18
Im Weißen Licht
Es war mir unmöglich zu sagen, ob die Zeit seit meinem Sprung von der Klippe dahinraste oder doch eher schlich. Mein geheilter Ellbogen und die sauber vernarbten Schnittstellen an meinen Fingern deuteten darauf hin, dass mehrere Wochen vergangen sein mussten, aber gefühlsmäßig kam es mir nicht länger als eine Handvoll Tage vor - bestenfalls. Die Erinnerung an den Sturz war grauenhaft, doch das, was mich danach erwartet hatte, war noch viel schlimmer gewesen. Das Willkommen, nachdem ich den Meeresspiegel durchschlagen hatte, hatte den brutalen Angriff meines Vaters wie eine Nebensächlichkeit erscheinen lassen: Eingesponnen in einen Kokon hatte ich dagelegen, in der Gewalt eines unbekannten, aber umso bedrohlicheren Schattens. Wie lange ich dort verharrt habe, weiß ich nicht - doch letztendlich habe ich mich daraus befreien können. Beides, der Angriff meines Vaters und meine Gefangenschaft, lagen nun hinter mir und ich weigerte mich, auch nur einen Gedanken an diese grauenvolle Zeit zu verschwenden. Stattdessen ließ ich mich treiben, überließ mich der Leere in mir und vermied jeden klaren Gedanken und jedes Gefühl. Zu meiner Erleichterung schlich sich die Erinnerung auch nicht in meinen Schlaf, der im Gegensatz zu früher nicht mehr als ein süßer Sog war. Meine Träume hatten jetzt nichts mehr mit mir zu tun, und dafür war ich ausgesprochen dankbar. Denn zu was auch immer ich geworden war, ich wollte es nicht so genau wissen. Außerdem hat ein Ich stets auch eine Vergangenheit, und meine ertrug ich im Moment nicht. Vielleicht nie wieder.
Dafür gab ich mich voll und ganz dem Fliegen hin. Zwar hatte ich nie die leiseste Ahnung gehabt, dass sich Schwingen in meinem Körper verbargen, aber seit der Sekunde, in der ich sie zum ersten Mal geöffnet hatte, waren sie mir so vertraut wie meine Hände und Beine. Trotzdem fielen meine ersten Flugversuche eher ungelenk aus. Allein den richtigen Winkel zum Abheben zu finden, hatte einige Zeit in Anspruch genommen. Mittlerweile gelang es mir recht gut, die Windströmung so auszunutzen, sodass ich wie ein Papierdrache in gleichmäßigem Flug über den Himmel trieb, ohne mich groß anstrengen zu müssen. Aber anders als bei einem Drachen hielt da unten niemand die Schnüre in der Hand und bestimmte, was ich tat. Nein, hier oben in der Luft war ich frei. Nach all den Jahren, in denen ich an den Boden gekettet gewesen war, bekam ich nun schlicht nicht genug von dem Hochgefühl, das das Fliegen in mir hervorrief. Zu lange hatte ich eine unbestimmte Sehnsucht in mir getragen, von der ich nicht gewusst hatte, wie ich sie stillen sollte. Es war mehr als ein wahr gewordener Traum, denn es war meine Realität. Also tat ich nichts anderes, als die Zeit verstreichen zu lassen, indem ich durch die Luft glitt, und sie manchmal auch mit halsbrecherischem Tempo durchschnitt. Warum auch nicht? Ich verspürte weder Hunger noch Durst, nur das Bedürfnis nach Schlaf holte mich regelmäßig auf die Erde zu rück.
Dabei hatte ich gegen die kurzen Verschnaufpausen auf dem Boden auch nichts weiter einzuwenden, denn wo immer ich landete, immer war es genau meins: unberührtes Land und endlose Wälder. So ursprünglich wie das Meer, das mir zwar vertraut, aber doch zugleich sehr viel rauer und ursprünglicher war als das vor der Küste von St. Martin. Nur an zwei Stellen hatte ich Zeugnisse von Bauten entdeckt, vollkommen verwitterte Ruinen, kaum noch auszumachen im verwilderten Grün. Nicht mehr als ein paar aufeinandergehäufte Steine, sodass man fast glauben konnte, der Zufall habe sie aufeinandergeschichtet. Für mich waren sie der endgültige Beweis gewesen, dass, falls hier jemals Menschen gelebt haben sollten, es schon eine Ewigkeit her sein musste. Der Eindruck, ich wäre im Paradies gelandet, änderte sich erst, als ich auf eine Grenze meiner neuen Heimat stieß - und im selben Augenblick wurde auch die Selbstvergessenheit, hinter der ich mich verschanzt hatte, mit einem Schlag beendet.
Wie schon in den Tagen zuvor zog ich meine Kreise hoch oben am Himmel. Unter mir brachte der Sommerwind den Wellengang dazu, lebhafter zu rauschen, als er es an einem heißen Nachmittag eigentlich tun sollte. Zum ersten Mal seit meinem Sturz fragte ich mich, welcher Monat es mittlerweile sein mochte. Juni? Juli? Oder vielleicht doch schon August? Das Zeitgefühl war mir offensichtlich vollständig abhandengekommen, falls es hier so etwas wie Zeit überhaupt gab. Ich konnte ja nicht einmal sagen, wie lange der Zusammenstoß mit meinem Vater zurücklag. Unwillkürlich flackerte die Erinnerung an Jonas’ Angriff vor meinem geistigen Auge auf. Ich verlor kurz das Gleichgewicht und stürzte einige Meter taumelnd ab, bevor ich mich knapp vor dem Meeresspiegel wieder gefangen hatte.
