7
Schattenspiele
In seinen Träumen schwebte er über dem tiefsten Meeresgrund, wie ein weit ausgebreitetes Fangnetz. Immer wieder verfing sich ein Schlafender in ihm, doch es gab so gut wie nie einen Grund, die Beute festzuhalten. Ohne jede Neugierde betrachtete er sie einen Moment lang, dann ließ er sie wieder zurück ins dunkle Wasser fallen. Diese träumenden Menschen konnten ihm keinen Weg in die Freiheit weisen, dazu brauchte es mehr. Eine Pforte, einen Riss in der Wirklichkeit, durch den er schlüpfen konnte. Sehnsüchtig dachte er an die Pforte, die zu erschaffen ihn so viel Kraft gekostet hatte. Zu seinem Entsetzen war sie unvollendet geblieben. Sie ähnelte einem feinen Schimmern, das durch die schwarzen Meeresfluten in die Tiefe zu ihm hinabdrang, um sogleich wieder von der Strömung davongetragen zu werden. Immer wieder tastete er nach dieser unpassierbaren Pforte, sich selbst für die unsinnige Hoffnung, dass jemand sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit öffnen würde, verachtend. Und doch … es fehlte doch nur so wenig, damit er durch sie hindurchströmen und die Macht wieder an sich reißen könnte.
Der Donnerstagvormittag zog sich zäh in die Länge. Unserem Geografielehrer Peter - er bestand darauf, geduzt zu werden - gelang es nur leidlich, meine Aufmerksamkeit zu erregen, obwohl es um das Thema »Natürliche Ressourcen in Afrika« ging, insbesondere um die Gründe, warum es diesem Kontinent so schwerfällt, seine Bodenschätze in Wohlstand zu verwandeln. Eigentlich hatte mich meine sozial engagierte Mutter für dieses Thema empfänglich gemacht. Oder vielmehr mein Bruder, der eine komplett andere Meinung vertrat und sich mit meiner Mutter regelrechte Wortduelle dazu lieferte.
»Das ist doch bloß Laberei«, hatte Rufus erst kürzlich die Rede meiner Mutter über das Machtgefüge in Somalia ausgebremst. »Alles schön zusammengelesen, aber nur weil man über etwas Bescheid weiß, trägt man noch lange nichts dazu bei, eine Situation zu ändern.«
Wenn meine Mutter dieser Schlag unter die Gürtellinie verletzte, so hatte sie sich zumindest nichts anmerken lassen. Schließlich plädierte sie stets dafür, dass jeder ein Recht auf seine eigene Meinung habe. »Du meinst also, dass du mit deinem offen kundgetanen Desinteresse der bessere Mensch bist?«
»Ja«, hatte Rufus ohne eine Miene zu verziehen geantwortet. »Weil ich die Armut anderer Leute nicht zur Unterhaltung eines Kaffeekränzchens missbrauche.« Da hatte meine Mutter dann doch schlucken müssen.
Allein schon wegen Rufus’ Unverschämtheit hätte ich eigentlich zuhören müssen, damit ich meiner Mutter das nächste Mal zur Seite stehen konnte. Aber das klappte heute einfach nicht, ich war mit den Gedanken komplett woanders. Sam hatte gestern Nachmittag versucht, mich zu erreichen, als ich gerade beim Handballtraining gewesen war. Mein Vater hatte den Anruf entgegengenommen und mir mit versteinerter Miene davon erzählt. Mein freudiges Aufjauchzen hatte seine Stimmung keineswegs gebessert. Irgendwie war es mir gerade noch rechtzeitig gelungen, mich auf mein Zimmer abzusetzen, bevor er dazu übergehen konnte, mir zu erzählen, was er von Sam hielt.
Sam hatte also angerufen, gleich nachdem er von der Bio-Exkursion zurückgekehrt war! Aber leider hatte er keine Nummer hinterlassen und Rufus war bereits ausgeschwirrt und hatte sein Handy ausgeschaltet, sodass ich ihn nicht fragen konnte. Vermutlich war mein Bruder gerade dabei, sich mit Julia zu versöhnen. Oder zumindest das zu tun, was sie beide darunter verstanden.
