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Sternenleuchten
Mila
Es war nicht gerade einfach, Samuel Bristol zu übersehen. Allerdings lag das weniger an seinem Äußeren - obgleich er meiner Meinung nach umwerfend aussah mit seinem Strubbelhaar, den meerfarbenen Augen und seinen breiten, aber etwas hageren Schultern, als hätte er den Schuss in die Höhe, den er vor einiger Zeit gemacht hatte, noch nicht richtig ausgeglichen. Was man seinen Bewegungen allerdings längst nicht mehr ansah: Die waren voller Anmut, auch wenn ich wohl die Einzige war, die Sam mit diesem Wort beschreiben würde. Aber ich fand, es passte. Alles an ihm war anmutig, selbst wenn er einfach nur mit den Jungs beisammenstand und herumalberte.
Doch es war weniger sein Aussehen als vielmehr seine Aura, wegen der sich ihm alle Blicke zuwandten, sobald er einen Raum betrat. Eine Tatsache, die er nach Kräften zu ignorieren versuchte. Nutzlos. Jeder geriet in den Bann von Sams Aura.
Seit ich vor einigen Jahren mit meiner Familie in den Küstenort St. Martin gezogen war, hatte ich mir den Kopf über seine unvergleichliche Ausstrahlung zerbrochen. Als ich Sam zum ersten Mal sah, erschien er mir wie ein Lichtstrahl, so hell, dass alles um ihn herum verblasste. Gleißendhell und wunderschön. Die Welt stand still. Er ging mit einigen Leuten aus seinem Jahrgang über den Schulflur, also eine denkbar unspektakuläre Kulisse für einen solchen Moment. Er tat auch nichts weiter, als einfach an mir vorbeizugehen. Doch ich stand da wie gebannt. Ich konnte anschließend nicht einmal sagen, ob er mich überhaupt bemerkt hatte. Warum auch? Als elfjähriges Mädchen segelte ich schlicht unter dem Radar dieses zwei Jahre älteren Jungen durch, der ohnedies auch noch gut und gern eineinhalb Köpfe größer war als ich.
All dies änderte jedoch nichts daran, dass ich verzaubert war. Wirklich und vollkommen verzaubert. Sam war eine Erscheinung, die ich mit nichts anderem vergleichen konnte. Und das Verrückte daran war, dass ich das keine Sekunde lang in Frage stellte.
Nun ja, ich war damals gerade ausgesprochen empfänglich für alles Wunderbare. Mein Regal voller Bücher über Meerjungfrauen, Elfen und Waldtrolle war der beste Beweis dafür. Außerdem war mein Blick auf die Welt ohnehin anders als der anderer Mädchen meines Alters. Meine Mutter führte das auf meine kreative Ader zurück. Ich konnte Einzelheiten besonders gut erkennen, was mir vor allem beim Malen entgegenkam. Der Haken an der Sache war, dass mir gelegentlich Details so sehr ins Auge stachen, dass ich den Blick fürs Ganze verlor. Manchmal erkannte ich also ein Haus nicht wieder, konnte dafür aber bis ins Kleinste den Türgriff beschreiben. Oder das Gesicht eines Lehrers bestand in meiner Erinnerung nur aus seiner Nase, die konnte ich dafür allerdings blind zeichnen. »Selektive Wahrnehmung« nannte mein Vater das. Klingt nicht besonders schmeichelhaft, es erklärt jedoch zumindest, warum ich jahrelang einzig das helle Strahlen wahrgenommen habe, das Sam umgab, es aber niemals wirklich verstand. Kein anderer Mensch machte je einen solch starken Eindruck auf mich wie Samuel Bristol.
Noch etwas anderes bestätigte meinen Eindruck, dass diesen Jungen etwas Magisches umgab: Mein fast drei Jahre älterer Bruder Rufus war ihm ebenfalls erlegen. Nicht dass Rufus das jemals zugegeben hätte - lieber wäre er tot umgefallen. Mein Bruder gab viel auf Coolness. Mit seiner unnahbaren, oft auch abfälligen Art machte er überall Eindruck. Ich selbst konnte das nie wirklich begreifen. Weshalb war jemand so heiß begehrt, der sich dermaßen abweisend verhielt? Vielleicht lag es daran, dass ich Rufus morgens beim Frühstück gegenübersaß, wenn seine dunklen Locken in alle Himmelsrichtungen abstanden und es ihm kaum gelang, den Löffel mit den Cornflakes gerade in den Mund zu schieben. Jedenfalls war Rufus nicht die Sorte Junge, die es nötig hatte, irgendjemanden anzuhimmeln. Nur bei Sam versagten seine Abwehrsysteme. Um seine Freundschaft bemühte Rufus sich wirklich. Allerdings brauchte er nach unserem Umzug nach St. Martin sage und schreibe schlappe zwei Jahre, um Sam als Freund zu gewinnen.
