für wen hältst du dich eigentlich, Asami?«

Asami legte den Kopf schief wie eine Katze, die eine Maus betrachtete, die auf Angriff ging, anstatt nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. »Als wenn du eine Ahnung davon hättest, worum es hier wirklich geht, du Frischling. Du weißt ja nicht einmal, woher die Magie rührt, die dein Fleisch gezeichnet hat.«

»Dafür weiß ich, wie man sie beherrscht«, hielt ich ihm provozierend entgegen, das überraschte Aufschnappen um mich herum ignorierend.

Ein abfälliges Lächeln zeigte sich auf Asamis Gesicht. »Das bist du, nicht wahr? Ein echtes Wunderkind, das alle Regeln umstoßen und unsere Welt auf den Kopf stellen darf. Ein Kind der Veränderung - dass ich nicht lache. Als wenn das allein schon ein Heilmittel wäre! Samuel, du weißt nicht, was Demut bedeutet, aber ich werde es dir beibringen.«

Sämtliche Blicke waren auf Asami gerichtet, dessen dunkle Aura die Dämmerung einschwärzte, bis es aussah, als herrschte eine sternenlose Nacht. Mit einer konzentrierten Bewegung zog er ein bernsteinfarbenes, leicht gebogenes Langschwert aus den Falten seiner weiten Leinenhose und richtete die Spitze auf mich.

Augenblicklich weitete sich der Kreis um mich herum und ich hörte, wie einige Schattenschwingen angstvoll nach Luft schnappten. Sie verströmten ein Durcheinander an freudiger Erregung, Ungeduld, Angst oder Empörung - doch keine von ihnen tat sich hervor, sie alle überließen Asami das Feld, was mich beim Anblick der bernsteinfarbenen Klinge nicht im Geringsten wunderte. Einen Faustkampf hätte ich dank meines Thaibboxen-Trainings vielleicht mit einigen Blessuren überstanden. Was aber sollte ich einer solchen Waffe entgegensetzen, noch dazu in einem solchen Moment, in dem ich meine fünf Sinne immer noch nicht wieder richtig beisammenhatte?

Asami setzte zum Flug an, doch noch ehe seine Füße abhoben, wurde er zurückgerissen. In seinem Zorn war er so auf mich fixiert gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass Kastor von hinten an ihn herangetreten war.

Obwohl Kastors Angriff von Jason abgeschwächt wurde, gelang es ihm, Asami so weit aus dem Gleichgewicht zu bringen, dass ihm das Langschwert aus den Händen glitt. Auf Asamis Gesichtszügen flammte ein ungeahnter Schmerz auf, als er dem fallenden Schwert hinterherblickte. Dann wendete er sich Kastor zu, dem es gelungen war, Jasons mächtige Arme abzuschütteln. Ohne zu zögern, gingen sie aufeinander los, während die übrigen Schattenschwingen die Terrasse der Ruine wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm verließen. Die schnellen zielgerichteten Bewegungen, mit denen Kastor und Asami sich attackierten, und die Geschicklichkeit, mit der sie Schlägen und Tritten auswichen, erinnerten mich daran, dass beide alten Kriegerkasten entstammten. Und ich hatte tatsächlich darauf gehofft, mit meinen knapp drei Jahren Kampfsport gegen jemanden wie Asami bestehen zu können.

Obwohl Kastor seinem Gegner durchaus gewachsen war, gelang es Asami schließlich, ihm einen harten Handkantenschlag gegen den Unterarm zu verpassen. Das Knacken von Knochen war bis hinunter auf den Hof zu hören. Kastor taumelte zurück. Bevor er stürzte, bekam er Asamis Handgelenk zu fassen. Angesichts seines Sieges ließ Asami ihn gewähren, auch wenn ihm die Berührung des anderen sichtlich zuwider war.