Alles in mir wartete sehnsüchtig auf die Mittagspause, in der ich Sam endlich wiedersehen würde. Bis ins Detail malte ich mir aus, was ich sagen und wie ich mich verhalten würde. Ihn in der Mensa zu treffen, war so viel besser, als ihm zum ersten Mal seit Sonntag bei der Nachhilfe im Gemeinschaftsraum gegenüberzustehen. Beim Essen waren so viele Leute unterwegs, da fiel es nicht weiter auf, wenn ich ihm zuwinkte und wir uns vielleicht sogar kurz miteinander unterhielten. Es wäre die perfekte Auflockerung vor der Nachhilfestunde am Nachmittag.
Doch zu meinem Unglück standen in Chemie, das wir in der letzten Vormittagsstunde hatten, Versuche zur Herstellung von Ammoniakwasser auf dem Lehrplan, und ich saß neben einer leicht überdrehten Lena, die sich selbst unterhielt, indem sie jede einzelne Versuchsphase kommentierte.
»Das Zeug stinkt wie die Pest«, sagte sie und hielt mir einen Behälter unter die Nase.
»Lass das bleiben, ich will heute auf keinen Fall mit etwas widerlich Riechendem in Berührung kommen«, drohte ich, doch da war es schon zu spät. Bei ihrem Versuch, das Ammoniakwasser wie eine irre Hexe im Behälter kreisen zu lassen, schwappte es über. Die meiste Flüssigkeit landete auf unseren Schürzen, aber ein paar Spritzer erwischten mein Top. Ich stürzte zum Waschbecken, während unser Lehrer Dr. Bryer einer plötzlich kleinmütigen Lena die Leviten las. Schließlich tauchten beide neben mir auf und als ich sah, wie Lena wegen des Gestanks die Nase rümpfte, wäre ich fast in Tränen ausgebrochen.
»Wir können ja einen T-Shirt-Tausch machen, dann bin ich es, die den Rest des Tages wie ein Katzenklo stinkend durch die Schule rennt«, schlug Lena vor. Aber ein Blick auf ihr neongrünes Tanktop, auf dem mit schwarzem Edding geschrieben »New York Bitch« draufstand, reichte mir vollauf. Ich rieb ein weiteres Mal versessen an meinem Top, dann gab ich auf.
»Solange die Spritzer nur auf dem Stoff gelandet sind, gibt es keinen Grund zur Beunruhigung. Der Geruch verfliegt wieder«, erklärte Dr. Bryer ungerührt.
»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Ich hatte bereits meine Tasche geschultert und befand mich auf dem Weg zur Tür. Meine Wangen brannten vor Zorn über die Ungerechtigkeit, dass ich meine Mittagspause statt mit Sam auf dem Fahrrad verbringen würde, um mir zu Hause ein frisches Oberteil zu besorgen. In meinem Spind lagerten zwar Sportklamotten, aber ein olles Handballtrikot war nicht unbedingt das Kleidungsstück, in dem ich Sam gegenübertreten wollte.
Außer Atem erreichte ich nach meiner Umziehaktion den Gemeinschaftsraum zur Mathenachhilfe. Als ich eintrat, sah ich dort zu meiner Enttäuschung lediglich Bjarne mit den Roger-Zwillingen beisammensitzen. Bjarne gönnte mir ein knappes Nicken, bevor er wieder auf die Zwillinge einredete. Verlegen trat ich von einem Fuß auf den anderen, unschlüssig, was nun zu tun sei. Dann spürte ich plötzlich ein warmes Prickeln auf meiner Haut, und ohne mich umzudrehen wusste ich, dass Sam hinter mir stand.
»Hi«, sagte er leise. »Ich habe schon draußen im Schulgarten nachgesehen, ob du dich vielleicht zwischen den Bäumen versteckst und dein frisch gewaschenes Oberteil in der Sonne trocknen lässt.«
Das begann ja ganz wunderbar. »Du weißt von der Ammoniak-Attacke?«, fragte ich betreten.
»Deine Freundin mit den irren Haaren hat es mir erzählt. Ich glaube, sie wollte es eigentlich diplomatischer anstellen, als ich sie nach dir gefragt habe. Aber Rufus’ Anwesenheit hat sie wohl etwas aus dem Konzept gebracht.«
Ja, jetzt schuldete Lena mir wirklich etwas. »Falls es dich beruhigt: Man kann nichts mehr riechen. Du duftest schon wieder nach Maiglöckchen.«
Unverwandt starrte ich Sam an. Das Leuchten, das von ihm ausging, war so stark wie nie zuvor. Es war wundersam und ließ mich einen Augenblick lang meine Verliebtheit vergessen. Gleichzeitig verspürte ich zum ersten Mal einen Anflug von Traurigkeit angesichts dieses Leuchtens. Es entfremdete mir Sam, machte ihn zu einem anderen. Früher hatte es mich nicht gestört, ihn für ein Wesen von einem anderen Stern zu halten, aber jetzt wollte ich ihn nirgendwo anders haben als an meiner Seite.