Nachdenklich musterte ich das Wellenspiel, das mich einerseits magisch anzog und mich andererseits in Angst versetzte, seitdem ich durch den Meeresspiegel in diese seltsame Welt eingetreten war. Ein wundervolles Gefängnis, keine Frage, allerdings ohne einen Ausgang, was so viel bedeutete wie »Rückkehr in die Menschenwelt ausgeschlossen«. Das hatte ich auf die unangenehme Tour lernen müssen, als der Schatten mich gefangen gehalten hatte. Doch darüber wollte ich auf keinen Fall nachdenken. Allen Anstrengungen zum Trotz brauchte es mehrere Anläufe, bis ich die Erinnerung beiseitegeschoben hatte. Immer wieder wollte sie sich mir aufzwingen und mir vor Augen führen, wie quälend es sich anfühlte, in der Mitte entzweigerissen zu werden: Ich hatte meine Schwingen gewonnen und ein Leben, das meiner Natur entsprach. Dafür hatte ich Mila verloren und mit ihr die Chance, trotz meiner Andersartigkeit einen Platz in der Menschenwelt zu finden und glücklich zu sein. Auch wenn ich mich hier - wo auch immer »hier« sein mochte - zum ersten Mal vollständig fühlte, war ich mir nicht sicher, ob ich mich für diese Art von Leben entschieden hätte, wenn ich die Wahl gehabt hätte. Falls man bei meinem jetzigen Zustand überhaupt von Leben sprechen konnte.
Nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen gelang es mir endlich, meinen Kummer fortzuschieben, doch dem Flug über das schäumende Wasser wohnte nicht länger etwas Befreiendes inne. Ein Blick in Richtung Westen zeigte mir, dass ich mich weiter als sonst vom Festland entfernt hatte, denn es war nicht einmal mehr als ein Schatten am Horizont zu erkennen. Ich musste weit in Richtung Süden abgedriftet sein, denn die Sonne, die hier stets hinter einer Dunstschicht verborgen lag, sodass selbst am Tag ununterbrochen Zwielicht herrschte, brachte genug Kraft auf, um mich zu blenden. Von Neugierde getrieben flog ich weiter auf sie zu, mit den Händen notdürftig die Augen beschirmend, bis das gleißende Licht mit der Wassernaht verschmolzen war. Das Licht löste ein unerklärliches Glücksgefühl in mir aus, weshalb es mich nicht kümmerte, dass der Wind sich auf einen Schlag gelegt hatte und ich hart arbeiten musste, um voranzukommen. Meiner Hochstimmung zum Trotz schaltete sich schließlich ein Warnsignal in meinem Kopf ein. Denn das vielversprechende Prickeln, welches das Licht auf meiner Haut auslöste, konnte nicht länger überspielen, dass diese in Wirklichkeit zu verbrennen anfing. Mit der Helligkeit ging nämlich eine große Hitze einher.
Ich wollte eine Kehrtwende machen, wusste aber nicht, in welche Richtung. Das Licht hatte alles in ein einziges gleißendes Weiß verwandelt, es gab kein Oben und Unten mehr. In meiner Verzweiflung zog ich die Schwingen ein, stürzte jedoch nicht ab. Es war, als schwebte ich in einem luftleeren Raum. Dafür spürte ich ein Reißen, als wäre ich nicht mehr als ein Stück Metall, das von einem überdimensionalen Magneten angezogen wird. Zuerst ganz sanft, wie aus großer Entfernung, kaum bemerkbar, aber dann immer verlangender.
Obwohl ich es mit der Panik zu tun bekam, war ich zugleich geradezu euphorisch, stets aufs Neue das schmerzhafte Glühen vergessend, das mittlerweile meinen Körper überzog. Besonders schlimm war es am Rücken, als sollten die Zeichen meiner eingezogenen Schwingen getilgt werden. Doch so heftig die Schmerzen auch waren, ich vergaß sie sofort wieder. Die Sonne, oder aus welcher Energiequelle auch immer sich das Weiße Licht speiste, wirkte stärker als jede Droge. Sie löschte alles aus, verbannte jedes unangenehme Gefühl, jede schmerzende Erinnerung und hinterließ nur reines Weiß. Ich wollte unbedingt mehr von dieser Reinheit, selbst wenn mich das Licht aufzehrte. Mein ganzes altes Leben, zu dem ich nicht wieder zurückkehren konnte, würde weggebrannt werden. Endlich.
Da legte sich plötzlich ein Schatten über mich. Zwei Hände packten meine Oberarme und ich schrie auf, weil die Berührung schlimmer brannte als Feuer. Ich wollte mich wehren, wurde jedoch mit einer enormen Kraft zurückgedrängt, bis die magische Anziehungskraft des Lichts nachließ. Verzweifelt versuchte ich, mich zu befreien, doch es gelang mir nicht einmal, den Griff der Hände ansatzweise abzuschütteln. Ich war schlicht zu erschöpft dafür.
