14
Verführerisches Feuer
Lena stand vor dem Spiegel im Badezimmer und versuchte, ihr Haar zu einem Bauernzopf einzuflechten. Doch egal, wie sie es anstellte, immer entwischte ihr eine der kurzen Strähnen und stand zu Berge. »Mist«, fluchte sie zum hundertsten Mal.
»Hör mal, Lena. Ich sag ja sonst nie was zu deinem Äußeren. Aber grüne Punkerhaare zu einem Bauernzopf flechten zu wollen, ist irgendwie schräg.«
Lena zuckte mit den Schultern. »Mir egal. Ich will die Haare nicht ins Gesicht hängen haben, und unter einem Tuch wird es mir zu heiß.«
»Wie wäre es, wenn du deinen Reithelm einfach gleich aufsetzt?«
»Sehr lustig. Der Witz hätte auch von Rufus sein können.« Sobald sie den Namen aussprach, trübte ein Anflug von Traurigkeit Lenas Elan ein. Sie stand mit herabhängenden Armen da, das Gestrüpp auf ihrem Kopf war vergessen.
Entgegen ihrer Prognose war Rufus nicht sofort nach Hause zurückgekehrt, nachdem er den ersten Tag an einer Autobahnraststätte verbracht hatte, weil niemand die drei Jungs hatte mitnehmen wollen. So verwöhnt er auch sein mochte, diese Backpacker-Nummer machte ihm Spaß. Mein Bruder rief alle paar Tage durch, um mich über die skurrilen Geschichten, die ihnen offensichtlich ständig zustießen, auf dem Laufenden zu halten. Ich war so etwas wie sein lebendes Tagebuch. Allerdings hatte ich nach der Sache mit der Matratze in einem billigen Hotel, die nachts zum Leben erwacht war, weil so viel Viehzeugs drin lebte, beschlossen, selbst nie auf so eine Tour zu gehen. Das klang sogar aus der Entfernung alles sehr unappetitlich, auch wenn Rufus sich bestens amüsierte. Dies Art von Abenteuer war ganz und gar nach seinem Geschmack.
Auch mir fehlte Rufus mehr, als ich zugegeben hätte. Dass ich mich jemals über die stets offen stehende Zahnpastatube und die abrasierten Barthaare auf der Badematte, den dauerlaufenden Fernseher und die Sneaker-Armee in der Diele aufgeregt hatte, konnte ich mir schon gar nicht mehr vorstellen. Mir fehlten seine witzigen Kommentare, die Nachmittage, die wir quatschend auf dem Sofa verbracht hatten, und die Tatsache, dass man einen großen Bruder vor Ort brauchte, um kleine Schwester sein zu können. Trotzdem war ich froh, dass Rufus anscheinend keine Anstalten machte, seine Reise frühzeitig abzubrechen. Denn obgleich er die Albträume, die ihm so zugesetzt hatten, mit keinem Wort erwähnte, war ich mir sicher, dass sie nachgelassen hatten. Im Gegensatz zu mir gelang es ihm offensichtlich, aus dem Schatten zu treten, der unser Leben seit jener Mainacht verdunkelt hatte.
Ich trat hinter Lena und löste mit dem Kamm erst einmal das Chaos auf, das sie auf ihrem Kopf veranstaltet hatte. Als ich so dicht hinter ihr stand, roch ich, dass sie sich mit Rufus’ Aftershave eingesprüht hatte. Ich musste schwer schlucken, drängte meine Tränen aber erfolgreich zurück. Darin war ich mittlerweile eine wahre Meisterin. Es war schon ein Wunder, dass wir beiden Liebeskranken uns nicht gegenseitig runterzogen, sondern - still leidend - das Beste aus unserem gemeinsamen Sommer machten. Ohne Lena wäre ich gewiss wahnsinnig geworden. Weil sie ständig um mich herum war, kam ich gar nicht dazu, in meinem Kummer zu versinken und zuviel darüber nachzudenken, was Sam zugestoßen sein mochte. Dass ich ihr ebenfalls dabei half, damit fertig zu werden, dass Rufus für sie mehr denn je unerreichbar war, erleichterte mich ungemein.
Nachdem ich jede Menge Stylingcreme in ihr Haar gestrichen hatte, gelang es mir tatsächlich, einen Bauerzopf zu flechten, auch wenn der nur bis zu ihrem Nacken reichte. »Fertig. So kannst du dich wenigstens auf der Straße blicken lassen.«
Lena beäugte sich kritisch. »Für den Pferdestall wird es wohl reichen. Und du willst wirklich nicht mitkommen? Wir könnten Saskia anrufen und fragen, ob du auf Merlin ausreiten darfst, dann wären wir zusammen.«
»Nein, danke«, schoss es aus mir hervor. Das einzige Pferd, auf das ich mich hinaufwagte, war eine gutmütige Stute namens Vanderbilt. Nur war Vanderbilt jetzt trächtig und wollte sich gar nicht mehr rühren. Ich war es eh leid, gemächlich durch die Landschaft zu traben, während Lena mit Artemis die tollsten Sachen anstellte.