Es kostete mich viel Konzentration, um den realen Sam hinter dem Leuchten zu sehen. Auch der strahlte mich an, jedoch auf eine gänzlich andere Weise. Sein Gesicht war durch die Tage im Freien braun gebrannt, sodass seine Meeraugen regelrecht schillerten. Das hellblau gestreifte Hemd hing lässig über der Jeans und war an den Ärmeln ein Stück aufgekrempelt, sodass ich die blonden, seidig schimmernden Haare auf seinen Unterarmen betrachten konnte, während er sich hinter dem Ohr kratzte. Fast hätte ich die Hand gehoben, um herauszufinden, wie sie sich anfühlten. Dann riss ich mich zusammen und sah mich hilfesuchend im Raum um. Mein Blick fiel auf die drei am Tisch, die ihre Matheübungen vergessen hatten und zu uns herüberstarrten.
»Wir haben getauscht«, sagte Sam und deutete mit dem Kopf in Richtung Bjarne. »Zuerst war er etwas zickig, als ich ihm den Vorschlag gemacht habe, aber letztendlich hat er nachgegeben. Schließlich zahlen die Zwillinge ja auch fast das Doppelte. Mit Zahlen bekommt man Bjarne immer.«
Augenblicklich bekam ich ein schlechtes Gewissen. »Wenn die Nachhilfe bei den Zwillingen dir mehr bringt, wären meine Eltern sicherlich mit einer Erhöhung einverstanden.«
Sam wartete, bis ich mich an einen freien Tisch gesetzt hatte, dann setzte er sich mir gegenüber. Mein Vorschlag hing immer noch im Raum und ich wurde langsam nervös, da er den Blick fest auf die Tischplatte gerichtet hielt und sich ansonsten nicht regte. Dann räusperte er sich. »Ich dachte, wir bleiben einfach bei der alten Bezahlung: Ich bringe dir Mathe bei und du lädst mich ab und zu mal zum Essen ein.«
Gut, dass Sam immer noch die Tischfläche studierte, so bekam ich die Gelegenheit nachzudenken. Leider. Denn so verführerisch sein Vorschlag klang, ich würde ihn ablehnen müssen. »Du bist jederzeit bei uns zum Essen eingeladen, aber Job ist Job. Du hast mir doch gerade erst erzählt, dass du für dich selbst aufkommen musst. Da kann ich mich hier doch nicht hinsetzen und erwarten, dass du kein Geld für die Nachhilfe nimmst.«
Nun blickte Sam endlich auf, die Züge verhärtet. Sein ernster Blick ließ ihn älter wirken. »Dann muss ich die Sache mit Bjarne wohl rückgängig machen, denn ich werde kein Geld von dir dafür nehmen, weil du Zeit mit mir verbringst.«
»Das ist nicht mein Geld, sondern das meiner Eltern. Und sie schenken es dir auch nicht aus lauter Großzügigkeit, sondern, weil ihre Tochter zu dumm ist, um Mathe von allein zu kapieren.« Mein Ton war hitzig und ich ertappte mich dabei, wie ich die Tischkante fest umklammert hielt. »Nachhilfe ist ein Job, Punkt«, setzte ich hinzu, um meinen Entschluss zu untermalen.
»In deinen Augen bin ich Bjarne II, also einfach nur der Typ, der dir Mathe erklärt?« Im Gegensatz zu meiner Stimme klang Sams ruhig, beinahe eine Spur zu gelassen. Aber seine Gesichtszüge blieben angespannt. Hatte er etwas an meinen Worten falsch verstanden?
»Ich brauche jemanden, der mir Mathe so erklärt, dass ich es auch verstehe. Derjenige, der diese Kunst beherrscht, bist du. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich mich auch so sehr gern mit dir treffen würde.« Das war ein ziemlich deutliches Geständnis, und ein Teil von mir wollte sich dafür auch am liebsten unter dem Tisch verstecken. Der andere Teil atmete tief ein und wartete auf Sams Reaktion.