An dem Nachmittag, an dem ich zum ersten Mal von Rufus’ neuer Freundschaft hörte, saß ich auf meinem Bett, das ich unter das große Fenster geschoben hatte, obwohl mich deshalb morgens das Sonnenlicht kitzelte. Dafür brauchte ich nur vom Kissen aufzublicken und sah in den Garten, den meine Mutter seit unserem Einzug in ein verwildertes Kunstwerk verwandelt hatte. Waldreben und üppige Kletterrosen schlangen sich um Baumstämme und den Zaun, Lavendel bauschte sich silberblau neben Türmen von Lupinen, und jeder Flecken Erde war mit Vergissmeinnicht zugewuchert. Mitten in diesem Urwald blitzte gelegentlich der karottenfarbene Pixischopf meiner Mutter Reza auf.
Wie immer dankte ich dem Schicksal dafür, dass ich ihre Haarfarbe nicht geerbt hatte, sondern das Schokoladenbraun meines Vaters. Zu meiner Hippiemutter passte es, keine Frage. Aber man braucht schon ein unerschütterliches Ego, wenn man über die vielen Witze, die die Leute über rote Haare auf Lager haben, mitlachen und trotzdem aufrecht durchs Leben gehen will. Vielleicht war ich ja irgendwann einmal auch so lässig drauf, aber im Augenblick fand ich es einfach besser, nicht wie ein Feuermelder aus der Masse zu ragen.
Rufus gehörte nicht zu den Leuten, die höflich an die Tür klopften. Er kam einfach rein - holterdipolter -, wie es so seine Art war.
»Na, Schwesterherz, was malst du denn da?«
Zwei Dinge ließen mich aufhorchen: Erstens nannte mein Bruder mich nie »Schwesterherz« - außer er wollte etwas von mir. Und zweitens lag sein Interesse an meinen Malversuchen normalerweise so ziemlich bei null. Er wollte also unbedingt etwas von mir. Demonstrativ blickte ich zum Fenster hinaus und unterdrückte ein Grinsen. Ich würde ihn erst einmal eine Runde an der Angel zappeln lassen, denn mangelnde Beachtung war etwas, das Rufus ganz schlecht vertrug. Da ich allerdings nur selten die Gelegenheit bekam, meinen großen Bruder auflaufen zu lassen, würde ich das hier auf jeden Fall auskosten.
Rufus ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf mein Bett plumpsen und fing an, die Widerstandskraft der Matratze zu testen, indem er darauf auf und ab hüpfte. Unbeirrt ließ ich den Kohlestift weiter über das Papier schaben, nur damit er ein Geräusch machte, als würde ich trotz Rufus’ Sabotageversuchs tapfer weiterzeichnen. Dabei hatte ich den Gedanken an die Skizze von unserer Gartenlaube längst aufgegeben. Ehrlich gesagt, hielt ich es vor Neugierde kaum noch aus. Was konnte Rufus bloß von mir wollen?
»Okay«, gab er schließlich auf. »Ich schlage dir einen Handel vor: Entweder legst du jetzt den Block beiseite, oder ich mache mich auf die Suche nach deinem Tagebuch und werde darin lesen, bis du mit deinem Gekrakel fertig bist.«
»Ich habe gar kein Tagebuch!« Das war eine Lüge und Rufus sah es mir auch sofort an. Zumindest zog er überheblich die Brauen in die Höhe. Ich war einfach eine schlechte Lügnerin. »Schon gut. Also, was willst du von mir?«
Einen Moment lang sonnte sich Rufus im Glanz seines Sieges, dann kniff er mich vor lauter Genugtuung, mich kleingekriegt zu haben, in den großen Zeh. Ohne zu zögern, holte ich mit dem Block aus und traf volle Breitseite seinen Oberarm. Nach einem halben Leben voller Kitzelattacken, Raufereien und gelegentlichem Armdrücken hatte mein großer Bruder immer noch nicht begriffen, dass ich im Vergleich zu ihm zwar nur eine halbe Portion, aber trotzdem alles andere als eine leichte Beute war. Ich war schlicht schneller und viel zielgerichteter als er. Trotzdem sah er mich jedes Mal völlig erstaunt an, wenn ich mich erfolgreich gegen ihn zur Wehr setzte. Als sei er der festen Überzeugung, dass kleine Schwestern aus Prinzip unterlegen sein müssten.
