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Leitsterne

Mila

Der Dienstag gehörte in diesem Schuljahr zu meinen Lieblingswochentagen, weil er bereits nach dem Mittagessen endete. Eigentlich hätte Handball auf dem Programm gestanden, doch unsere schwangere Sportlehrerin hatte sich vorzeitig in den Mutterschaftsurlaub verabschiedet. Kein Wunder bei den harten Würfen, die einige von unseren Mädchen draufhatten. Da würde ich mich auch nicht mit meinem Babybauch an die Seitenlinie stellen wollen. Seither hatten Lena und ich den Dienstag zu »unserem« Nachmittag erkoren: plaudern auf meinem Bett mit Blick auf den Garten (dem man besser nicht zu nah kam, wenn man keine Lust auf Gartenarbeit verspürte), Fahrradausflüge mit Naschkram und Fotoapparat an der Küste entlang, oder einfach Shoppen, so wie an diesem Dienstag.

Im Gegensatz zu mir liebte Lena Einkaufspassagen. In ihren Augen waren das schillernde Orte, die man begeisterte Laute ausstoßend durchwanderte und wo man auf alles Mögliche mit dem Finger zeigte. Das konnten Ständer mit Modeschmuck, geringelte Socken, ein Regal voller Teesorten und eindeutig zu teure Unterwäsche sein - sprich: einfach alles, was in den Läden auslag. Glücklicherweise verspürte sie nicht den Drang, auch noch stehen zu bleiben und jedes einzelne Schmuckstück in die Hand zu nehmen. Ansonsten wäre ich wohl auch nicht mehr lange ihre Freundin geblieben. Ich fühlte mich in diesen Passagen nämlich eher unwohl und wartete bloß darauf, dass sie fertig war und wir uns in das einzige annehmbare Café in dieser Gegend absetzten.

Dabei ging ich eigentlich ganz gern einkaufen, allerdings nur dann, wenn ich ein bestimmtes Ziel im Kopf hatte. Wenn ich einen neuen Rock brauchte, schaute ich bei den Ständen an der Strandpromenade vorbei. Für einen Bilderrahmen ging ich auf den Flohmarkt am Hafen. Und Geburtstagsgeschenke besorgte ich am liebsten bei Soshanna, einer Freundin meiner Mutter, die den unglaublichsten Einrichtungsladen aller Zeiten besaß. Da fand man keinen Fabrikkram wie in den Einkaufspassagen, sondern Sachen aus aller Welt. Neben Sesseln, die aussahen wie Blätter und auf irgendwelchen Kunstausstellungen gestanden hatten, gab es da auch aus Perlensträngen geflochtene Lesezeichen, die sogar ich bezahlen konnte. Lena hingegen sah sich Dinge einfach nur gern an und je mehr es davon gab, um so besser.

»Willst du wirklich wieder Erdbeer-Roibusch-Tee bestellen?«, fragte Lena, als wir endlich in unserem Lieblingscafé saßen. »Dieses Café ist berühmt für seine Tee-Auswahl, aber du bestellst immer nur das Gleiche.«

»Ich finde das ja auch etwas langweilig von mir, aber nachdem du mich zwei Stunden durch die Gegend gezerrt hast, will ich keine Überraschung. Für Russischen Rauchtee oder so habe ich heute einfach nicht die Nerven.«

»Okay, einmal Langeweile für dich, und ich nehme …« Ihr Finger glitt erneut über die lange Liste von Teesorten. Das konnte dauern. Während ich mich in dem nur mäßig besuchten Café mit den dunklen Holzwänden umsah, wanderten meine Gedanken wieder zu Sam. Am letzten Sonntag war so viel passiert und ich konnte gar nicht anders, als es immer wieder vor meinen Augen Revue passieren zu lassen. Alles war so überraschend und verwirrend gewesen, aber auf eine gute Art.

»Lass mich raten, worüber du gerade nachdenkst«, riss eine grinsende Lena mich aus meiner Selbstversunkenheit. Ich kratzte mich verlegen am Nacken und war froh, als die Kellnerin auftauchte, um unsere Bestellung aufzunehmen.

»Wo waren wir noch mal stehen geblieben?« Lena holte ein karamellfarbenes Lipgloss aus der Einkaufstasche und hielt es mir zum Schnuppern hin.

»Riecht lecker, als wäre es was zum Essen.«

»Eigentlich eine spießige Farbe.«

Ich schüttelte entschieden den Kopf. Ein Hauch von Spießigkeit würde Lena mit ihrem schrillen Aussehen guttun. Vielleicht würde es sie sogar dazu inspirieren, die grünen Strähnen in ihrem Haar wieder zu überfärben. Ich mochte ihre Punk-Anleihen zwar, aber Grün auf Hennarot? Das war sogar mir zuviel.