Die bestand in einem umwerfenden Lächeln und darin, dass seine Wangen sich unter der Sonnenbräune rot färbten. Er hievte seine Ledertasche auf die Oberschenkel und begann darin herumzuwühlen, eher er sagte: »Wie wäre es, wenn ich meine Bezahlung für die Stunden dieses Mal annehme und wir den Feiertag morgen gemeinsam am Strand verbringen? Die machen doch jedes Jahr einen halben Rummel auf, um den ersten Mai zu feiern. Zuckerwatte und das ganze andere Zeug, das man dort bekommen kann, gehen dann auf meine Rechnung.«
Er blickte auf und das Meeresleuchten seiner Augen nahm mich so gefangen, dass ich nur schwach nicken konnte. Dann fiel mir etwas ein. »Meine Familie wird vermutlich auch da sein.«
»Meinst du, die wollen auch ein Eis?«
Ich wollte schon ernsthaft darauf antworten, da bemerkte ich sein Grinsen und rollte leicht mit den Augen. »Vermutlich werden sie sich eher im Hafen aufhalten, mein Dad will nämlich etwas an der Wilden Vaart ausbessern. Das will er eigentlich immer, aber es ist auch die perfekte Ausrede für jemanden, der Rummel nicht ausstehen kann. Sicherlich wird er zusehen, dass er möglichst rasch aufs Wasser kommt, bevor meine Mutter ihn in Richtung Fressbuden und Karussell zerren kann.«
Sam hielt meinen Blick noch einen Moment gefangen und ich erwartete, dass er etwas Lustiges erwidern würde. Ich für meinen Teil hätte jedenfalls ewig mit dem Geplänkel weitermachen können. Er aber schloss für ein paar Sekunden die Augen, als müsse er sich sammeln. Als er seinen Ellbogen auf den Tisch stellte und den Unterarm anwinkelte, war das wunderbare Lächeln auf seinem Gesicht immer noch nicht verschwunden und brachte ihn zum Leuchten, sodass selbst der eher praktisch veranlagte Bjarne am anderen Ende des Raums aufblickte.
»Nachdem es letzte Woche so gut geklappt hat, machen wir jetzt weiter mit Mathe zum Angucken. Mein Arm ist also die Seite eines unbekannten Objekts, einverstanden?«
Ich blinzelte, in Gedanken immer noch ganz mit unserer Verabredung beschäftigt. Dann fiel mein Blick auf die Innenseite von Sams Unterarm. Der umgekrempelte Ärmel seines Hemdes war ein Stück nach oben gerutscht, sodass ein Teil des Narbengeflechts zum Vorschein gekommen war. Die Schnitte, die sein Vater ihm zugefügt hatte, mussten sehr tief gewesen sein, denn sie leuchteten immer noch grellrot auf, als wären sie gerade erst verheilt. Beinahe so, als könnten sie jeden Augenblick wieder aufreißen und zu bluten anfangen. Die eine Narbe war nicht mehr als ein vertikaler Bogen, aber die andere bildete ein Symbol. Drei Linien, ähnlich angeordnet wie bei einem A, wobei der Mittelbalken eher einen Kreis darstellte, was mit der Messerklinge wohl schwierig zu bewerkstelligen gewesen war. Obgleich ich das Symbol nicht kannte, spürte ich die Bedrohung, die es ausstrahlte. Es war nicht nur eine Brandmarkung, sondern mehr als das. Es war wie der Gegenpol zu Sams natürlichem Strahlen und fühlte sich an, als würde es mit seiner dunklen Aura auf mich übergreifen. Instinktiv lehnte ich mich im Stuhl zurück.
Sam, dem meine plötzliche Abwehrhaltung nicht entgangen war, zuckte sichtlich zusammen. Dann machte er Anstalten, den Ärmel runterzurollen, hielt aber inne. »Es ist nur eine Narbe«, sagte er mit fester Stimme. Doch das leichte Beben seiner Lippen entging mir nicht.