Nachdem die Strahlkraft des Weißes nachgelassen hatte, verflüchtigte sich auch das Bedürfnis, mich ihm zu überlassen. Ich wehrte mich nicht länger gegen die Arme, die mich nun umschlungen hielten, sondern überließ mich ihnen freiwillig, zu ausgelaugt, um auch nur meine Schwingen zu öffnen.
Als der Wind wieder einsetzte, wollte ich meine brennenden Augen öffnen - nur, um festzustellen, dass sie längst geöffnet waren. Ich sah nur Weiß. Um Gottes Willen, ich war geblendet! Verzweifelt versuchte ich nun doch, meine Arme freizubekommen, als würde alles wieder gut werden, wenn ich meine Augen nur berührte. Doch wer auch immer mich hielt, wusste, was er tat: Ich kam keinen Zentimeter frei.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, hörte ich eine männliche Stimme dicht an meinem Ohr sagen. »In ein paar Stunden ist alles wieder gut. Es sei denn, du kämpfst weiterhin gegen mich an, dann lasse ich dich ins Meer fallen. Und da hole ich dich bestimmt nicht wieder raus. Ich kann Wasser nämlich nicht ausstehen.«
Ehe ich etwas erwidern konnte, schlug die Erschöpfung wie eine Flutwelle über mir nieder und riss mich mit sich. Als ich wieder aus der Besinnungslosigkeit auftauchte, war das Erste, was ich wahrnahm, kaltes Nachtlicht, von einer Klarheit, die ich in meinem früheren Leben nie für möglich gehalten hätte. Nach und nach zeichneten sich einige Sterne am Himmel ab, wie ich beruhigt feststellte. Ich hatte dieses Sternenbild einige Mal vorm Einschlafen beobachtet, nur, um festzustellen, dass es vollkommen verschieden war von dem in meiner alten Heimat. Die Sterne waren nicht nur anders angeordnet, sondern kamen mir auch zum Greifen nah vor. Als wäre man dem Himmel ein Stück näher.
Nun, zumindest funktionierten meine Augen also wieder. Außerdem erkannte ich nach und nach die Umrisse einiger Baumkronen über mir. Ich war also nicht länger draußen über dem Meer - auch dieser Gedanke gefiel mir. Mühsam erforschte ich meinen Körper, darauf gefasst, jederzeit von den Schmerzen meiner verbrannten Haut heimgesucht zu werden. Doch nichts geschah. Nur an meinen Oberarmen pulsierten nach wie vor die Stellen, an denen die Hände des Fremden mich gepackt hatten. Es war ein ähnliches Gefühl, wie wenn man zu lange ein Stück Eis berührt und das Taubheitsgefühl bereits nachgelassen hat. Als ich mich hastig aufsetzte, überkam mich ein Schwindel, der jedoch sogleich vergessen war, als meine Schwingen sich ohne Verzögerung ausbreiteten und auch einziehen ließen.
»Ich habe dir doch gesagt, dass alles wieder gut wird.« Es war dieselbe Stimme, die bereits draußen auf dem Meer beruhigend auf mich eingeredet hatte.
Obwohl alles in mir vor Neugier darauf brannte, mir diesen Fremden anzuschauen, zögerte ich. Die ganze Zeit - wie lange das auch immer sein mochte - war ich allein gewesen. Zwar hatte ich mich bei meinen Erkundungsflügen stets nur so weit von der Küste wegbewegt, dass ich vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehren konnte, aber es war doch weit genug gewesen, um zu dem Schluss zu kommen, dass es außer mir in dieser Welt keine andere Menschenseele gab. Ich hatte mich allein gewähnt, eingeschlossen in meinem eigenen Universum, das so wild und schön war, als hätte eine Glücksfee mir meine persönliche Traumlandschaft gezaubert: der altvertraute Küstenlandstrich ohne einen Ort namens St. Martin, so, wie er vielleicht vor ein paar Jahrhunderten gewesen sein mochte, bevor die Menschen anfingen, ihn nach ihren Vorstellungen zu formen. Nun sah es jedoch mit einem Mal so aus, als wäre dieses Paradies keineswegs für mich allein erschaffen worden. Es gab zumindest noch eine weitere Seele.
Langsam hob ich den Blick.
Ein Stück von mir entfernt saß ein junger Mann auf einem Felsen seitlich eines Wasserlaufs und sah mich abwartend an. Wenn er zuvor nicht etwas zu mir gesagt hätte, hätte ich ihn für eine Statue gehalten, so reglos, wie er in der Dunkelheit saß. Für eine dieser Figuren in Denkerpose, wie die alten Griechen sie geliebt haben. Vermutlich kam mir dieser Vergleich wegen seiner klassischen Gesichtszüge, den kurzen schwarzen Haaren, oder schlicht deshalb, weil er so ziemlich unbekleidet dasaß. Nicht, dass ich damit ein Problem gehabt hätte, aber ich konzentrierte mich dann doch lieber auf sein Gesicht, das keinerlei Regung verriet, während ich ihn musterte. Was schade war, denn im Gegensatz zu den Normalsterblichen konnte ich diesen Mann nicht »lesen«. Die Informationen über meine Mitmenschen, mit denen ich stets versorgt worden war, blieben mir bei ihm verwehrt. Allerdings war mir diese Gabe stets unangenehm gewesen, vor allem, weil sie mir immer wieder vor Augen geführt hatte, dass die meisten Menschen in meiner Nähe wie gebannt waren.