Mit erhobenem Haupt legte ich den Block beiseite und sagte: »Los, raus mit der Sprache. Was willst du von mir?«
Rufus rieb sich immer noch den Arm, obwohl der Schlag keinesfalls wehgetan haben konnte. Es ging wohl eher um seinen verletzten Stolz. Die Sache musste ihm wirklich wichtig sein, denn er schluckte ihn herunter. »Tu mir den Gefallen und ruf bei Julia an. Quatsch ein bisschen mit ihr, und dann erwähnst du ganz nebenbei, dass ich heute nicht zum Muay-Thai-Training gehe, weil ich Dad beim Umräumen seines Büros helfen muss oder so. Denk dir irgendeine passable Ausrede aus, ja?«
Julia, aus dem Jahrgang über mir, war Rufus’ größter Fan und folgte ihm überallhin. In der Regel ignorierte er sie, aber ich hatte den Verdacht, dass sie ihn keineswegs störte, sondern eher seinem Ego schmeichelte. Als wenn das so klein gewesen wäre! Jedenfalls folgte Julia seiner Spur sogar bis zum Muay Thai, lungerte während des Trainings in der Halle rum und wenn Rufus anschließend auf den Bus wartete, klebte sie wie ein Schatten an seiner Seite. Ich wunderte mich schon seit Längerem, dass er nichts dagegen unternahm, denn all seine Kumpels machten sich schon über seine »Klette« lustig.
Mein Vater hatte Rufus den Thaiboxen-Kurs zum sechzehnten Geburtstag geschenkt, in der Hoffnung, dass er sich dort ordentlich auspowern und dadurch insgesamt verträglicher würde. Nach einigem Gemaule war er hingegangen und vollauf begeistert - und unsere gesamte Familie von den Socken, denn mein Bruder spielte zwar gern Basketball oder ging surfen, aber nur, wenn ihm der Sinn danach stand. Zweimal die Woche freiwillig zu einem festen Termin aufzuschlagen und auf einen strengen Trainer zu hören, war so gar nicht Rufus. Vor allem, weil er zum Training den Bus nehmen musste und Busfahren eigentlich komplett unter seiner Würde war. Er lebte auf den Tag hin, an dem er endlich seinen Führerschein in der Tasche hatte.
»Also, bist du nun mein Schwesterherz und rufst Julia an?«, hakte Rufus nach.
»Keine Chance«, erwiderte ich und nahm den Kohlestift erneut zur Hand. »Mit solchen blöden Spielchen will ich nichts zu tun haben. Wenn du Julia nicht um dich herum haben willst, sag ihr das gefälligst persönlich. Dann sieht sie vielleicht endlich mal klar und sucht sich einen Jungen, der sich auch für sie interessiert.«
Es war Rufus deutlich anzusehen, dass er mit sich kämpfte, wie viel er mir erzählen konnte. Aus welchem Grund auch immer, er wollte Julia unbedingt vom Hals haben, wenn er heute zum Muay Thai ging.
»Es ist so«, quälte Rufus mit deutlichem Widerwillen hervor. »Du kennst doch Sam Bristol. Der ist auch beim Boxen und … na ja, wir quatschen da ab und zu. Heute holte er mich sogar ab und nach dem Training stehen wir sicherlich noch zusammen rum, bis der Bus kommt. Wenn Julia dann wieder mit diesem verklärten Blick an mir hängt, ist das reichlich uncool.«
Unwillkürlich klappte mein Kiefer nach unten. Es war Rufus tatsächlich gelungen, Sams Aufmerksamkeit zu erregen! Zuvor hatten sie zwar denselben Jahrgang besucht, aber irgendwie war mein Bruder nie an Sam rangekommen. Die meisten Jungen auf unserer Schule mochten Sam. Nicht etwa wegen seiner ungewöhnlichen Ausstrahlung, sondern, weil er ein guter Kumpel war. Er aber wusste ziemlich genau, wen er mochte und wen er besser auf Distanz hielt. Also musste sich selbst Rufus bei ihm anstrengen.