»Ja, eine Narbe … aber das Symbol macht mir Angst. Es wirkt so gegen deine Natur gerichtet.«
Sam zog die Stirn zusammen, als hätte er nicht mit einer solchen Antwort gerechnet. Wie hätte er das auch tun können? Ich konnte selbst kaum glauben, was ich da eben gesagt hatte. Dann hoben sich seine Mundwinkel, aber es wurde nur ein trauriges Lächeln. »Du hast einen anderen Blick auf die Welt als die meisten Menschen, Mila. Vielleicht macht dich die Malerei so sensibel.«
Ich saß da und ertrank fast in den vielfältigen Gefühlen, die auf mich einströmten, während Sam über Mathematik zu sprechen begann, als wäre es etwas, an dem man sich festhalten kann. Fakten gegen Mystik, Sachlichkeit gegen Zauberei. Ich versuchte, ihm auf diesem Weg zu folgen, doch es gelang mir nicht.
Mein Blick hing an dem Narbengeflecht fest, als hätte dieses sich in meine Netzhaut eingeätzt. Gegen meinen Willen rief es ein Bild hervor, das selbst Sams ruhige Erklärungen nicht zu bannen vermochten. Es drang in mein Innerstes ein, als wären die Symbole auf seinem Unterarm Schlüssel, die den Eingang zu einem dunklen, verborgenen Gang in mir geöffnet hatten. Was da jedoch zum Vorschein kam, verstörte mich zutiefst. Vor meinem inneren Auge baute sich eine Vision auf, von einer Klarheit, wie sie ansonsten nur meine Zeichnungen aufwiesen, bei deren Entstehung ich Zeit und Raum vergessen hatte. Nur, dass ich mich beim Zeichnen freiwillig auf diese Selbsthypnose einließ, während das hier gegen meinen Willen geschah. Ich konnte mich einfach nicht aus dem Sog befreien, der sich in mir auftat. Immer leiser klang mir Sams Stimme in den Ohren, der Aufenthaltsraum und meine Mitschüler waren längst vergessen, und ich spürte meinen Körper nicht mehr. Mein Blick war auf eine fremde Welt gerichtet.
In meiner Vision kämpfte Hell gegen Dunkel. Das Helle so gleißend weiß wie eine Explosion, das Dunkel samtig und doch bodenlos tief. Die beiden Gegensätze rangen miteinander und verschmolzen dabei immer wieder. Aus jener hauchdünnen Sphäre, die zwischen ihnen lag, tat sich ein Schatten auf. Bevor ich mich versah, hatte er mich umhüllt wie eine Decke, die nichts zu durchdringen vermochte. Er umschmeichelte mich, lullte mich ein, während er zu erforschen versuchte, wer ich eigentlich war. Welchen Nutzen er an mir hatte. Die Berührung war federleicht, fast liebkosend. Aber sie hinterließ ein Brennen und beängstigende Leere, als der Schatten vom Spiel aus Hell und Dunkel für einen Augenblick zurückgedrängt wurde. Bevor ich mich jedoch aus der Vision befreien konnte, tauchte er auch schon wieder auf und ich spürte, wie sich sein Verlangen nach mir verdichtete, wie er anfing, Worte zu formen. Einflüsterungen. Verführungen, denen ich fast erlag, obwohl ich nicht einmal annähernd begriff, was eigentlich geschah. Zu einnehmend waren seine Versprechungen, die nicht mehr waren als der lockende Klang seiner Stimme, als dass ich länger hätte widerstehen können.
Als hätte er meinen nachlassenden Widerstand erkannt, setzte der Schatten zu einem plötzlichen Angriff an. Überlass dich meinem Willen, flüsterte er mir mit samtiger Stimme zu. Zwar nahm ich die verräterische Gier wahr, die sich hinter diesem verführerischen Angebot verbarg, doch ich war mittlerweile zu sehr von ihm eingelullt, um zu reagieren. Ich sehnte mich nur noch nach der Süße des Schlafes, den er versprach. Alles aufzugeben, das mich ausmachte, und mich vollkommen dem Willes eines anderen zu überlassen, erschien mir mit einem Mal als die wunderbarste Idee von allen. Und danach würde es keine weiteren geben. Mein Ich wäre ausgelöscht.