»Dann komm trotzdem mit, sonst bist du hier alleine. Reza meinte, sie käme frühestens am Nachmittag von ihrem Frauenpicknick zurück und dann müsste sie erst einmal ihren Sektrausch ausschlafen. Im Stall hängt doch immer jemand rum, mit dem man quatschen kann.«
»Ja, aber ich mag mir heute keine Fachsimpeleien über Pferde anhören. Es ist mir einfach zu heiß dafür. Ich bleibe schön im kühlen Haus und werde nach langer Zeit mal wieder den Pinsel schwingen.«
Seit Sams Verschwinden hatte ich keinen Stift mehr angefasst, schlicht aus der Furcht heraus, was ich wohl malen würde. Genau wie meinen Träumen traute ich der Malerei nicht mehr über den Weg. Ich hatte den Verdacht, dass ich nicht im Stande sein würde, einen Blumenstrauß zu malen, selbst wenn ich es mir fest vornahm. Es würde etwas anderes werden, etwas, das ich vielleicht nicht sehen wollte. Etwas Dunkles, das nach mir griff - wie in meinen Träumen.
»Das halte ich für eine gute Idee.« Lena schenkte mir ein Lächeln. »Weißt du schon, in welche Richtung es gehen soll?«
Eigentlich hatte ich die Malerei nur als Vorwand benutzt, um Lena abzuwimmeln, aber mit einem Mal erschien es mir doch wie eine lohnenswerte Herausforderung. Vielleicht war es an der Zeit, mich meinen Ängsten zu stellen. Konnte ja auch gut sein, dass der Blumenstrauß ein Blumenstrauß blieb. »Nein, noch nicht. Irgendwelche Vorschläge?«
Lenas Lächeln bekam eine gehässige Note. »Versuch es doch mal mit Aktmalerei. Dein Bruder hat ein paar interessante Fotos von dieser Jasmin, mit der er letztes Jahr etwas hatte, zwischen seinen CDs. Ein blöder Ort, um so etwas zu verstecken.«
Mir fiel kurz die Kinnlade herunter, dann verdrängte ich das, was ich da gerade gehört hatte. Es gab Dinge, die musste ich über meinen großen Bruder einfach nicht wissen. »Ich male ein paar Wolken, das ist so schön unverfänglich.«
»Wie du meinst. Also dann … bis später.«
Zum Abschied zog ich Lena an der Spitze ihres Zopfes. Sie stieß ein kurzes Quieken aus, dann verschwand sie auch schon um die Ecke.
Ermutigt kramte ich meine Malsachen hervor, die ich lieblos in die Schreibtischschublade geworfen hatte, als wären sie ein ausgedientes Spielzeug. Meine Finger fuhren über den Aquarellkasten und über die Schachtel mit der Kreide, doch zu guter Letzt entschied ich mich für den Kohlestift. Ich würde kein großes Projekt in Angriff nehmen, sondern mich erst einmal mit einer Skizze begnügen. Die perfekte Beschäftigung, denn der heutige Tag lastete besonders schwer auf meiner Brust: Es war Sams achtzehnter Geburtstag. Ich hatte das niemandem gegenüber erwähnt, weil ich es leid war, von allen aus den Augenwinkeln beobachtet zu werden. Lenas verstörter Ausdruck oder die Sprachlosigkeit meines Vaters waren zwar alles Beweise, wie sehr diese Menschen mich liebten und sich um mich sorgten, aber sie belasteten mich zu sehr. Ich brauchte alle meine Energie, um nicht zu verzweifeln.
Mit dem Zeichenblock unter dem Arm ging ich hinunter ins Wohnzimmer, das von der Wärme des Tages noch unberührt und fast zu kühl für meine nackten Schultern war. Der Garten stand in vollem Grün, die Sonne funkelte durch das Laub und warf tanzende Schatten.
Bei der Kücheninsel schenkte ich mir Eistee ein, wobei mir das glucksende Geräusch überdeutlich in den Ohren hallte. Es war ungewöhnlich still in unserem Haus: keine Reza, die das Radio aufgedreht hatte und zu Sambarhythmen die Blumenkübel auf der Terrasse neu arrangierte, keine Lena, die alles kommentierte, nicht einmal Pingpong ließ sich blicken. Vermutlich ließ die Katze sich irgendwo im Garten von der Morgensonne aufwärmen, nachdem sie sich die ganze Nacht herumgetrieben hatte. Die Stille verunsicherte mich. Schnell lief ich die Treppe hoch und holte mir Rufus’ iPod von Lenas Nachttisch, den sie in den letzten Wochen in Beschlag genommen hatte. Ihre Einschlafhilfe, wie sie mir verlegen eingestanden hatte. Hoffentlich würde die Musik auch mir helfen, nicht die Nerven zu verlieren.
