25
Ende einer Freundschaft
Wir tauchten ein Stück entfernt von dem Segelboot meiner Familie auf. Kaum hatten wir die Wasserfläche in der Sphäre durchbrochen, zog Sam mich hinab in die kalte Strömung, sodass wir die Welt wie zwei ganz gewöhnliche Schwimmer betraten, die gerade auftauchten. Der unauffälligste Wiedereintritt, der möglich war. Falls uns in der hereinbrechenden Dunkelheit jemand beobachtet haben sollte, kratzte er sich wahrscheinlich am Kopf und fragte sich, warum er uns erst jetzt bemerkt hatte.
Klitschnass kletterten wir zurück an Deck und als Erstes rutschte ich auf den Holzplanken aus und landete auf meinem Hintern. Sogleich packte Sam mich unter den Achseln und zog mich hoch.
»Ist dir was passiert?«
Ich musste kichern, weil er so besorgt klang, während ich mich einfach nur albern fühlte. »Dieser blöde Met«, erklärte ich meine gute Laune.
»Der hat doch gar keinen Alkohol enthalten.« Zu meiner Erheiterung klang Sam noch besorgter.
»Das sagst du.« Meine Finger zupften an dem nassen Stoff seines T-Shirts, das wie eine zweite Haut an seinem Oberkörper klebte. »Vielleicht wirkt der Alkohol bei dir nur nicht mehr. Schließlich muss man für die Ewigkeit auch einen kleinen Preis zahlen. Sieht ganz so aus, als müsstest du sie nüchtern durchstehen, wie fies.« Ich wollte noch etwas anderes Erheiterndes zu diesem Thema hinzufügen, doch mittlerweile schlugen meine Zähne vor Kälte hörbar aufeinander.
Auch Sam war das nicht entgangen. »Wir sehen jetzt zu, dass du was Trockenes anziehst und einen Kaffee trinkst, bevor ich dich nach Hause begleite.«
Obwohl Sam mich sanft, aber bestimmt in Richtung Kabine schob, spielte ich mit dem Ausschnitt seines T-Shirts. »Gute Idee, ich brauche dringend jemanden, der mich ins Bett bringt.«
Endlich ging Sam auf meine Neckerei ein: Er nahm meine Hand und führte sie zu seinen Lippen. Erst gab er mir einen Kuss auf die Finger, dann biss er leicht zu. Es war nicht mehr als ein Knabbern, trotzdem jagte es mir einen Schauer über den Rücken. Ich stand stocksteif da. Bisse, auch wenn sie noch so zärtlich sein mochten, hatten bei mir bislang nicht auf der Agenda gestanden.
»Fühlst du dich wieder ein wenig nüchterner, du kleine Schnapsdrossel?« Jetzt war es Sam, der vergnügt klang. »Du solltest dir wirklich sicher sein, was du willst, bevor du mich herausforderst.«
Fieberhaft durchkramte ich mein Gehirn nach einer passenden Replik, da ging in der Kajüte plötzlich das Licht an. Ehe einer von uns beiden reagieren konnte, war Rufus bereits die Stiege hinaufgeklettert und stierte uns fassungslos an. Auf einer Seite standen seine Locken wie Spiralen ab, auf der anderen, auf der er bis eben gelegen hatte, lagen sie dicht an.
»Das träume ich ja wohl«, sagte mein Bruder mit heiserer Stimme.
Ich wollte freudig aufschreien und auf ihn zustürmen, da bemerkte ich den Ausdruck auf Rufus’ Gesicht: purer Zorn. Er starrte Sam an, der mich langsam aus seiner Umarmung freigab. Voller Verunsicherung darüber, dass mein Bruder in einer so feindlichen Haltung dastand und sich unübersehbar nur mit großer Mühe zusammenreißen konnte, trat ich auf ihn zu und streckte die Hand nach ihm aus. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist!«
Doch Rufus ignorierte mich noch immer. Erst als ich seine Schulter berührte, schien er mich überhaupt wahrzunehmen. Aber auch mich sah er bloß mit diesem Wut erfüllten Blick an, als hätte ich ihm soeben etwas Grausames angetan.
»Seit wann weißt du, dass er nicht tot ist?«
»Erst seit gestern, aber …«
Weiter kam ich nicht, denn wieder tat Rufus, als wäre ich Luft. Mit zu Fäusten geballten Händen hielt er auf Sam zu, in dessen Gesichtszügen die Anspannung zu lesen war.
