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Rot wie die Liebe

Mila

Verträumt blinzelte ich ins helle Licht. Obwohl die Sonne bereits im Westen stand, waren die Strahlen, die das Meer zurückwarf, noch voller Kraft. Ich saß zusammen mit meiner Mutter auf einer Steinmauer, gut zwanzig Meter über der Brandung, die an sich an diesem Frühlingstag äußerst mild aufführte. Unsere Füße steckten in bunten Leinenschuhen, die wir gerade bei einem fliegenden Händler gekauft hatten, und baumelten frei in der Luft. Ich mochte das Murmeln des Wassers genauso gern wie das Stimmengewirr und die vielfältigen Geräusche der Promenade in meinem Rücken. Zwar saßen wir etwas abseits des Treibens, aber das schöne Wetter hatte so viele Menschen an die Küste gelockt, dass sich einige Spaziergänger sogar abseits des Geschehens herumtrieben. Meine Mutter summte die Melodie einer Fernsehserie und schob mir die Sonnenbrille auf die Nase, die sie mir trotz meines Protestes gekauft hatte.

»Mama, also wirklich! Kein Mensch trägt Sonnenbrillen mit knallroter Fassung.«

»Weil all diesen Menschen knallrot einfach nicht so gut steht wie dir.«

Ich warf ihr einen ungläubigen Blick durch die Gläser zu, die alles in einen goldenen Schimmer hüllten. Sofort nutzte sie die Gelegenheit, meine Ponyfransen unter dem Kopftuch, das ich mir gegen Sonne und Wind umgebunden hatte, zurechtzuzupfen. Es heißt immer, kurze Haare seien praktisch. Ich hatte jedoch schon nach ein paar Tagen herausgefunden, dass das eine Lüge war - morgens standen sie in alle Himmelsrichtungen ab und wenn man Pech hatte, hatte man sich beim Schlafen eine hartnäckige Macke gelegen. Wind sorgte dafür, dass man ruckzuck aussah, als habe man in die Steckdose gegriffen, und Regen … sprechen wir lieber nicht darüber. Noch etwas anderes nagte an mir: Egal, wie lieb ich meine Mutter hatte, ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit einer ähnlichen Frisur wie sie enden würde.

»Glaub mir, du siehst supersüß aus. Dein herzförmiges Gesicht ist schlicht geschaffen für diese Brille.« Dabei strahlte Reza so über das ganze Gesicht, dass ich ihr einfach glauben musste.

Ich lehnte mit meiner Schläfe an ihrer Schulter, der Stoff ihrer Seidentunika war von der Sonne aufgewärmt. Meine Augenlider schlossen sich ganz von allein. Ich fühlte mich so zufrieden und entspannt wie schon lange nicht mehr. Nachdem ich gestern endlich den Klassenraum verlassen hatte, war mir erst klar geworden, unter welcher enormen Anspannung ich wegen dieser verfluchten Mathearbeit gestanden hatte. Nun war sie vorbei und ich war mir ziemlich sicher, dass keine Fünf dabei rausgekommen war - Sams Nachhilfekünsten sei dank.

Eigentlich hatte heute Segeln mit der Familie auf dem Plan gestanden, doch meine Mutter hatte kurzerhand entschieden, dass wir beide einen Frauentag einlegen sollten. Ich war damit mehr als einverstanden gewesen, denn zum einen war ich kein großer Fan der Segelei. So gern ich das Meer auch ansah, so wenig mochte ich es, damit in Berührung zu kommen. Seine salzige Kälte löste bei mir jedes Mal die Vorstellung aus, von etwas Unsichtbarem umschlungen und in die Tiefe hinabgezogen zu werden. Dabei war mir im Wasser nie etwas Schlimmes zugestoßen. Zum anderen hatte ich mich darauf gefreut, Zeit mit meiner Mutter zu verbringen. Das Einkaufen von Krimskrams und das anschließende Essen bei unserem Stammitaliener waren dabei nur schöne Nebensächlichkeiten. Meine Mutter gehörte zu dieser entspannten Sorte Mensch, deren gute Laune immer abfärbte. Bei ihr konnte ich mich fallen lassen, denn sie wirkte wie ein Schutzmantel gegen jede Unbill des Lebens.

Genau danach war mir heute gewesen, als Pingpong mich mit ihrem Gemaunze geweckt hatte. Nichts Kompliziertes, nur meine Mom, die summte oder vor sich hinplauderte, sodass ich gar nicht erst auf die Idee kam, über Sam und das morgige Mittagessen nachzudenken. Zu spät, da war er wieder, der Gedanke, der mir jedes Mal einen Stromschlag durch den Körper jagte. Automatisch richtete ich mich kerzengerade auf. Irritiert sah meine Mutter mich an.