»Na, gut. Ich kann das Lipgloss ja ein paar Mal tragen, auch wenn ich damit bestimmt komisch angeguckt werde. Ist schon ein Bruch in meinem Outfit. Aber eigentlich meinte ich mit ›stehen geblieben‹ ein anderes Thema. Sam wollte dich am Sonntagabend doch noch anrufen. Hat er es gemacht?«

Augenblicklich schoss mir das Blut in die Wangen. Ich presste meine Handrücken auf die brennenden Stellen, was den verlegenen Eindruck, den ich machte, sicher noch verstärkte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, heute nicht über Sam zu sprechen. Schließlich hatte ich Lena schon am Sonntag gleich nach Sams Besuch damit heimgesucht und wollte das nicht auch noch an unserem gemeinsamen Nachmittag fortsetzen. Dabei hatte ich nicht bedacht, dass Lena zum einen eine richtig tolle Freundin und entsprechend sensibel war, und zum anderen vermutlich selbst ein wenig aus dem Häuschen war. Nach all den Jahren, in denen sie meine stille Schwärmerei life mitbekommen hatte, konnte auch sie es kaum glauben, dass Sam nicht nur meine Existenz bemerkt, sondern im Garten mit mir Händchen gehalten und mich mit einem Blick angesehen hatte, als würde er gleich die Beherrschung verlieren und mich leidenschaftlich küssen wollen. Und das alles nur drei Tage, nachdem er mich zum ersten Mal angesprochen hatte!

Die Kellnerin brachte unsere Bestellung und ich kippte mir erst einmal den halben Zuckerbecher in den Tee. Lenas Braue schoss wieder nach oben, aber sie verkniff sich jeglichen Kommentar.

»Sam hat tatsächlich angerufen, nur bekomme ich kaum noch zusammen, worüber wir gesprochen haben. Ich war den ganzen Tag völlig durch den Wind. Während des Telefonats kam ich mir vor wie auf Autopilot, aber dafür hat es ganz gut funktioniert. Wir haben, glaube ich, über ganz normale Dinge gesprochen: ob es Sinn macht, an der Schul-Verschönerungs-Aktion teilzunehmen, und in welchen Fächern wir gut sind und in welchen mies. Wenn ich mich nicht täusche, haben wir ziemlich oft gelacht und nicht einmal hat sich so ein unangenehmes Schweigen aufgetan.«

Lena nickte verständig. »Hat er versucht, sich mit dir zu verabreden? Oder ganz nebenbei von irgendeinem Kinofilm gesprochen, den er sich demnächst unbedingt ansehen muss? Einen, den du vielleicht auch sehen willst?«

Ich kramte in meiner Erinnerung, während sich der Zucker im Tee an meine Magenwände heftete und sie zusammenzog. »Nein«, brachte ich schließlich leise hervor. »Er meinte nur, dass er bis morgen mit seinem Bio-Kurs auf Exkursion sei. Ein richtiger Ausflug in die Wildnis, mit Zelten und allem drum und dran. Es sollte um … ich hab vergessen, worum es gehen sollte.« Mit einem Schlag fühlte ich mich elend. »Ist das jetzt ein schlechtes Zeichen?«, fragte ich Lena, die instinktiv nach meiner Hand griff.

»Nein, ganz bestimmt nicht. Ich denke, das ist sogar ganz gut so, nachdem Sam dermaßen in die Vollen gegangen ist. Knutschversuche beim ersten Date, o làlà.« Das war ironisch gemeint und somit typisch Lena. Damit wollte sie mir bloß wieder unter die Nase reiben, für was für ein Unschuldslämmchen sie mich hielt. »Wie ich Sam einschätze, wären seine Lippen eh nicht lange auf deinem Mund geblieben, sondern ganz fix auch woandershin gewandert. Der Junge weiß, was er will. Gut, dass dein Bruder dich gerettet hat, sonst müsste ich mir jetzt wahrscheinlich Geschichten über wilde Sachen anhören, die man auf einer Parkbank treiben kann. Das hast du übrigens alles deinem neuen Haarschnitt zu verdanken, wenn du mich fragst. Dadurch hat er dich das erste Mal als Frau und nicht als kleine Schwester wahrgenommen.«

Die Anspielung, dass Sam mich plötzlich als Frau sah, machte das mulmige Gefühl in meinem Bauch keineswegs besser. Sofort dachte ich an den Ausdruck auf seinem Gesicht, als ich so begeistert darauf reagiert hatte, dass er vielleicht in St. Martin zum Studieren bleiben würde. Leidenschaftlich, aber gleichzeitig auch sehr ernst, ohne eine Spur von Verspieltheit. Es verwirrte mich noch immer, dass er quasi von heute auf morgen als realer Junge in mein Leben getreten war, der sich nicht nur mit mir unterhielt und verabredete, sondern auch ein ziemlich eindeutiges Interesse an mir an den Tag legte. »Ich bin noch keine Frau«, antwortete ich Lena deshalb auch.