»Wo hast du dich die letzten vier Monate verkrochen, du blöder Penner? Hast du dich bei irgendwelchen Verwandten versteckt, dich einfach tot gestellt oder schlicht vergessen, wer in St. Martin sitzt und kurz davor ist auszuflippen?« Rufus’ Stimme war nicht mehr als ein raues Flüstern. Als Sam nicht antwortete, stieß er ihn vor die Brust. Sam schwankte kurz, machte aber keinerlei Anstalten, sich zur Wehr zu setzen oder eine Antwort zu geben. »Hast du eigentlich überhaupt eine Ahnung, was hier nach deiner Klippennummer losgewesen ist? Mila und mir ist der Arsch auf Grundeis gegangen, weil wir nicht mit der Sache klargekommen sind. Ein Anruf wäre echt nicht zuviel verlangt gewesen, aber offensichtlich sind wir dir ja scheißegal. Oder zumindest ich bin es dir.«
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Sam endlich, aber das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben und ich erkannte die Qual in seinen Augen, weil er Rufus keine Erklärung geben konnte.
Mein Bruder zog unterdessen seine eigenen Schlüsse. »Lüg nicht rum. Du hast dich aus dem Staub gemacht und nicht einen Gedanken an uns verschwendet. Wenn das nicht so ist, dann erklär mir jetzt doch bitte einmal, was dich in den letzten Monaten davon abgehalten hat, uns ein Zeichen zu geben, dass du tatsächlich nicht als Möwenfraß geendet bist. Koma? Zeugenschutzprogramm? Entführung durch Außerirdische? Nein, nichts? Keine Erklärung, außer der, dass du ein Scheißfeigling bist? Und egoistisch noch obendrein.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung gewesen, nachdem Sams Miene sich immer weiter versteinert hatte.
»Auf deine Selbstgerechtigkeit kannst du dir wirklich was einbilden«, warf ich meinem Bruder an den Kopf und stellte mich wieder an Sams Seite. Diese Geste der Verbundenheit kam bei Rufus gar nicht gut an. Als er mich am Oberarm packte und zu sich ziehen wollte, löste sich Sam aus seiner Erstarrung.
»Lass deine Wut nicht an Mila aus.«
Unter Rufus’ Wangenknochen zuckte es beträchtlich. Offensichtlich geriet sein Zorn ein Stück ins Wanken. »Das habe ich überhaupt nicht vor, schließlich hast du ihr ja schon genug wehgetan.«
»Dir scheinbar auch, was mir sehr leid tut, aber ich kann es nicht ändern. Ich hatte keine andere Wahl, Rufus. Du kennst mich doch gut genug, um zu wissen, dass ich euch auf keinen Fall willentlich im Unklaren gelassen habe.«
Einen Moment lang dachte ich, mein Bruder würde weich werden. Doch dafür hatte er zu sehr gelitten. Endlich hatte er für all die angestaute Wut und Verzweiflung ein Ventil gefunden: Sam. »Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du nicht lügst. Wenn du mir also keinen anderen Grund lieferst, kann ich doch nur davon ausgehen, dass du bloß zu gleichgültig warst, um dich zu melden.«
Beinahe reglos stand Sam da, wäre da nicht das leichte Beben in seinen Schultern gewesen. »Denk, was du willst«, sagte er schließlich. »Aber wenn du mir einen Gefallen tun willst, behalt vorläufig für dich, dass ich wieder da bin.«
»Warum? Planst du eine Rückkehr mit Pauken und Trompeten? Achtung, alle herschauen: Der großartige Sam ist wieder da! Was, ihr habt um mich getrauert? Na, vielen Dank, aber jetzt bin ich ja zurück. Also, bitte keine Fragen, und weiter geht’s.«
Für den Bruchteil einer Sekunde flammten Sams Strahlen lichterloh auf, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Du bist in den letzten Jahren mein engster Freund gewesen. Eigentlich hätte ich erwartet, dass du besser von mir denkst. Ich verstehe, dass die letzten Monate alles andere als leicht für dich gewesen sind, aber glaub mir, ich hatte einfach keine andere Wahl - ob dir das nun passt oder nicht.«
Zuerst schien Rufus wie benommen von dem unerklärlichen Lichtblitz, der ihn geblendet hatte, aber dann schüttelte er sich und sagte: »Ich gebe dir eine Woche Zeit, alles geradezurücken und den Leuten, die sich Sorgen um dich gemacht haben, Bescheid zu sagen. Sonst tue ich es. Nur, ganz gleich, wie deine Erklärung lauten wird, unsere Freundschaft kannst du ab heute vergessen.«
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Sam hingegen blickte ihn prüfend an, dann nickte er zustimmend. »Wie du meinst.«
Nach einem kurzen Zögern, als hätte ihn Sams widerstandslose Zustimmung aus dem Gleichgewicht gebracht, streckte Rufus fordernd die Hand aus. »Das ist übrigens mein T-Shirt.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog Sam es sich über den Kopf und gab es Rufus. Ehe er sich zum Gehen abwendete, streichelte er mir noch kurz über die Wange und ich konnte den Kummer in seinen Augen sehen. Hinter uns keuchte Rufus überrascht auf, als er Sams Rücken im fahlen Kabinenlicht sah.