»Samuel Bristol ist in deinem Muay-Thai-Kurs und er holt dich gleich ab? Wie hast du das denn hinbekommen?«
Rufus grinste selbstgefällig. »Es ist ja kein Geheimnis, dass Sam eine Schwäche fürs Meer hat. Also habe ich ihm ganz nebenbei ein paar Geschichten über unsere Segeltörns erzählt. So Sachen rund ums Segeln und Basteln an der Wilden Vaart, Jungskram eben.«
Ja, dass konnte ich mir gut vorstellen, dass Rufus da einiges zu erzählen hatte. Unser Vater hatte das alte Segelschiff, eine Ewer, kurz nach unserem Umzug nach St. Martin gekauft und seitdem nicht mehr aufgehört, gemeinsam mit Rufus daran herumzubasteln. Das hatte die Wilde Vaart auch dringend nötig gehabt, denn sie war nicht mehr als ein morsches Stück Holz mit zwei Masten gewesen, das sich erstaunlicherweise über Wasser halten konnte. Mittlerweile war sie ein richtiges Schmuckstück, mit einer hölzernen Reling und moosgrünem Rumpf. Aber vor allem machte sie ordentlich Fahrt und damit ihrem Namen alle Ehre. Was manche Familienmitglieder gut fanden, andere dafür weniger … ich zum Beispiel.
»Wenn man Sam Storys erzählt, in denen von Geschwindigkeit und dem Meer die Rede ist, hat man seine volle Aufmerksamkeit.«
Ich verzog das Gesicht, als mir klar wurde, dass Sam in dieser Hinsicht vollkommen anders tickte als ich. Wasser in Kombination mit Tempo war so gar nicht meins. Rufus nahm auf solche Feinheiten allerdings wenig Rücksicht. »Jedenfalls kam das alles wohl ziemlich gut an bei ihm, seitdem quatschen wir immer miteinander. Und wenn er mich heute abholt, will ich einfach nicht, dass Julia mir alles versaut.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. Das war eine fiese Nummer, keine Frage. Aber hier ging es um Sam. Als es später an unserer Haustür klingelte, blieb ich allerdings vor lauter schlechtem Gewissen in unserer Wohnküche sitzen. Nicht nur, weil ich Julia am Telefon eine Lügengeschichte erzählt hatte, sondern auch, weil ich mir plötzlich wie ihre Zwillingsschwester vorkam. Einen Jungen aus der Ferne anzuhimmeln, war die eine Sache. Sich seinetwegen zu erniedrigen, eine ganz andere. Ich wollte keine erduldete »Klette« sein, indem ich mir Rufus’ Freundschaft zunutze machte - ganz egal, wie sehr Sam mich anzog.
Dafür gelang es meiner Mutter, einen Blick auf unseren Besucher zu werfen, als sie ihm die Tür öffnete - wenn auch nur einen ganz kurzen. Denn Rufus stürzte bereits wie ein Irrer die Treppe hinunter, um seinen neuen Freund so schnell wie möglich abzufangen. Bevor meine Mutter auf die Idee kommen konnte, Sam reinzubitten, schlug Rufus auch schon die Eingangstür hinter sich zu. Ich bekam nicht mal Sams Stimme zu hören. Eigentlich hatte ich im Stillen gehofft, dass Rufus ein bisschen auf sich warten lassen würde. Als Reza mein enttäuschtes Gesicht sah, schenkte sie mir ein spitzbübisches Lächeln, bei dem sich die Fältchen um ihre Augen vertieften und das sie sehr nett aussehen ließ.
»Das war also der berühmte Sääääm. Nicht viel dran an dem Jungen, der sollte mal ordentlich bemuttert werden.« Kaum waren die Worte draußen, biss sie sich auf die Unterlippe.
An diesem Nachmittag dachte ich einfach, dass sie es für ebenso unpassend wie ich hielt, Witze über Sam und seinen altmodischen Namen zu machen. Samuel - der von Gott Erbetene. Das erbetene Kind. Auf die Idee, dass der mitleidige Ausdruck in ihrem Gesicht mit etwas anderem zu tun haben könnte, kam ich nicht. Es brauchte deutlichere Worte, bis ich verstand, dass Sams Leben nicht halb so strahlend war wie die Aura, die ihn umgab. Ehrlich gesagt, konnte ich es selbst dann noch kaum begreifen, als mein Vater es am Abend ziemlich deutlich auf den Punkt brachte.
Mein Vater war einfach wundervoll, in so ziemlich jeder Hinsicht. Ein richtiger Baum, tief verwurzelt in der Erde, dem weder Unwetter noch Trockenheit etwas anhaben konnten. Er war Segler mit Leib und Seele - einer der Hauptgründe, warum wir nach St. Martin gezogen waren, obwohl es eine etwas dröge Kleinstadt war. Gut, sein Job als Meeresbiologe an der kleinen ortsansässigen Uni hatte sicherlich auch etwas damit zu tun. Seine Leidenschaft für das Meer sah man Daniel jedenfalls an: Er war kräftig gebaut, stets braun gebrannt und obwohl ihm von seiner einstigen Lockenpracht lediglich ein Silberkranz geblieben war, sah er trotz seiner fünfzig Jahre gut aus.