»Was ist da draußen auf dem Meer passiert?«, fragte ich vorsichtig, weil mein Gegenüber immer noch keinerlei Anstalten machte, das Schweigen zu brechen.
»Du hast dich allem Anschein nach aufgemacht, die vernichteten Gebiete der Sphäre zu erkunden. Bist du lebensmüde oder hat dein Wächter vergessen, dich darauf hinzuweisen, dass auch die Ränder der vom Krieg verbrannten Stellen mehr als gefährlich sind, wenn man sich nicht in ihnen auskennt?«
Ich blinzelte, denn ich hatte kein Wort begriffen.
Nun kam doch Leben in das Gesicht dieser Statue: eine Mischung aus Verwunderung und Unglauben. Offenbar hatte er noch nicht entschieden, ob er mir meine Ahnungslosigkeit wirklich abnehmen sollte. »Ich bin Kastor«, begann er, jedes Wort in die Länge ziehend, als wolle er Zeit schinden. »Und du bist?«
»Samuel.«
»Samuel, ein schöner alter Name.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Mag sein, aber Sam reicht eigentlich aus.«
Kastor runzelte die Stirn, als könne er mit der Abkürzung nichts anfangen, vielleicht mochte er aber bloß auch keine Anglizismen. Nachdenklich beugte er sich zum Wasser hinunter und ließ es über seine ausgestreckten Finger tanzen. Dabei blitzten kurz schwarze Tuscheschlieren auf seinem Schulterblatt auf. Schwingen waren das, eingezogene Schwingen, genau wie meine, begriff ich. Ich hatte mir fast den Rücken verrenkt, als ich die schwarzen Zeichnungen vor Kurzem bei mir entdeckt hatte. Unwillkürlich entfuhr mir ein überraschtes »Oh«, woraufhin Kastor sich wieder aufrichtete und mich nachdenklich ansah. Es kostete mich einiges, um nicht unruhig auf meinem Hintern herumzurutschen. Tausend Fragen schossen mir gleichzeitig durch den Kopf, aber dieser Kastor erweckte nicht gerade den Eindruck, als wenn er bereit wäre, sich von mir aushorchen zu lassen. Es sah vielmehr ganz danach aus, als würde er bei dem anstehenden Verhör der Federführende sein.
Schließlich schüttelte er den Kopf und lachte leise in sich hinein. »Auch auf die Gefahr hin, mich zu blamieren: Du bist doch wohl nicht gerade erst in der Sphäre angekommen, oder?«
»Kommt drauf an, was du mit ›gerade‹ meinst«, erwiderte ich ausweichend.
Obwohl sich das Lachen immer noch in seinen Augen spiegelte, wurde seine Stimme mit einem Schlag entschieden ernster. »Wer ist dein Wächter?«
Das Wort »Wächter« gefiel mir gar nicht. »Stellst du die Frage bloß aus höflichem Interesse?« Okay, das war ein Bluff, aber ich wollte als der Neuling, der ich unleugbar war, nicht als Erstes einen Wächter zugeteilt bekommen. Das hier war mein Paradies, ich würde es mir nicht einfach rauben lassen.
»Ich wollte dich nicht verunsichern. Die Bezeichnung ›Wächter‹ ist wohl etwas missverständlich.« Ja, ich war mit meinem Ausweichmanöver gescheitert. »Gemeint ist damit eine ältere Schattenschwinge, die sich um die neu Angekommenen kümmert, ihnen erklärt, wer sie sind und was die Sphäre ist. Insofern das überhaupt jemand wirklich weiß. Jedenfalls hätte dich dein Wächter sehr schnell auf die gefährlichen Gebiete der Sphäre aufmerksam gemacht.«
»Ein Wächter ist eine Art Lehrer?«
»So was in der Art.«
Kastor hatte ein Stück des Felsbrockens, auf dem er saß, losgelöst und betrachtete ihn eingehend. Er bewegte ihn zwischen seinen Händen wie einen aufregenden Schatz. »Sieht ganz so aus, als hätte ich mich einen Tick zu lange im Weißen Licht aufgehalten«, sagte er leise zu sich selbst.