Leider vergaß Lena in diesem Moment ihre sensible Seite: »Ja, aber wenn Sam weiter so vorprescht, wird sich das schon sehr bald ändern. Allerspätestens bei eurem nächsten Treffen, würde ich mal tippen.« Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Tut mir leid, das war jetzt daneben. Du gehst nur alles, was Sam betrifft, mit so einem heiligen Ernst an. Das fordert manchmal den kleinen Teufel in mir heraus.«

Lenas spröder Humor hatte mir schon oft geholfen, Sam nicht bloß in einem alles überstrahlenden Licht zu sehen, sondern auch als Menschen. Aber jetzt brachten mich ihre Sprüche nicht weiter. Die Art, wie Sam mich angesehen hatte, hatte mir heiße Schauer über den ganzen Körper gejagt und mir gleichzeitig Angst gemacht. Nicht vor seiner Berührung, sondern vor der Intensität seines Verlangens. Da fühlte ich mich unterlegen. Ich fürchtete, wenn er die Beherrschung verlor, würde er über mich hinwegspülen wie eine Flutwelle.

»Sam war eben immer wie ein ferner Stern für mich, weit weg und wunderschön. Jahrelang war das wie ein Naturgesetz für mich. Und plötzlich - peng - ist alles anders. Ich steige überhaupt nicht mehr durch im Moment!«

Erschöpft ließ ich mich in den Sessel zurücksinken, froh darüber, dass er Lehnen hatte, auf die ich meine viel zu schweren Arme betten konnte. Lena hatte mir aufmerksam zugehört und ließ sich nun Zeit, bevor sie mir antwortete. Sie nahm einen Schluck von meinem Tee, weil ihrer mittlerweile ausgetrunken war, verzog wegen des Zuckergehalts das Gesicht und musterte mich ausführlich.

»Sagen wir es mal so: Es wäre doch ziemlich überraschend gewesen, wenn du den Übergang von Sam am fernen Himmel zu Sam, der neben dir auf der Gartenbank sitzt und dich küssen will, mühelos hinbekommen hättest. Ich denke, den meisten auf unserer Schule wird es nicht besser gehen, wenn er plötzlich mit dir als Freundin aufkreuzt.«

»Noch so ein Punkt«, hakte ich ein. »Sam hatte doch noch nie eine feste Freundin. Bestenfalls Partyflirts, wie man so hört. Vielleicht bilde ich mir ja bloß ein, dass er Interesse an mir hat, weil ich überhaupt nicht klar denken kann in seiner Nähe.«

Lena machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du bist zwar ziemlich gut darin, alles Mögliche in die Dinge hineinzuinterpretieren, aber das bedeutet noch lange nicht, dass du dir da irgendetwas einbildest. Wenn du gespürt hast, dass Sam dich küssen wollte, dann wollte er das auch. Die entscheidende Frage ist aber: Was will er noch? Und was willst du?«

»Alles, was bisher mit Sam passiert ist, hat sich so gut und richtig angefühlt. Trotzdem würde ich ihn gern erst einmal besser kennenlernen, bevor es ernst wird mit uns. Wusstest du, dass er auch keine Pizza mag, die im Käse ertrinkt?«

Lena schüttelte den Kopf. »Nein, wusste ich nicht. Aber das sagt wirklich viel über seine Persönlichkeit aus. Damit hast du mich endgültig überzeugt, dass ihr als Paar für die Ewigkeit gemacht seid.«

Zuerst wollte ich beleidigt eine Schnute ziehen, doch dann stimmte ich in Lenas Lachen mit ein. Es war befreiend, die Angelegenheit nicht ganz so ernst zu nehmen. Danach gab Lena noch eine Runde Ingwertee aus und wir sprachen über tausend andere Sachen, ehe wir uns auf den Nachhauseweg machten. Draußen bei unseren Fahrrädern horchte ich einen Moment lang in mich hinein. Zwar war das nervöse Flattern, das sich in den letzten Tagen in meinem Magen breitgemacht hatte, noch da, aber damit konnte ich jetzt umgehen. Ich würde einfach meine Zeit brauchen, um aus dem Gefühlswirrwarr schlau zu werden.

Ich lehnte mich über den Sattel meines Fahrrads hinweg, schlang meine Arme um Lena und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke, du kleines Teufelchen.«

Automatisch versteifte sich Lena am ganzen Körper - sie kam mit zur Schau getragener Zuneigung nie sonderlich gut zurecht -, dann drückte sie mich kurz zurück. »Jederzeit wieder«, sagte sie und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.

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