Während beim Abendessen der Brotkorb herumgereicht wurde, erzählte Rufus vom Thaiboxen-Training, von dem er recht spät zurückgekommen war. Schließlich erwähnte er nebenbei, dass er sich für Samstagabend mit Sam und noch ein paar anderen Jungen aus ihrem Jahrgang verabredet hatte. »Kein großes Ding, nur Rumhängen, Filme gucken. Wir wollen anschließend nicht einmal losziehen.«
Meine Eltern und ich blickten gleichzeitig auf. Ich, weil Sams Name gefallen war, und meine Eltern, weil Rufus freiwillig an einem Wochenende nicht groß ausgehen wollte. Eigentlich sah er in den letzten Monaten nämlich eher zu, dass er die Abende auf Partys verbrachte, wo es ordentlich zur Sache ging - wenn man dem Schultratsch Glauben schenken durfte.
Mein Vater räusperte sich. »Du willst dich tatsächlich mit Jonas Bristols Jungen treffen? Hältst du das für eine gute Idee?«
Rufus wurde schlagartig rot im Gesicht, doch noch schneller setzte er eine trotzige Miene auf. »Was hat denn Sams Vater damit zu tun, dass wir uns zum Filmgucken bei Luca treffen?«
»Ganz einfach: Ich kenne Jonas Bristol vom Hafen, er arbeitet dort gelegentlich. Du bist ihm dort doch auch schon über den Weg gelaufen, oder?«
Bei dieser Anspielung schluckte Rufus deutlich, als wäre die Erinnerung alles andere als angenehm.
»Jonas Bristol ist ein Säufer und ein Schläger«, fuhr mein Vater fort, »wobei ich nicht sagen kann, welche dieser beiden Unarten bei ihm ausgeprägter ist. Es ist fast so, als würde er nur darauf warten, dass ihm endlich mal einer begegnet, der nicht nur stärker ist als er, sondern auch noch rücksichtsloser. Ich würde es diesem Mistkerl fast wünschen.«
Rufus gab ein wütendes Schnaufen von sich. »Und was kann Sam dafür, dass sein Vater so ein mieser Penner ist? Er wohnt ja nicht einmal mehr bei ihm, sondern bei seiner älteren Schwester Sina.«
Ich begriff kaum, worüber die beiden sprachen, obwohl mir auch schon die eine oder andere Geschichte über diesen gewalttätigen Menschen namens Jonas Bristol zu Ohren gekommen war. Es hieß, seine Frau hätte sich mitten in der Nacht davongemacht, während er seinen Rausch ausschlief. Grün und blau geschlagen hätte er sie. Sie wäre im Nachthemd weggelaufen, jemand hatte sie an der Bushaltestelle gesehen. Ihre kleinen Kinder hätte sie zurücklassen müssen, ansonsten wäre sie wohl nicht einmal bis zur Bushaltestelle gekommen. Eine durch und durch hässliche Geschichte. Wie sollte die mit meinem strahlenden Sam zusammengehen, außer dass die Nachnamen übereinstimmten? Die Worte rauschten an mir vorbei, weil sie so unglaublich waren. Aber mir entging nicht die Anspannung, unter der mein Dad stand, und auch nicht, dass Rufus die Tischkante hielt, als wolle er sie in zwei Teile brechen.
»Der Junge mag zwar von zu Hause weg sein, aber das ändert nichts an dem, was Bristol regelmäßig mit ihm anstellt, wenn er ihn in die Finger bekommt. In der ganzen Stadt redet man darüber, und da du mit Sam zusammen Sport machst, dürften dir seine blauen Flecken ja wohl kaum entgangen sein.«
»Darüber reden wir nicht, dass ist Sams Privatsache«, hielt Rufus dagegen. Aber ich konnte es ihm ansehen, dass er trotzdem darüber nachgedacht hatte.
Obwohl mich die aufgeladene Stimmung einschüchterte, konnte ich mich nicht länger zurückhalten. »Was tut Sams Vater denn mit ihm?«
Mein Vater warf mir einen Blick zu, als hätte er ganz vergessen, dass ich ebenfalls mit am Tisch saß. Vermutlich hatte er das tatsächlich, ansonsten hätte er das Thema vor seiner knapp vierzehnjährigen Tochter wohl vermieden, die in letzter Zeit dank ihrer pubertären Hormonwallungen ohnehin zu dicht am Wasser gebaut hatte. Mich brachte schon der bloße Gedanke, dass unsere Katze Pingpong eines Tages sterben musste, aus der Fassung. Dabei hatten wir Pingpong gerade erst als Kätzchen aus dem Tierheim geholt.