»Wir brauchen noch Süßkartoffeln«, brachte ich hervor.

»Tatsächlich?«

Die Beine meiner Mutter baumelten ein wenig schneller, dann zog sie sie hoch in den Schneidersitz. Sie holte eine Tüte mit getrockneten Papayas aus ihrer Tasche und bot sie mir an. Während wir vor uns hinkauten, war von Gemütlichkeit nichts mehr zu spüren. Auch wenn meine Mutter sich nichts anmerken ließ, spürte ich, dass ihr etwas auf der Seele lag. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis sie damit herausplatzen würde. Zu allem Überfluss ahnte ich, um welches Thema es gehen würde.

Rufus hatte es nämlich ungefragt übernommen, unseren Eltern von der Mittagesseneinladung zu erzählen, ganz so, als wäre Sam sein und nicht mein Gast. Überrascht hatte mich das allerdings nicht, schließlich hatte Rufus mir auf der Rückfahrt unmissverständlich klargemacht, dass wenn ich Sams Nachhilfe weiterhin in Anspruch nehmen wollte, das gefälligst nicht mit seinen Verabredungen zu kollidieren hatte. Er würde kein weiteres Mal Kinder hüten, damit ich seinen besten Freund wie ein Mondkalb anstarren konnte. Darüber, dass Sam allem Anschein nach zurückgestarrt hatte, hatte er hingegen kein Wort verloren.

Rufus war beleidigt, aber das kümmerte mich im Moment herzlich wenig. Denn ich war hin und weg, weil ich nicht nur einen Abend bei Sam verbracht hatte, sondern weil er sogar meine Gegeneinladung angenommen hatte. Nach außen hin musste ich in meiner Glückseligkeit wirken, als wäre ich auf Drogen. Meine Freundin Lena hatte am Freitagnachmittag eine entsprechende Bemerkung fallen lassen, als ich ihr völlig verträumt dabei zugesehen hatte, wie sie ihr Pferd Artemis striegelte. Normalerweise beschwerte ich mich in einer Tour, dass sie sich beeilen sollte. Zwar mochte ich die Stute gern leiden, nur hielt sich meine Begeisterung für Pferdepflege, vor allem aus der Zuschauerperspektive, in Grenzen. Aber gestern war mir diese geistige Auszeit ganz lieb gewesen, denn ein Teil von mir hatte die Geschehnisse der letzten vierundzwanzig Stunden immer noch nicht vollends begriffen.

»Nun ist wenigstens das Geheimnis um den Sam-Zauber gelüftet, über den du dir schon seit Jahren den Kopf zerbrichst«, hatte Lena gesagt, während sie anfing, Artemis’ Mähne zu Zöpfen einzuflechten, wo ich doch schon mal nicht protestierte und drohte, mich allein ins Café abzusetzen. Neben meiner Mutter war Lena meine einzige Vertraute, wenn es um meine Gefühle für Sam ging. Lena war eher der realistische Typ - trotzdem hatte sie zugeben müssen, dass Sams Ausstrahlung sich nicht mit gewöhnlichen Erklärungen begründen ließ. Deshalb sprach sie immer vom Sam-Zauber, stets leicht ironisch, wie das so ihre Art war. »Er besitzt die Gabe, die Lücken im Hirn von Mathe-resistenten Menschen kurzfristig mit Wissen aufzufüllen. Der Preis besteht offensichtlich darin, dass das Hirn dieser Leute anschließend zu nichts mehr zu gebrauchen ist.«

Ich hatte geistesabwesend genickt, was sie nur noch mehr angestachelt hatte.

»Der Junge muss wirklich gut im Erklären von Dreiecken sein. Denn eigentlich würde ich darauf tippen, dass solch ein benebelter Zustand nur dann eintritt, wenn man sensationell geküsst wurde. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, habt ihr nur über Mathe gequatscht, während Rufus mit im selben Zimmer rumgehangen hat. Wirklich aufregend.« Als Lena den Namen meines großen Bruders aussprach, scharrte Artemis plötzlich nervös mit den Hufen, als würde sie spüren, wie es ihrer Besitzerin dabei erging. Lena und ihre Gefühle für Rufus waren aber auch wirklich ein deprimierendes Thema. Denn mein allgemein heiß begehrter Bruder nahm sie nur insoweit wahr, als er ihre feste Zahnspange gern mit einem Ufounfall in ihrem Mund verglich.