Die Minuten verrannen, während ich tief ein- und ausatmete, um den inneren Druck auszugleichen, der sich immer mehr in mir aufbaute. Zum ersten Mal gestand ich mir ein, dass ich tatsächlich geglaubt hatte, beim Sprung von den Klippen gestorben zu sein. Dass sich meine körperlichen Überreste mittlerweile in Fischfutter verwandelt hatten, während der unsterbliche Teil von mir in einem ganz persönlichen Eden gefangen war. Für immer und ewig, der Weg zurück in die Menschenwelt versperrt. So, wie es nach dem Tod sein sollte. Dieser Glaube hatte es mir überhaupt erst möglich gemacht, den Verlust meines alten Lebens hinzunehmen, zu akzeptieren, dass die Menschen, die mir nahegestanden hatten, verloren waren, dass Mila für mich verloren war. Aber die Erkenntnis, dass die sogenannte »Sphäre« keineswegs das Paradies war und ich offensichtlich alles andere als allein, änderte einiges. Wenn das hier nicht die Endstation war, dann musste es auch einen Weg zurück geben.
»Kann man die Sphäre wieder verlassen?«
Einen Moment lang betrachtete Kastor noch den Stein, dann warf er ihn ins schnell vorbeiziehende Wasser. Er richtete seine grauen Augen auf mich und seufzte. »Kann man. Aber es gibt einen Haken. Deshalb heißen die Wächter auch Wächter und nicht Lehrer.«
»Was meinst du damit?«
»Hör zu, Junge. Du brauchst einen Wächter, der wird dir alles erklären und dir die Regeln beibringen, nach denen wir in der Sphäre leben. Ich werde dich zu einem von ihnen bringen, aber eine Sache würde mich zuvor wirklich interessieren: warum keiner von uns deinen Eintritt in die Sphäre bemerkt hat. Auch jetzt kann ich dich nicht wirklich erreichen, als würdest du hinter einer durchsichtigen Wand stehen. Du hast mehr als Glück gehabt, dass ich dich vorhin im verbrannten Gebiet überhaupt wahrgenommen habe. Warum erzählst du mir nicht in Ruhe, wie dein Wechsel stattgefunden hat?«
Ich nahm ihm das »Junge« übel, weil er höchstens zwei oder drei Jahre älter war als ich. Außerdem verspürte ich nur wenig Lust, ausgehorcht und anschließend an einen Wächter übergeben zu werden. »Vielleicht ein anderes Mal. Vielen Dank jedenfalls dafür, dass du mich aus diesem Licht herausgeholt hast. Die Grenzen der Sphäre haben es wirklich in sich«, sagte ich noch, während ich bereits meine Schwingen aufspannte.
»Warte!«
Zwar sagte Kastor es nicht als Befehl, aber es war klar, dass er Gehorsam erwartete. Nur wollte ich nicht gehorchen, genauso wenig, wie ich mich kontrollieren lassen wollte. Deshalb tat ich etwas, was ich zuvor schon bei Rufus getan hatte: Ich griff nach Kastor und schleuderte ihm ein deutliches »Nein« entgegen, ohne dafür meine Lippen bewegen zu müssen. Dann stieß ich mich vom Boden ab.
Während ich über das Blätterdach des Laubwaldes stieg, in den Kastor mich gebracht hatte, begann sich ein Kribbeln auszubreiten, als würde jemand an einem Wintertag seinen Atem über meine verkühlte Haut hauchen. Ich wusste, was sich dort um mich herum ausbreitete: Jenes Strahlen, das mich stets als andersartig gebrandmarkt hatte. Seit meinem Eintritt in die Sphäre war es jedoch verloren gegangen, als hätte ich es gemeinsam mit meinen Gefühlen und Erinnerungen abgestreift, und erst jetzt loderte es wieder auf.
Unvermittelt erreichte mich eine Frage: »Wenn du so interessiert daran bist, in die Menschenwelt zurückzugehen, warum hast du es dann nicht einfach ausprobiert?«
Zuerst dachte ich, Kastor wäre mir gefolgt. Doch es war keine Spur von ihm über dem Blätterdach des Waldes zu entdecken. Da erst begriff ich, dass ich seine Stimme in mir widerhallen gehört hatte. Auf die gleiche Art, wie ich ihn abgewiesen hatte. Es funktionierte wie ein Ball, den man zugeworfen bekommt und auffängt - ob nun willentlich oder nicht. Und das Fangnetz war jenes Strahlen.
Reglos verharrte ich im Nachtwind, unschlüssig, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich diesem Kastor den Rücken zukehren und somit auf sein Wissen verzichten? Oder sollte ich das Risiko einer Bevormundung durch einen Wächter eingehen und dadurch mehr über mich und meine Fähigkeiten lernen? Schattenschwinge - dieser Begriff durchkreuzte unentwegt meine Gedanken. War es das, war ich das? Wenn ja, dann gehörte ich offenbar zu dieser Gruppe. Und wollte ich wirklich vor denen davonlaufen, die mir von ihrer Natur her näher waren, als meine menschliche Familie es je gewesen war? Letztendlich war es jedoch eine andere Überlegung, die mich dazu brachte, zu Kastor zurückzukehren: Er kannte die Grenze zwischen Menschenwelt und Sphäre nicht nur, er wusste offensichtlich auch, wie man sie überwinden konnte. Wie ein unerwartet heftiges Fieber stellte sich die Hoffnung ein, Mila wiederzusehen. Zu lange hatte ich den Gedanken an sie von mir gedrängt, unfähig, mich diesem Verlust zu stellen, der mir vollkommen unwiderruflich vorgekommen war.