»Mila?«
Bevor ich dem Locken nachgeben und in die Tiefe des Schlafs gleiten konnte, zerschlug Sams durchdringende Stimme wie ein gleißendes Schwert die Vision. Ich spürte eine Berührung an meinem Oberarm, nur ganz leicht, und doch fühlte es sich an, als spülte eine Meereswoge über mich hinweg. Das Bild, eben noch eingebrannt in meinem Inneren, wurde fortgewischt wie Staubspuren, so spielend gelang es Sam, mich mit seiner Stimme und einer Berührung zu befreien. Zurück blieb ein kurz aufwallendes Gefühlschaos: Wut, Verzweiflung, Sehnsucht, Angst - all diese Empfindungen wirbelten durch mich hindurch, ohne sich an etwas festmachen zu können, als wüssten sie schon nicht mehr, was sie eigentlich ausgelöst hatte. Ich wurde so unvermittelt aus meiner Vision herausgerissen, dass ich mir nicht einmal mehr sicher war, ob es sie wirklich gegeben hatte.
Und doch, dämmerte es mir, hatte das Bild, von dem Sam mich mit einer solchen Macht befreit hatte, mir etwas gezeigt, das sich meinem Verständnis entzog. Es war ein Angriff gewesen. Etwas oder jemand hatte versucht, sich meiner zu bemächtigen. Kaum hatte ich das begriffen, schob ich die Erkenntnis fort wie einen vergifteten Apfel, zu sehr erschreckte sie mich.
»Mila?«
Erneut sagte Sam meinen Namen, eindringlich und auch voller Sorge. Nur widerwillig öffnete ich die Augen, obwohl ich ahnte, dass es mir guttun würde, ihn anzusehen. Er hatte sich weit über den Tisch gelehnt, der strahlende Glanz seine Aura umgab ihn so leuchtend, dass ich kaum seine Gesichtszüge ausmachen konnte. Seine Hand lag um meinen Oberarm und griff dermaßen fest zu, dass es wehtat. Aber das begriff ich erst jetzt, vor einer Sekunde noch war da kein Schmerz gewesen. Ich wollte aufstöhnen, doch meine Lippen waren wie festgefroren. Ich fror am ganzen Körper, ohne jedoch zu zittern. Als ich seinen Blick erwiderte, lockerte Sam endlich den Griff. Er sah ernsthaft besorgt aus.
»Ist wieder alles okay bei dir?«
Ängstlich horchte ich in mich hinein, doch das Bild hatte sich endgültig verflüchtigt. In meinem Inneren herrschte bloß Erschöpfung. Meine Glieder spürte ich kaum, nur die Stelle, wo Sam mich berührt hatte, fühlte sich an, als hätte er mich verbrannt. Ansonsten war mir nur ein wenig schwindelig, von meiner Verwirrung einmal abgesehen. Also nickte ich.
»Möchtest du aufstehen und ein paar Schritte gehen?«
Kaum hatte ich ein zittriges »Ja« hervorgebracht, da war Sam schon um den Tisch herum und half mir beim Aufstehen. Nun fühlte sich die Berührung seiner Hände warm und behutsam an. Beinahe fand ich seine Fürsorge übertrieben - doch dann begannen meine Knie zu zittern. Mein Körper fühlte sich an wie nach einem 1000-Meter-Lauf, während er zugleich so starr war, als hätte ich mich seit Stunden nicht mehr gerührt. Erst als wir den Pausenhof betraten und die Sonne auf mich fiel, verlor sich diese seltsame Anspannung und die Kälte. Langsam gingen wir ein wenig umher, wobei Sam mich umfasst hielt, als rechnete er damit, dass jeden Moment meine Beine versagen könnten und er mich würde auffangen müssen. Unter anderen Umständen hätte ich seine Nähe noch stärker genossen, jetzt aber war ich vor allem froh darüber, dass er mir Halt gab.
»Ich habe dir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, was?«, fragte ich schließlich, nachdem wir uns auf eine Bank gesetzt hatten. Unauffällig rutschte ich so dicht wie möglich an ihn heran, denn seine Körperwärme war tröstlich. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, wie sehr ich gefroren hatte. Zu meiner Erleichterung legte er mir einen Arm um die Schultern und nahm meine Hand, um sie zu wärmen. Für einen Augenblick sah es aus, als wäre meine Haut mit einem silbrigen Schimmer überzogen, doch das lag gewiss nur daran, dass Sams Hand neben meiner so dunkel gebräunt aussah. Ich musste mich dringend mehr im Freien aufhalten.