»Mila, könntest du jetzt bitte aus deiner Trance aufwachen, du bist mir unheimlich.«

Es hatte mich erstaunlich viel Kraft gekostet, ihr diesen Gefallen zu tun. »Tut mir leid, dass war alles ein bisschen viel für mich. Ich meine …« Ich hatte nach den passenden Worten gesucht, stattdessen lediglich ein »Sam!« hervorgebracht. Allein seinen Namen auszusprechen, hatte mir fast den Verstand geraubt. »Ich brauche dringend etwas Süßes.«

»Sollst du haben«, hatte Lena entschieden geantwortet, Artemis in ihre Box geführt und mich in die nächstbeste Eisdiele geschleppt, wo ich nach drei Kugeln Schokoladeneis langsam wieder zu mir gekommen war.

Den Rest unserer Verabredung hatte ich mich dann gehörig am Riemen gerissen und das Thema nicht wieder angeschnitten. Lena war zwar eine geduldige Freundin, aber allmählich war es mir selbst ein wenig peinlich, wie vernarrt ich mich aufführte. Also hatten wir über eine Manga-Reihe gesprochen, die wir beide großartig fanden, die wir allerdings in der hintersten Ecke unserer Buchregale versteckten, weil sie für die Augen unserer Eltern doch zu heftig ausfiel, über ein Gartenprojekt, an dem Lena nur mir zuliebe teilnahm - während sie ohne zu zögern Pferdeställe ausmistete, hielt sie schlichte Gartenerde für dreckig -, und über die Frage, ob wir bei den Vorbereitungen einer Frühlingsfeier an unserer Schule mitmischen sollten. Warum nicht?, meinte ich, während Lena die Auffassung vertrat, Schulfeiern wären spießig. Das dachte sie nur, weil Rufus dort nicht auftauchen würde, aber das hatte ich lieber für mich behalten. Die Zeit war schnell vergangen und im Nachhinein hatte es sich wie eine Wohltat angefühlt, nicht ständig an Sam gedacht zu haben. Schließlich führte ich trotz meiner Gefühle für ihn auch noch ein eigenes Leben.

Schon bald hatten meine Mutter und ich alle Papaya-Streifen aufgegessen und sogar noch ein paar Möwen gefüttert, die uns zur Belohnung luftakrobatische Übungen vorführten. Dann wühlte meine Mutter ausgiebig in den Tiefen ihrer Beuteltasche herum, ohne jedoch weitere Naschereien zutage zu fördern. Ich kannte diese Macke von ihr: Sie wollte Zeit schinden. Und das machte mich ehrlich gesagt nervös. Schließlich nahm sie meine Hand und spielte mit den einzelnen Fingern.

»Und, ist Sam so wunderbar, wie du dir immer erhofft hast?« Da war sie also, die Frage, die meine Mutter umtrieb. Und auch gleich genau auf den Punkt gebracht.

»Ja«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Meine Mutter berührte kurz jede meiner Fingerspitzen und sagte dabei einen alten Kinderreim auf, mit dem sie mich immer zum Nägelschneiden bekommen hatte. Ich ließ es zu, obwohl ich das Bedürfnis verspürte, aufzuspringen und mich im Kreis zu drehen, bis diese seltsam prickelnde Energie, die ich beim Gedanken an Sam verspürte, nachließ.

»Ich will dich mit meiner Neugierde ja auch gar nicht in die Ecke drängen«, fuhr meine Mutter schließlich fort. »Es ist nur so, dass du außergewöhnlich lange für Sam geschwärmt hast. Denk nur an Lena, da wechselt der Favorit monatlich.«

Lena und meine Mutter mochten sich gern leiden und wir saßen oft zu dritt zusammen. Trotzdem hatte meine Mutter nie mitbekommen, dass Lenas Herz treu für Rufus schlug und die anderen Jungs nur Zeitvertreib waren, bis der endlich ihre Liebe erwiderte. Wenn er sie denn jemals erwidern sollte. Ich nahm mir vor, Lena das nächste Mal auf dieses abstruse Verhalten hinzuweisen, wenn sie mich wegen Sam aufzog. Meiner Mutter gegenüber würde ich mich allerdings hüten, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Außerdem verspürte ich keine Lust, ihr den Wandel meiner Gefühle zu erklären - schließlich hatte die elfjährige Mila ganz anders für Sam empfunden als ich heute. »Mama, er riecht so gut, dass ich am liebsten mit ihm verschmelzen würde«, war trotz aller Verbundenheit ganz bestimmt kein Geständnis, das meine Mutter von mir hören wollte.