Als ich auf der kleinen Lichtung beim Wasserlauf landete, saß Kastor nach wie vor auf dem Felsen. Zu meiner Erleichterung wirkte er froh über meine Rückkehr und kein bisschen so, als würde er mich gleich in Gewahrsam nehmen.
»Was hältst du von einem Tauschgeschäft?«, testete ich vorsichtig an. »Du erzählst mir, wie man diese Grenze zwischen Welt und Sphäre überwindet, und ich erzähle dir im Gegenzug von meinem Wechsel hierher. Vielleicht lässt sich das Rätsel um meinen unbemerkten Eintritt dadurch ja besser lüften.«
Kastor sprang vom Felsen und begann ein paar Schritte auf und ab zu laufen, weshalb ich zwangsläufig den Blick zum Sternenhimmel hochwandern ließ, weil ich leider nicht halb so locker mit seiner Nacktheit umgehen konnte wie er selbst. Dann blieb er mit einem Mal vor mir stehen und hielt mir die Hand hin.
»Einverstanden«, sagte er und ich beeilte mich einzuschlagen. »Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das ein guter Tausch für dich ist. Bei deinem ersten Wechsel ist ganz offensichtlich ein Fehler unterlaufen. Wenn ich richtig tippe, ist das auch der Grund, warum du bislang nicht aus eigener Kraft in die Menschenwelt zurückgegangen bist. Du kannst es nicht mehr, richtig?« Frustriert schnappte ich nach Luft, während Kastor besänftigend die Hände hob und rasch weitersprach: »Nun gut, dein künftiger Wächter wird zwar alles andere als erfreut darüber sein, dass ich dir vom Wechseln erzählt habe, bevor er dich überhaupt unter seine Fittiche genommen hat, aber, was soll’s. Wie wir wechseln, ist eigentlich auch kein Geheimnis, wir tun es nur einfach nicht. Die Menschenwelt ist schon lange kein Ort mehr, den wir aufsuchen. Und da es dir allem Anschein nach unmöglich ist, zerschlage ich hier vermutlich ohnehin nur kaputtes Geschirr. Nun mach nicht so ein Gesicht, vielleicht täusche ich mich ja.«
Selbstverständlich täuschst du dich, hätte ich ihn am liebsten angeschrien. Doch ich riss mich zusammen. Es war einfach zu wichtig, dass Kastor mir erklärte, wie ich zu Mila zurückkehren konnte. Über alles andere konnte ich mir später noch den Kopf zerbrechen.
»Jede Schattenschwinge trägt ihre ganz persönliche Pforte in sich, die nur sie alleine nutzen kann - bei dem einen ist es eine bestimmte Heuwiese, bei einem anderen die Granitplatte in einer Felsenwand. Es sind Verbindungen zwischen der Sphäre und der Menschenwelt. Dir ist doch sicherlich schon aufgefallen, dass die Sphäre eine Spiegelung der Menschenwelt ist, mit dem Unterschied, dass die Schattenschwingen ihre Umgebung auf eine andere Weise geprägt haben als die Menschen.«
»Hier ist alles vollkommen ursprünglich, von ein paar alten, halb überwucherten Ruinen einmal abgesehen. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, dass es außer mir noch jemanden gibt.«
Ein bitterer Zug schlich sich auf Kastors Gesicht. »Ja, die Sphäre ist sehr ursprünglich, zumindest der kleine Teil, den wir von ihr übrig gelassen haben.« Ehe ich nachhaken konnte, kehrte Kastor zu unserem ursprünglichen Thema zurück. »Damit eine Pforte funktioniert, muss es sie an beiden Orten geben. Wenn die Menschen deine Heuwiese also in einen Acker verwandelt haben, sieht es schlecht aus für dich. Könnte das dein Problem sein, existiert deine Pforte drüben nicht länger?«
Ich dachte an das Meer vor der Küste St. Martin, das seit meiner frühsten Kindheit zu mir gesprochen hatte. An das verheißungsvolle Blaugrün, das mit tosender Kraft voranpreschte. Instinktiv wusste ich, dass das Meer meine Pforte war, aber wie konnte sie dann verschlossen sein? Es muss also mit der Art meines Wechsels zusammenhängen, dort musste das Problem liegen. Also zwang ich mich dazu, nach den richtigen Worten zu suchen. Ich wollte es möglichst schnell hinter mich bringen, Kastor davon zu erzählen, und umriss mit wenigen Sätzen, warum und wie ich ins Meer gestürzt war, nur, um in der Sphäre wiederaufzutauchen. Hier stockte ich und auch um Kastors Augen legte sich ein angespannter Zug.
»Was passierte dann?«, fragte er leise.
Statt einer Antwort hielt ich ihm meinen von Narben entstellten Unterarm hin. Für einen Augenblick verzerrte sich sein Mund, als würde er etwas weit Schrecklicheres als ein paar alte Schnitte betrachten, dann hatte er sich bereits wieder gefangen. »Die Zeichen haben sich beim Wechsel geöffnet, richtig?«, fragte er mit hörbarem Widerwillen in der Stimme.