Mit einem Schlag war der Ärger meines Vaters wie fortgewischt und er setzte stockend zu einem »Nun ja …« an. Weiter kam er jedoch nicht.
Meine Mutter, die die Auseinandersetzung mit besorgter Miene verfolgt hatte, kam ihm zu Hilfe. »Jonas Bristol schlägt Sam. Im letzten Frühjahr hat sich endlich das Jugendamt eingemischt, weil Sam mit einer Schnittwunde am Arm operiert werden musste. Obwohl ›Schnittwunde‹ wohl kaum das richtige Wort für das ist, was Bristol mit ihm angestellt hat. Er hat ihm mit dem Messer in den Unterarm geschnitten. Irgendwelche Zeichen.«
Ich kannte die rot leuchtenden Schnitte nur vom Hörensagen, denn seitdem trug Sam selbst im Hochsommer lange Ärmel. Alle hatten es für eine Art missglückte Mutprobe gehalten, etwas, das Jungen taten, wenn sie am Samstagabend zu viel Bier getrunken hatten und ihnen langweilig war.
Augenblicklich nahm der Druck hinter meinen Augen zu, aber ich weigerte mich, den Tränen freien Lauf zu lassen. Wenn ich mich gehen ließ, würde meine Mutter das Thema wechseln, und ich wollte das hören.
Glücklicherweise tauschte sie gerade einen Blick mit meinem Vater aus, dem es offensichtlich gar nicht gefiel, dass sie solche unschönen Dinge erzählte. Abwägend legte Reza den Kopf zur Seite, dann sagte sie: »Soviel ich gehört habe, ist die Krankenakte des Jungen unglaublich dick. Alles Unfälle, wie Sam nicht müde wird zu betonen. Aber nach dieser Angelegenheit wollte das niemand mehr hören. Gott sei Dank.«
Meine Mutter gehörte zu der Sorte Mensch, die Gesellschaft liebte. Da sie sich außerdem als Künstlerin verstand, verband sie das Nützliche mit dem Angenehmen und gab Kreativkurse für Kinder im Haus der Jugend. Da konnte sie sich hervorragend mit anderen Eltern unterhalten oder auch mit den Mitarbeitern des Jugendamtes, die vermutlich froh waren, wenn sie sich einmal ihre Sorgen von der Seele reden konnten.
»Sams Vater tut ihm weh … so sehr, dass er ins Krankenhaus musste?« Meine eigene Stimme dröhnte mir fremd in den Ohren. Mein Vater lehnte sich über den Tisch und legte mir eine Hand auf die Schulter. Sie war tröstend schwer, trotzdem schüttelte ich sie ab. »Sam wird geschlagen?«
Ich konnte es kaum glauben. Natürlich kannte ich auch die Narbe neben seinem linken Auge, die wie ein silberner Halbmond aussah, wenn man lang genug hinsah. Ebenso hatte ich die Platzwunde am Kinn und die oft bandagierten Handgelenke gesehen. Aber Sam war halt ein Junge und denen passierte doch ständig etwas. Sie bekamen Bälle ins Gesicht, prügelten sich halb im Scherz oder fielen auf die Nase, weil sie vor lauter Lässigkeit nicht wussten, wo sie hintraten. Bei Rufus war es schließlich das Gleiche - kein Sommer ohne Gipsbein, lautete seine Devise.
Doch plötzlich sah alles anders aus, und mit einem Schlag fielen mir die ganzen Andeutungen über Sams Verletzungen ein. Die gesenkten Blicke der Lehrer, wenn er über den Schulflur humpelte, und das Getuschel der älteren Mädchen, wenn sein Hinterkopf wegen einer genähten Wunde geschoren worden war. Obwohl ich auf nichts so sehr achtete wie auf diesen Jungen, hatte ich das alles nie begriffen. In meinen Augen war Sam einfach niemand, dem echtes Leid geschehen konnte. Jemand, der so strahlte, dem konnte doch keiner etwas anhaben … oder doch?
Mein Vater, der sich nicht so leicht abweisen ließ, legte erneut seine Hand auf meine Schulter. Dieses Mal wehrte ich mich nicht gegen den Trost, widerstand allerdings dem Bedürfnis, mich in seine Arme zu schmiegen. Zu sehr ärgerte ich mich über meine eigene Blindheit. Was war ich nur für ein wohlbehütetes Schaf!