»Worauf ich hinauswill …« Meine Mutter sah mich so intensiv an, als läge die Antwort bereits in meinen Augen. Doch die blickten nur verwirrt und ein wenig belustigt durch die rot gerahmte Sonnenbrille zurück. »Du weißt jetzt, dass Sam ein gewöhnlicher Mensch aus Fleisch und Blut ist und kein einsamer Stern am Himmel, den du gefahrlos aus der Ferne anbeten kannst.«

Ich wollte sie unterbrechen und sagen, dass Sam keineswegs ein gewöhnlicher Mensch war, konnte mich dann aber gerade noch zurückhalten. Meiner ansonsten stets unbeschwerten Mutter lag etwas auf der Seele.

»Okay, ich klinge jetzt vielleicht ein wenig überdreht«, fuhr sie fort. »Schließlich war es nur eine Nachhilfestunde und dafür bekommt er morgen ein Essen im Kreis der Familie. Ich habe bloß den Eindruck, als wäre Sam ebenfalls nicht ganz uninteressiert an dir. Aus dem Essen könnte also rasch mehr als nur ein Essen werden. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«

Bei dieser Andeutung vollführte mein Magen einen derartig heftigen Purzelbaum, dass ich fast von der Steinmauer gerutscht wäre. Als wollte ich ihr entwischen, umfasste meine Mutter meine Hand, die immer noch auf ihrem Schoß lag, so fest, dass es wehtat. Dann ließ sie sie wieder los. Ganz langsam. Es war ihr deutlich anzumerken, wie schwer es ihr fiel.

»Komm, wir gehen ein paar Schritte«, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln. Sie hakte sich bei mir unter und gemeinsam schlenderten wir die seicht abfallende Promenade entlang, die sich nun am frühen Abend leerte. Die Kleinkind-Familien waren bereits auf dem Heimweg, Paare suchten sich fürs Abendessen Plätze in den Restaurants oder gingen mit einem Eis in der Hand zum Strand hinunter, wo sich einige Straßenmusikanten zusammengetan hatten und Folk spielten.

»Du hast doch selbst einmal gesagt, dass Sam ein guter Junge sei. Wenn er sich jetzt also für mich interessiert, dann ist das doch nicht verkehrt«, knüpfte ich an unser Gespräch an. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass meine Mutter noch nicht alles gesagt hatte.

»Im Gegensatz zu deinem Vater mache ich mir auch keine Sorgen um Sams Persönlichkeit …«

»Oh bitte, sag bloß nicht, dass Papa immer noch glaubt, in Sam stecke etwas von seinem Vater!«

Meine Mutter tätschelte mir beschwichtigend den Arm. »Du musst deinen Vater verstehen. Jonas Bristol hat seine Frau und Kinder geschlagen. Sam hat es allem Anschein nach am übelsten erwischt, denn er war seinem Vater in den letzten Jahren ganz allein ausgeliefert gewesen. So etwas hinterlässt Narben, und zwar nicht nur sichtbare.«

»Und dafür will Papa Sam jetzt auch noch bestrafen, indem er ihm etwas unterstellt, obwohl Sam sich noch nie etwas hat zuschulden kommen lassen?« Ich konnte es nicht fassen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich konnte am bekümmerten Gesichtsausdruck meiner Mutter ablesen, dass ihr meine Wut nicht entging.

»Nein, er will ihn nicht bestrafen, schließlich hat Daniel auch nichts dagegen gesagt, dass Sam zum Essen kommt. Er möchte nur nicht, dass dieser Junge dir wehtut. Wir reden uns nicht ein, dass Sam insgeheim ein Schläger ist. Aber es könnte durchaus sein, dass er einer Liebesbeziehung nicht gewachsen ist.«

Das verwirrte mich nun noch mehr. »Was meinst du damit?«

»Sam wird in ein paar Wochen achtzehn. Ich bin zwar keine Spezialistin für diese Altersgruppe, aber ich denke, er ist ein ganz süßer Typ, auch wenn er nicht gerade die tollsten Klamotten trägt.«

»Das ist doch nun wirklich kein Argument«, warf ich ein. Sams Outfit hieß schlicht Jeans, Shirt und abgewetzte Stiefel. Discounter-Klamotten, aber bei seinen Lebensumständen konnte man auch kaum etwas anderes erwarten.