Ich nickte, die eiserne Spange, die sich um meinen Kiefer legte und mich am Sprechen hindern wollte, ignorierend. »Ja, und es ist etwas aus ihnen hervorgetreten … eine Art schwarzer Nebel, der mich innerhalb kürzester Zeit in einen Kokon einschloss. Es war unmöglich, ihn zu zerreißen. Deshalb bin ich zurück ins Meer gestürzt und wie ein Stein untergegangen. Allerdings habe ich das Wasser gar nicht wahrgenommen, sondern nur Schatten. Sie haben mich in einem Kokon umhüllt gehalten. Aber das war nicht das Schlimmste. Dieser Schatten-Kokon hat etwas mit mir getan, das ich kaum erklären kann. Er hat mich von mir selbst abgeschnitten, Stück für Stück, hat mein Leben ins Dunkel getaucht.« Ich schloss die Augen, in der Hoffung, mich dadurch besser konzentrieren zu können. Diese Zeit der Gefangenschaft war grauenhafter gewesen als all die Jahre im Haus meines Vaters zusammen. Jonas’ Versuch, mich zu brechen, hatten auf meinen Körper abgezielt, aber dieser Schatten hatte mich meiner Identität berauben wollen und fast wäre er erfolgreich gewesen. »Das helle Licht vorhin, das mich fast verbrannt hat, war dabei, mein Ich auszulöschen. Nur, dass sich das Ganze nach Erlösung anfühlte, während dieser Kokon nichts anderes als ein Dieb meines Ichs war. Besser kann ich es nicht erklären.«
Kastors zustimmendes Brummen ließ mich die Augen öffnen. Er stand nur einen Schritt entfernt mit vor der Brust verschränkten Armen da und nickte verständnisvoll. »Ich kenne mich mit dieser Art von Magie nicht aus, genau wie die anderen Schattenschwingen, die heute noch in der Sphäre leben. Daher kann ich nur vermuten, was diese Zeichen ergeben sollen: einen Bannspruch, vielleicht, um dich am Wechseln zu hindern. Wer auch immer deinen Vater dazu verführt hat, dich zu zeichnen, wollte etwas von dir. Ich kann zwar nur raten, trotzdem würde ich sagen, dass der Bannspruch unvollendet geblieben ist und deshalb beim Wechsel nur verzögert und nicht nach Plan reagiert hat. Ansonsten würdest du jetzt wohl auf dem Meeresgrund drüben in der Menschenwelt liegen, unfähig, diesen Kokon jemals wieder zu verlassen. Das ist allerdings nur eine Vermutung. Zumindest erklärt das, warum niemand hier deine Ankunft wahrgenommen hat: Die Aura, die uns umgibt, ist ein Ausdruck unserer Persönlichkeit. Genau das ist es, was dir der Schatten rauben wollte.«
Das war ziemlich viel auf einmal. Hastig versuchte ich zu begreifen, was Kastor da gesagt hatte. Jemand aus der Sphäre hatte meinen Vater also dazu gebracht, mir diese Symbole ins Fleisch zu schneiden. So verrückt es klang, ergab es doch Sinn. All die Nächte, in denen Jonas von Albträumen heimgesucht worden war, und der seltsam leere Ausdruck auf seinem Gesicht bei beiden Angriffen - als habe ihm jemand seinen Willen aufgezwungen. Nicht, dass er bei meinem Vater schweres Spiel gehabt hätte, schließlich gehörte es zu den Höhepunkten seines Daseins, meinen Körper mit Beweisen seiner Wut und Überlegenheit zu überziehen.
»Du sagst, keine Schattenschwinge in der Sphäre ist zu solcher Magie fähig. Wer ist es dann, der Jonas zu seinem Werkzeug gemacht hat?«
»Alle Schattenschwingen leben heutzutage ausschließlich in der Sphäre«, antwortete Kastor ausweichend. »Die einzige Schattenschwinge, die mit Sicherheit sagen könnte, was diese Zeichen wirklich bewirken sollen, spinnt schon lange nicht mehr ihre Magie. Sie ist gemeinsam mit dieser verdorbenen Kunst untergegangen.«
»Du meinst, sie ist tot?«
Doch Kastor schüttelte nur seinen Kopf. »Denk erst einmal nicht weiter darüber nach. Du musst sehr viel mehr über die Sphäre wissen, um diese Zusammenhänge auch nur ansatzweise zu begreifen. Wichtig ist im Moment doch nur, dass du diesem Kokon aus eigener Kraft entkommen bist. Also kannst du es auch lernen, den unvollständigen Bannspruch zu beherrschen. Wie hast du das Kunststück, dem Kokon zu entfliehen, überhaupt fertiggebracht?«
Nun war es an mir, den Kopf zu schütteln. Der Schlüssel zu meiner Freiheit war mein Geheimnis. Nicht etwa, weil ich Kastor misstraute, sondern, weil es zu intim war. Der Schlüssel war nämlich nichts anderes als ein Liebesgeständnis an Mila gewesen. Allein bei der Erinnerung jagte mir das Blut durch die Adern wie ein reißender Sturzbach.