»Eigentlich ist ja nun auch alles gut, zumindest fast. Wenn man einmal von den gelegentlichen Zusammenstößen zwischen Bristol und seinem Sohn absieht. Aber damit ist es in der letzten Zeit wohl vorbei. Bristol braucht seinen Hafenarbeiterjob, um seine Schulden zu bezahlen, wie man so hört. Da kann er keinen Ärger mit der Polizei gebrauchen. Außerdem ist Sam mittlerweile ein ganz schön großer Kerl geworden.« Mein Vater brachte ein Lächeln zustande, das wohl aufmunternd wirken sollte. Ich hätte ihm gern den Gefallen getan und es erwidert, aber es gelang mir einfach nicht.
»Seit der Angelegenheit mit den Schnitten lebt Sam bei der Familie seiner älteren Schwester. Eine ordentliche Wohnung, zwei kleine Kinder und die Eltern haben beide Jobs«, ergänzte meine Mutter, die sich mit Familiengeschichten stets bestens auskannte. »Außerdem ist Sam gut in der Schule, zeigt keine Verhaltensauffälligkeiten und er benimmt sich besser als die meisten aus seinem Jahrgang. Er ist ein guter Junge, dem man eine Chance geben sollte. Oder siehst du das etwa anders, Daniel?«
Mein Vater zog wie ertappt die Augenbrauen in die Höhe und einen Moment lang glaubte ich, er würde eine witzige Bemerkung machen, um das Thema zu beenden. Doch stattdessen sah er meine Mutter ernst an. »Vermutlich hast du recht. Er scheint Rufus ja auch ganz gutzutun. Ich würde auch nichts sagen, wenn Sam es manchmal nicht regelrecht darauf anlegen würde, seinem Vater in die Hände zu fallen. Oder warum treibt er sich ansonsten nachts am Hafen rum, wo die ganzen Säufer beisammensitzen, nachdem die Spelunke geschlossen hat? Irgendwann wird das schiefgehen.«
Obwohl ihm darauf niemand eine Antwort gab, lenkte mein Vater schließlich ein. Zu meinem Leidwesen bekam ich Sam allerdings nicht etwa häufiger zu sehen, nur weil mein Bruder sich innerhalb kürzester Zeit zu seinem engsten Kumpel mauserte. Er hatte einfach zu wenig Zeit, um häufig mit seinen Freunden abzuhängen. Er hatte einen Job an der Tankstelle, gab außerdem Nachhilfestunden und die Familie seiner Schwester hielt ihn zweifelsohne auch auf Trab.
Glücklicherweise bekam ich über Rufus einiges mit. Er redete einfach zu gern über Sam, vor allem, wenn wir gemeinsam Zeit totschlugen. Dann lümmelte Rufus auf dem Sofa, starrte auf den tonlos flimmernden Bildschirm, während ich die schnurrende Pingpong kraulte, und begann über seine Clique zu quatschen.
»Chris redet die ganze Zeit nur noch von dieser Splat-Gun-Nummer, die sein Cousin und ein paar andere Leute abziehen wollen. Du weißt schon: Mit Tarnkleidung durch den Wald, so Kriegsspielchen eben.«
Obwohl Rufus keine Miene verzog, war mir klar, dass ihm die Idee gefiel. Ich liebte meinen Bruder, aber er war in mancher Hinsicht ein Idiot. »Und da willst du mitmachen«, stellte ich trocken fest. »Mama verfällt in einen Blutrausch, wenn sie das erfährt.«
Ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, zog Rufus eine seiner Locken lang und versuchte, ihr Ende zwischen Nase und Oberlippe einzuklemmen. Wie schon unzählige Male zuvor wunderte ich mich darüber, was die ganzen Mädels nur in ihm sahen. Kaum, dass er die Locke losgelassen hatte, zurrte sie nach oben und verschwand in seinem Haarwust. Auch wenn es mir schwerfiel, es zuzugeben, ich bewunderte Rufus für seine Haare. Farblich lagen wir zwar gleichauf, aber meine hingen schnurgerade herunter. Obwohl ich meinen Pferdeschwanz mit jedem Tag langweiliger fand, konnte ich mich einfach nicht dazu durchringen, etwas Neues auszuprobieren. Vermutlich hatten mich die Farb- und Schnittexperimente meiner besten Freundin Lena zu sehr geschockt. Seit ein paar Wochen trug sie ein asymmetrisches Etwas auf dem Kopf und ich hatte mich immer noch nicht getraut zu fragen, ob beim Friseur vielleicht etwas schiefgegangen war.