»Würde mich freuen, wenn alle Mädchen so wenig auf Äußerlichkeiten bedacht wären wie du.« Meine Mutter grinste und ich konnte nicht widerstehen und grinste zurück. »Trotzdem ist es schon auffällig, dass er noch nie eine feste Freundin gehabt hat.«

Zuerst wollte ich sagen, dass er es vielleicht nur nicht an die große Glocke gehängt hatte. Doch das hätte nicht der Wahrheit entsprochen. Sam war tatsächlich noch nie mit einem Mädchen zusammen gewesen, obwohl es unübersehbar die eine oder andere Interessentin gegeben hatte. Allein schon, weil Sam der zwar stille, aber umso charismatischere Mittelpunkt der heißesten Jungenclique an unserer Schule war. Aber trotz aller Avancen war nie etwas Offizielles daraus geworden, wie ich jedes Mal mit großer Erleichterung festgestellt hatte. Das war vielleicht kein besonders schöner Zug von mir, aber Sam mit einer Freundin hätte mich komplett aus der Bahn geworfen.

»Willst du mir durch die Blume sagen, dass du Sam für schwul hältst? Das wäre wirklich ein echt billiger Trick, um mich von ihm abzubringen. Stammt die Idee von Papa?«

Meine Mutter stieß ein schallendes Lachen aus. Leider konnte ich nicht mit einstimmen, denn ich wurde immer unruhiger. Fast wollte ich ihr schon sagen, dass ich die richtige Antwort lieber nicht hören wollte.

Schließlich wischte sich meine Mutter die verschmierte Mascara unter den Augen weg und wurde wieder ernst. »Ich glaube wirklich, dass viel Gutes in Sam steckt. Es ist bewundernswert, wie hervorragend er sein Leben unter Kontrolle hat. Außerdem umgibt ihn eine gewisse Aura - er hat Charisma, würde ich sagen. Vermutlich liegt es an seiner inneren Stärke, daran, dass er sich von all dem Dunklen, das ihn sein Leben lang umgeben hat, nicht hat brechen lassen. Aber trotz allem ist er ein junger Mann und die machen manchmal Fehler. Damit meine ich gar keine großen Sachen, sondern eher Dinge, die aus Ungeduld oder unkontrollierter Begierde heraus entstehen. Sam ist für dich etwas Besonderes, aber deshalb ist er noch lange kein Heiliger. Ich möchte nur, dass du darüber nachdenkst. Damit du nicht vollkommen vor den Kopf gestoßen bist, wenn er einmal eine Grenze überschreiten sollte oder sich einfach dumm benimmt, wie junge Männer es nun einmal gern tun. Ich bin mir schon im Klaren darüber, dass ich dich nicht vor solchen Erfahrungen schützen kann, aber ich habe den Verdacht, dass die Fallhöhe im Fall Sam für dich außergewöhnlich hoch wäre.«

Ich wusste, dass meine Mutter vermutlich recht hatte und es zudem nur gut mit mir meinte. Trotzdem fühlte ich mich überfordert. Ihre Worte warfen ein Licht auf Sam, in dem ich ihn noch nicht zu sehen bereit war. »Unkontrollierte Begierde« - mir schwante, worauf sie hinauswollte. Ohne Zweifel hatte ich mir schon unzählige Male vorgestellt, wie Sams Oberkörper unter dem Shirt aussah. Bislang kannte ich jedoch nur meine eigene Begierde. Wie würde ich wohl reagieren, wenn Sam mich berührte? Keine zufällige Berührung, sondern ganz bewusst, vielleicht sogar fordernd? Erneut meldete sich mein Magen, dieses Mal allerdings nicht mit einem freudigen Hopser, sondern mit einem Gefühl, als hätte ich Eiswürfel verschluckt. Ein realer Sam, ein ganz gewöhnlicher Junge, der sich beim Küssen vielleicht ungeschickt anstellte … war es wirklich das, was ich wollte? Es war so einfach gewesen, ihn aus der Ferne zu lieben.

»Mama, Sam kommt am Sonntag doch nur zum Mittagessen. Er hat mir keinen Heiratsantrag gemacht oder so.« Damit wollte ich mich selbst mehr überzeugen als sie.

»Ich weiß«, sagte meine Mutter und schlang mir den Arm um die Taille. Dann schlugen wir den Weg zum Hafen ein, um nachzusehen, ob mein Vater und Rufus fertig fürs Abendessen waren.

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