Nach und nach hatte der Schattenkokon immer weitere Facetten meines Ichs verdunkelt: der wunderbare Augenblick, in dem meine Mutter mir als Kind übers Haar gestrichen hat … der Glücksmoment, als ich meinen Meister beim Thaiboxen unverhofft von den Füßen geholt hatte … der Geschmack von Erdbeereis. Für immer vor mir verborgen, geraubt, weil ich unfähig war, mich zu befreien. Und dann hatte der Schatten sich dem Gefühl angenähert, das Mila mir gab, die Verbindung, die zwischen uns beiden bestand, meiner tiefen Zuneigung zu ihr. Da hatte sich endlich Widerstand in mir geregt und mich an das Versprechen erinnert, das ich Mila gegeben hatte. Dass ich zu ihr zurückkommen würde. Immer.
Ich wusste nicht, was ich getan hatte, außer dass ich den unumstößlichen Entschluss gefasst hatte, an diesem Versprechen festzuhalten. Allem Anschein nach war dieses Dagegenhalten das Mittel gewesen, dem Schatten beizukommen. Der Kokon riss ein, zuerst waren nur feine Risse sichtbar gewesen, dann war er zerfasert wie ein Spinnennetz, das von einem gleißenden Feuer aufgezehrt wurde. Plötzlich waren die Zeichen auf meiner Haut wieder bloß Narben und ich befand mich im tosenden Blau des Meeres, kaum genug bei Verstand, um einen Weg an die Oberfläche zu finden. Ich tauchte auf und im gleichen Moment, in dem ich nach Luft schnappte, öffnete ich zum ersten Mal bewusst meine Schwingen und stieß in den Himmel empor. Es war genauso einfach, wie meine Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Unter mir überschlugen sich die Wellen, doch ich traute dem Locken des Wassers nicht länger. Denn einer Sache war ich mir sicher: Wenn ich erneut den Meeresspiegel durchbrach, würde es nicht noch einmal gut ausgehen. Ich brauchte mich ihm nämlich nur zu nähern, dann begannen die Narben einzureißen und ich konnte den lauernden Schatten in den offenen Wunden erkennen. Bereit, sofort wieder nach mir zu greifen.
»Der Kokon wollte mir eine bestimmte Erinnerung stehlen, und das konnte ich nicht zulassen«, antwortete ich Kastor ausweichend. »Irgendwie hat mein innerer Widerstand Löcher in den Kokon geschlagen, so lange, bis er zerriss.«
Nachdenklich rieb Kastor sich das Kinn, während das Grau seiner Augen im Morgenlicht ungewöhnlich leblos wirkte, obwohl in der Sphäre alle Farben um ein Vielfaches lebendiger waren. Zu Anfang war es mir sogar so vorgekommen, als würde ich zum ersten Mal das komplette Farbspektrum sehen, während zuvor alles nur in langweiligen Grundfarben gehalten gewesen war.
Langsam wandelte sich Kastors grüblerische Miene in ein Grinsen, das ihn erstaunlich jung aussehen ließ. »Sieht ganz danach aus, als hättest du meine Wachablöse zum richtigen Zeitpunkt eingeläutet. So viele Rätsel auf einmal hat es schon lange nicht mehr in der Sphäre gegeben, dafür ist sie ein viel zu ruhiger Ort geworden.«
»Was meinst du mit Wachablöse?«
Mit einer ruhigen, fast andächtigen Bewegung öffnete Kastor seine Schwingen. »Du hast doch am eigenen Leib erfahren, wie leicht es einem im Weißen Licht fällt, sich selbst und seine Vergangenheit zu vergessen und wieder so rein wie ein unbeschriebenes Blatt Papier zu sein. Die Magie, die die Schattenschwingen in früheren Tagen eingesetzt haben und die den Süden der Sphäre zerstört hat, wirkt dort immer noch nach. Das Weiße Licht ist ein Platz, an dem man für immer schlafen und vergessen kann. Man könnte auch sagen, dass es das beste Gefängnis ist, das die Sphäre zu bieten hat. Aber in dieses Geheimnis sollte dich jemand anderes einführen.« Ich wollte trotzdem neugierig nachhaken, doch Kastor blockte ab. »Für diesen Morgen haben wir wirklich genug geredet. Man kann die Sphäre nicht mithilfe von ein paar Sätzen begreifen wollen, dazu ist mehr vonnöten. Außerdem brauche ich jetzt wieder den Wind unter meinen Schwingen. Alles andere wird sich finden.«
Ohne meine Reaktion abzuwarten, stieg er in die Luft. Beim Anblick seines Fluges begannen meine eingezogenen Schwingen zu kribbeln, als verspürten sie den Drang auf einen Wettflug. Eher unlustig öffnete ich sie und folgte Kastor, der mit gleichmäßigen Schlägen über den Himmel zog. Allein diese »paar Sätze« von ihm hatten ausgereicht, um in meinem Kopf ein Chaos anzurichten, weil eine Frage hundert andere auslöste. So, wie es aussah, würde ich nicht darum herumkommen, mich einer älteren Schattenschwinge unterzuordnen, wenn ich die Sphäre begreifen wollte. Zwar gefiel mir der Gedanke an jemanden, der mich bevormunden würde, nicht im Geringsten. Doch wenn ich zu Mila zurückkehren wollte, würde mir kein anderer Weg übrig bleiben.