»Wenn du kämpfen willst, dann auf faire Art und Weise«, brachte Kastor zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Unter der dunklen Haut war er blass vor Schmerzen geworden. »Wenn Samuel kein Schwert hat, dann wirst du auch keins benutzen. Alles andere werde ich nicht zulassen.«

»Ich will ihn nicht töten.« Trotz seiner Worte sah Asami Kastor mit Respekt an, während seine Brust sich von der Anstrengung des Kampfes hob und senkte. »Ich will dafür sorgen, dass er nicht länger die Menschenwelt besuchen kann. Wenn dieser Aufrührer an die Sphäre gebunden ist, dann ist diese ganze Diskussion beendet. Ich will den Bannspruch vollenden, darum geht es mir.«

Kastor zuckte zusammen, als habe er einen weiteren Schlag erhalten. »Keiner von uns weiß, was der Spruch bewirken soll. Das könnte ungeahnte Folgen haben, es könnte Samuel sogar töten!«

»Unsinn! Es ist ein Bannspruch, um ihn vom Wechseln abzuhalten. Juna ist sich dessen vollkommen sicher.«

Wieder wollte Kastor auf Asami losgehen, doch der war schneller: Mit einem kräftigen Hieb schlug er Kastor nieder. Ohne sich weiter um den am Boden Liegenden zu scheren, hob er das Schwert auf, den Mund zu einer harten Linie verzogen, als ekelte es ihn, die gefallene Waffe wieder aufzuheben. Dann schwang er sich über den Sims der Ruine.

Im selben Augenblick setzte ich ebenfalls an, um ihm in der Luft zu begegnen. Der Zorn, der glühend in mir brannte, gab mir die Kraft, diesem Mistkerl trotz seines Schwerts entgegenzutreten. Ich würde ihm ein für alle Male klarmachen, dass er kein Recht hatte, über mich oder jemand anderen zu bestimmen. Doch es gelang mir nicht aufzusteigen. Ich kam nicht einmal dazu, meine Schwingen auszubreiten. Mehrere Hände zerrten mich zurück, gruben Fingernägel in mein Fleisch, packten brutal zu und glitten an meiner bloßen Haut ab.

Innerhalb weniger Sekunden hatte sich die Versammlung auf dem Hof in einen Hexenkessel verwandelt. Die widersprüchlichen Gefühle, die die Schattenschwingen so lange unterdrückt hatten, explodierten. Mit Asamis gewaltsamem Übergriff waren alle Schranken niedergerissen worden und die Versammlung, die bis eben noch aus nichts anderem, als stillschweigenden Zeugen bestanden hatte, zerfiel in zwei Lager: in diejenigen, die Asami in seinem Ansinnen unterstützten, und in jene, die, aus welchen Gründen auch immer, eine solche Erbarmungslosigkeit verhindern wollten. Von einem Moment zum anderen brach ein schonungsloser Kampf aus, mit mir im Auge des Sturms.

Hinter mir hörte ich Shirin einen lautstarken Fluch ausstoßen, den ich nicht verstand. Ich wollte mich umdrehen, ihr zu Hilfe eilen. Doch schon im nächsten Moment wurde ich niedergerungen, ohne eine Ahnung zu haben, wer mich da überhaupt packte - Freund oder Feind. Ich wurde regelrecht begraben unter einem Haufen Leiber, Schattenschwingen, die versuchten, mich zu fassen - um mich zu befreien oder zu attackieren, konnte ich nicht sagen, das Chaos war zu groß. Ich schrie vor Wut und schlug um mich, aber es gelang mir nicht, mich zu befreien. Vielmehr erhielt ich einen brutalen Schlag in den Nacken, dass schwarze Flecken vor meinen Augen tanzten.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich mit dem Gesicht auf dem Boden, einen festen Druck zwischen meinen Schulterblättern, vermutlich von einem Knie, während um mich herum ohrenbetäubender Kampfeslärm herrschte. Mein Kopf wurde an den Haaren hochgerissen und ich blickte einem vor mir knienden Asami ins Gesicht, der aus einer Platzwunde auf seiner Wange blutete und dessen Haar ihm nun offen und zerzaust über die Schultern hing, sodass die Spitzen den Boden berührten. Seine Schwingen hatte er ausgebreitet wie einen schwarzen Schutzwall, den allem Anschein nach auch niemand durchdringen konnte. In der Hand hielt Asami nicht länger das Schwert, sondern eine Klinge, die so lang war wie mein Unterarm und ebenfalls bernsteinfarben schimmerte.