Ich stellte die Abfolge der Songs auf Variation und wurde prompt von einer klaren Frauenstimme begrüßt. Es war ein ruhiges Stück, ganz bestimmt nicht das, was ich auf Rufus’ iPod erwartet hätte. Aber doch mit einer treibenden Kraft, die eine gewisse Unruhe in mir weckte. Vielleicht hatte Sam ihm das Stück ja draufgepackt, dachte ich hoffnungsvoll. Ich schaute auf die Songlist - Aimee Mann hieß die Sängerin.
The moth don’t care if the flame is real.
So come on, let’s go. Ready or not.
‘Cuz there’s a flame I know hotter than hot.
Bevor das Stück abbrach, drückte ich bereits auf Return, nahm meinen Zeichenblock und ging hinaus in den Garten. Auf dem Weg, der zu der Bank inmitten der Eiben führte, lag noch eine Spur von Tau. Hier duftete es nach Nadelgrün und Erdreich. Aber noch ein anderer Geruch stieg mir in die Nase, der lediglich eine Erinnerung war, und von dem ich nicht einmal wusste, ob ich ihn jemals wieder einatmen würde. Ich hatte nicht einmal einen passenden Namen für Sams Geruch. Wie leicht konnte es passieren, dass ich ihn vergaß? Wie lange würde es dauern, bis mir Sams Gesicht nur noch verschwommen vor Augen stand? Ich hatte nichts von ihm zurückbehalten, konnte mich nicht wie Lena mit seinem Aftershave einsprühen oder der Musik zuhören, die er für eine ruhige Stunde zusammengestellt hatte.
Als ich auf der Bank saß, auf der Sam und ich uns das erste Mal nahgekommen waren, drohte die Einsamkeit mich zu übermannen. Es fühlte sich an, als würde etwas in mir absterben, wenn ich mich nicht dagegen wehrte. Mit zitternden Fingern nahm ich den Kohlestift auf und begann zu zeichnen, bevor ich mich für ein Motiv entschieden hatte. Sogleich vergaß ich meine Einsamkeit und überließ mich ganz den Bewegungen des Stiftes, während Aimee Mann über die Liebe sang.
Schwarz auf weißem Grund zog die Kohle ihre Bahnen und ich ließ es einfach geschehen. Wie von selbst bedeckte der Stift das Papier, bis kaum noch eine Ecke frei war. Dann war meine Selbstversunkenheit mit einem Schlag beendet.
Ich keuchte auf. Mir war, als wäre ich aus einem tiefen Traum gerissen worden. Meine klammen Finger konnten den Stift nicht länger halten und er fiel mit einem Klacken auf den Kies. Unvermittelt begann ich am ganzen Leib zu zittern, als säße ich inmitten eines Schneesturms und nicht etwa in unserem sommerlichen Garten. Als ich die Skizze auf meinem Schoß betrachtete, zitterte ich noch mehr. Vom Papier aus blickte mich Sam an, so eindringlich, als ginge es um sein Leben. Aber er war in großer Ferne, schwarze Rauchfetzen wanden sich um seinen Körper, hielten ihn fest, versuchten, ihn von mir fortzuziehen. Sein Gesicht war der einzige helle Fleck in diesem wüsten Dunkel, in dem sich etwas zu bewegen schien. Mit einem Schlag begannen sämtliche meiner Nervenenden zu brennen. Ich kannte diese Bewegung, diesenumschmeichelnden Schatten, der sich plötzlich als Käfig herausstellte. Sams Narben hatten mir seinerzeit den Weg zu ihm gezeigt.
Ergriffen und zugleich unendlich erleichtert starrte ich die Zeichnung an. Ich hatte mich nicht geirrt: Sam war nicht tot - aber doch gefangen. Trotzdem wurde dadurch nichts leichter. Von dem Schatten ging etwas so Bedrohliches aus, dass mir der Atem stockte. Auf der Steilklippe war in jener Mainacht tatsächlich etwas Unaussprechliches passiert, nur, dass es jenseits der menschlichen Grausamkeit lag, die Jonas Bristol seinem Sohn zugefügt hatte. Ich selbst hatte eine Ahnung von dieser unheimlichen Macht bekommen, die da am Werk war, als Sams Narben jene unheilvolle Vision heraufbeschworen hatten.
Ich verstand nicht, um was es bei all dem ging, aber etwas in mir wusste mit derselben Gewissheit, mit der ich bereits vor Jahren als Kind erkannt hatte, dass Sam ein geheimer Zauber umgab: Wo immer Sam jetzt war, er würde zurückkommen. So, wie er es mir versprochen hatte. Schließlich hatte er den Bann des Schattens schon einmal gebrochen, damals, als er nach mir gegriffen hatte. Nur, wann das sein würde und wer er dann war, das wusste ich nicht. Mir blieb nichts anderes zu tun, als auszuharren, zu warten und zu hoffen, auch wenn ich beim Anblick des hellen Flecks, der sein Gesicht in der Zeichnung war, fast aufgefressen wurde von dem Verlangen, ihm zu helfen. So, wie es der Motte in dem Lied erging, so würde es auch mir ergehen: Ich konnte Sam nicht widerstehen, auch wenn mich die Liebe zu ihm wie ein Feuer verbrannte. Denn für mich war er unerreichbar.