Sam hielt einen Moment lang inne, als müsste er seine Gedanken nach dem Schrecken erst einmal ordnen. »Zuerst dachte ich, du willst mich ärgern, weil ich einfach zu den Matheübungen umgeschwenkt bin, anstatt noch ein wenig zu quatschen. Du warst mit einem Mal vollkommen still, wie eine Statue. Nach dem Motto: Ich bin gerade dabei, vor lauter Langeweile zu sterben. Dann ist mir klar geworden, dass du völlig abgetaucht warst, aber auf eine ganz und gar nicht gute Art. Als du nicht auf mich reagiert hast, bin ich wirklich nervös geworden. Passiert dir so etwas öfter?«
»Nein, so etwas kenne ich überhaupt nicht von mir.« Das entsprach der Wahrheit, und das war es, was mich mehr als verunsicherte. Klar, ich konnte mich sehr gut auf Dinge konzentrieren, die mich interessierten, und dabei Gott und die Welt vergessen. Aber damit hatte dieses Erlebnis nichts zu tun gehabt. Ich spürte, dass Sam auf eine Erklärung hoffte. Doch wie sollte ich ihm erklären, was passiert war, wenn ich es selbst nicht begriff? Dieses überwältigende Bild, die Berührung durch den Schatten konnte ich unmöglich in Worte fassen. Außerdem befürchtete ich, Sam könnte mich für sonderbar halten, wenn ich ihm die Wahrheit sagte, für ein völlig überspanntes Mädchen, das einen in unangenehme Situationen brachte. Ich wusste nur zu gut, was Rufus davon hielt, wenn Mädchen etwas Außergewöhnliches taten oder sich sonstwie in den Mittelpunkt spielten: Er war schwer genervt. Sam war zwar ganz anders als mein Machobruder, trotzdem befürchtete ich, dass sie sich in diesem Punkt gleichen könnten. Besonders, wenn ich auch noch erwähnte, dass er es gewesen war, der mich befreit hatte. Sam, mein Retter. So pathetisch und verrückt das klang, genauso war es gewesen. Das behielt ich besser für mich. Also sagte ich das Nächstliegende: »Dieses Ammoniak-Zeug hat mich irgendwie aus der Bahn geschmissen. Vielleicht reagiere ich ja allergisch darauf.«
Sam machte keinen sonderlich überzeugten Eindruck, aber er hakte auch nicht nach. So saßen wir beide schweigend auf der Bank, während meine Hand in seiner wieder zum Leben erwachte und seine Finger sanft an meiner Schulter kreisten. So hätte ich bis in alle Ewigkeit dasitzen können, gedankenverloren, mit Sam an meiner Seite, dessen regelmäßiger Atem schöner als jedes Konzert war. Doch leider klingelte irgendwann die Pausenglocke, ein fast brutales Geräusch nach dieser himmlischen Auszeit. Behutsam legte Sam meine Hand auf meinem Schoß ab. Gleich würden die Raucher in den Innenhof einfallen, um schnell ein paar Züge zu nehmen, bevor die Pausenaufsicht ihre Runden drehte. Ich verstand, dass Sam nicht wollte, dass man uns so innig sah, aber es verletzte mich trotzdem.
»Am besten bleibst du hier sitzen, während ich Rufus suche. Ich glaube, er hatte jetzt gerade Französisch.«
»Was willst du denn von Rufus?«
»Ihm Bescheid sagen, dass er dich mit dem Wagen nach Hause bringen soll. Du hast jetzt doch keinen Unterricht mehr, richtig?«
In diesem Moment trat Chris durch den Gang zum Innenhof und steckte sich eine Zigarette an. Ein großer muskulöser Junge mit dem für ihn typischen Poloshirt. Als er Sam erkannte, verzog sich sein Gesicht zu einem Strahlen. Er machte ein paar ausholende Schritte, hielt aber gleich wieder an, da er nun auch mich bemerkt hatte. Seine Augenbrauen schossen in die Höhe und er begann zu grinsen. Sam folgte meinem Blick und nickte Chris kurz zu. Ich erwartete, dass er nun rasch den Arm fortnahm, der immer noch um meine Schultern lag. Stattdessen lehnte er sich zu mir rüber, senkte den Kopf, und einen Herzschlag später konnte ich seine Lippen auf meiner Schläfe spüren. Nur ganz leicht und dann waren sie auch schon wieder fort. Sam hatte offensichtlich nicht vor, das Tempo zu zügeln, aber es fühlte sich nicht mehr verwirrend an. Ganz im Gegenteil.