»Also, machst du mit bei dieser Splat-Gun-Sache?«, hakte ich nach, weil Rufus’ Aufmerksamkeit zunehmend einer sich auf einer Motorhaube windenden Sängerin galt. »Willst du andere Kerle mit Farbe bespritzen und dabei ›peng, peng‹ machen?«
»Seh ich etwa so aus? Außerdem muss Sam an diesem Nachmittag auf der Tankstelle einspringen, da ist es doch meine Pflicht, ihn zu unterhalten. Sonst hat ja keiner Zeit: Luca muss mit zu seinen Großeltern, um den Garten klarzumachen, und Chris will eben Guerilla spielen. Ist doch Mist, wenn Sam an einem Samstag allein rumhängen muss, obwohl bloß alle Jubeljahre mal einer vorbeikommt, der Benzin will. Na ja, ist doch auch echt Kinderkacke, im Wald Dosenbier zu trinken und mit Farbpatronen rumzuballern.«
Rufus kaute auf seiner Unterlippe herum und ich brummte zustimmend, wohl wissend, dass er gerade Sams Meinung als seine eigene ausgegeben hatte. Der hatte also von Anfang an nicht mitmachen wollen. Vermutlich hatte mein Bruder Chris schon begeistert zugesagt, bevor er Sams Meinung zu diesem Thema gehört hatte. Wie gut, dass Sam arbeiten musste und Rufus dadurch eine Ausrede verschaffte, mit der er seinen plötzlichen Sinneswandel erklären konnte, ohne sein Gesicht vor Chris zu verlieren.
»Ich wollte Dad mal fragen, ob er Sam nicht sein Mountainbike ausleiht, damit wir nach seiner Schicht noch an der Küste entlangfahren können. Wenn die anderen dabei sind, geht so was immer nicht. Sam meint, hinter der Promenade gibt es einen Weg, der an der Steilküste entlangführt. Von da oben hätte man eine irre Aussicht. Man könnte ein Lagerfeuer machen und dann einfach dasitzen und aufs Meer schauen. Die Idee gefällt mir, ist doch viel besser als Farbe in den Haaren.«
Was Rufus erzählte, überraschte mich nicht weiter. Sam liebte das Meer, außerdem war er kaum der Typ, der Interesse an Jungenspielen hatte, die sich um Alkohol und Wut drehten. So gut kannte ich ihn mittlerweile, ohne jemals ein Wort mit ihm gewechselt zu haben, das über »Hallo Sam, Rufus kommt gleich« hinausging.
Das änderte jedoch nichts daran, dass es mich allmählich in den Wahnsinn trieb, dass er mich nicht beachtete. Zumindest nicht auf die Art, wie ich es mittlerweile wollte. Seit mein Bruder sich mit ihm angefreundet hatte, hatte sich mein Bild von Sam verändert. Bislang hatte es einen Stern gezeigt, so hell strahlend, dass nichts anderes mehr zu erkennen war. Nun färbte sich das Bild pinkrot ein, die Farbe der verliebten Mädchen. Ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel.
Dieser Sam-Zauber, dem ich mit elf Jahren so vollständig erlegen war, war rein und voller kindlicher Begeisterung fürs Wunderbare gewesen. Nicht, dass er mit einem Schlag verschwunden war. So war es nicht. Ich ertappte mich nur plötzlich dabei, wie ich an Sams weich geschwungene Oberlippe dachte und an die Art, wie er beim Lachen immer leicht den Kopf senkte. All das löste ein regelrechtes Feuerwerk in mir aus, und dieses erregende Gefühl, das nichts anderes als Verliebtheit war, traf mich ziemlich unvorbereitet. Es öffnete mir eine völlig neue Welt, die ich mit Neugier, aber auch mit Angst sah. Ich versuchte zuerst, dieses Prickeln möglichst umgehend wieder loszuwerden - ein ziemlich nutzloser Versuch. Dann, es zu ignorieren, denn ich wollte unbedingt meinen strahlenden Sam zurückhaben. Irgendwann gestand ich mir dann ein, dass Sam nicht minder strahlte, wenn ich mir vorstellte, wie sich seine Lippen auf meinen anfühlen mochten. Außerdem war es schön, von ihm zu träumen. So war er mir nah und fern zugleich.
Dieser Sicherheitsabstand, der dafür sorgte, dass ich trotz meiner doppelt gelagerten Faszination für Samuel Bristol ein recht ausgeglichenes Leben führte, löste sich jedoch einige Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag schlagartig in Luft auf. Und das war Sams Schuld.