»Das alles hast du dir selbst zu zuzuschreiben«, knurrte er mich an. »Lass ihn auf keinen Fall hochkommen, Jason«, sagte er dann zu der Schattenschwinge, die auf meinem Rücken saß, woraufhin diese den Druck so sehr verstärkte, dass mein Schmerzensschrei im sandigen Grund erstickte.

Unterdessen zwang Asami meinen rechten Arm zur Seite und setzte die Klinge an, die mühelos durch das Leder meiner Armschiene glitt. Der Schmerz, als sie mein Fleisch zerschnitt, war nichts im Vergleich zu dem, was Asami mir noch anzutun gedachte. Was mein Vater nicht vollbracht hatte, würde diese verbohrte Schattenschwinge nun zu Ende führen. Voller Verzweiflung spannte ich jeden einzelnen Muskel in meinem Körper an, aber es gelang mir nicht, Asamis festem Griff etwas entgegenzusetzen. Selbst als ein Fallender gegen seine ausgebreiteten Schwingen prallte, ließ er nicht eine Sekunde nach. Die Armschiene wurde fortgerissen und mein Arm so gedreht, dass die gezeichnete Seite zuoberst lag.

Mit aller Kraft wandte ich mich um, damit ich das Schrecklichste, das ich mir vorstellen konnte, auch sah. Wie die raue Erde mir dabei die Haut zerkratzte, bemerkte ich mittlerweile ebenso wenig wie das Knie in meinem Rücken oder die blutende Wunde an meinem Arm. Asami brauchte nur einmal mit der Klinge ausholen, und mit einem Schnitt wäre der Bannspruch vollendet, der mir meine Freiheit für alle Zeit rauben würde.

Ich sah noch, wie die Klinge im richtigen Winkel angesetzt wurde, doch da verharrte sie, einen Hauch über meiner Haut. Erst jetzt bemerkte ich, dass rundherum Stille eingekehrt war. Jene Stille, die eintritt, bevor ein Blitz den Nachthimmel zerreißt.

Der Druck in meinem Rücken ließ erst nach, dann verschwand er vollends. Ich zögerte keine Sekunde und stemmte mich auf die Beine. Keuchend taumelte ich von Asami weg, der sich ebenfalls aufgerichtet hatte, die Klinge vergessen in der Hand haltend. Ich wollte schon nach ihr greifen, da schlug eine Art mentaler Blitz in meinen Kopf ein, brutaler, als ein echter es je vermocht hätte. Es war Mila! Ich konnte sie spüren bis in den entferntesten Winkel meines Ichs hinein, als wäre sie eine Schattenschwinge mit der Fähigkeit, mich über ihre Aura zu berühren. Mit der Macht, mich und alle anderen zu verletzen. Dabei war mir die Energie, die sie gebrauchte, mehr als vertraut, denn es war meine eigene - jene Kraft, die mir die Körperlosen erst vor wenigen Momenten geraubt hatten.

Während ich auf die Knie sank, durchflutete mich eine Erkenntnis: Diese Gewalttat kam nicht wirklich von Mila, sie wurde von jemandem benutzt, um die Macht der Körperlosen zu bündeln. Jemand, der wusste wie man ihnen die Energie, die sie aus mir gesogen hatten, raubte. Jemand, der sich mit der Magie der Schattenschwingen auf eine Art auskannte, wie sie seit dem Krieg gewiss in Vergessenheit geraten war. Dann wurde mein Geist von Schatten umschlungen und fortgerissen.

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