»Ich komme morgen Abend zu euch in den Garten, sobald es dunkel geworden ist«, flüsterte er mir zu.
»Sam …« Ich versuchte ihn festzuhalten, doch er entwand sich meinem Griff.
»Bis morgen«, sagte er noch einmal, dann war er gegangen.
Ich blieb zurück mit einer Ahnung von dem Schmerz, den Rufus’ Reaktion ihm zugefügt hatte, und einem Bruder, dessen Wut immer noch nicht verraucht war. Zwar verstand ich ungefähr, warum Rufus so und nicht anders reagiert hatte, aber das änderte nichts daran, dass ich ihn am liebsten nach allen Regeln der Kunst angeschrien hätte. Doch ich erinnerte mich selbst daran, wie sehr ich ihn vermisst hatte, und holte erst einmal kräftig Luft, bevor ich zum Sprechen ansetzte.
»Das war gar nicht gut«, ließ ich meinen Bruder wissen.
»Nein, das war gar nicht gut, was Sam da angestellt hat, auch wenn du das vor lauter Verknalltsein anders sehen magst.« Dabei klang Rufus allerdings gar nicht mehr so überzeugt. »Was zum Teufel hat der Kerl mit seinem Rücken angestellt?«
»Die Antwort würde ziemlich kompliziert ausfallen. Und wie du soeben mit zwei, drei Sätzen bewiesen hast, bist du an einer komplizierten Antwort nicht interessiert, wo du dir doch schon alles so schön zurechtgelegt hast.«
Mein Bruder fuhr sich rabiat durchs Haar, bis seine Locken zu beiden Seiten gleichermaßen abstanden. »Hör mal, ich bin allein von Lissabon zurückgetrampt, weil ich dich an deinem Geburtstag überraschen wollte. Leider bin ich unterwegs hängen geblieben, eine wirklich blöde Geschichte. Jedenfalls komme ich erst heute an und finde zu Hause deine Nachricht, dass du am Hafen bist. Ich warte also eine halbe Ewigkeit an Bord, wundere mich, wo in aller Welt du geblieben bist, und als du endlich auftauchst … Aber können wir das jetzt mal kurz vergessen?«
Obwohl die widerstreitenden Gefühle in mir wie ein Kessel voller Lava brodelten, zuckte ich mit den Schultern. »Okay.«
Rufus verdrehte die Augen, dann nahm er mich in den Arm und sofort brach der Rest meiner Abwehr zusammen. Es war so gut ihn wiederzuhaben, so nah bei mir. Ich schmiegte mein Gesicht an seine Schulter und schnüffelte unauffällig. Er roch zwar immer noch nach dem Rufus, den ich kannte, aber auch ein bisschen fremd, wie jemand, der die große weite Welt kennengelernt hatte. Zu meiner Verwunderung unternahm er keinerlei Versuche, die Umarmung aufzugeben, sondern schloss mich vielmehr noch fester in seine Arme. Schließlich lösten wir uns wieder von einander und er blinzelte mich an.
»Vielen Dank, nun sind wir beide nass.«
Erst jetzt dachte ich wieder an meine tropfenden Klamotten und wie auf Bestellung begann ich zu frösteln. »Ich sollte wohl zusehen, dass ich mir was anderes anziehe, sonst bekomme ich noch eine dieser fiesen Sommererkältungen.«
Auf dem Weg in die Kabine sagte Rufus: »Du kannst ja mein Geburtstagsgeschenk anziehen. Das Paket müsste, im Gegensatz zu mir, ja wohl rechtzeitig angekommen sein.«
Wie auf Kommando blieb ich stehen und er prallte gegen mich. »Ja, ist es. Herzlichen Dank übrigens, du Hampelmann.«
Rufus schenkte mir dieses selbstgefällige Grinsen, von dem ich nie im Leben gedacht hätte, dass es mich glücklich machen könnte, es wieder zu sehen. »Du solltest das T-Shirt tragen, solange der Schriftzug noch aktuell ist«, sagte er. »Jetzt, wo Sam wieder da ist.«
Kurz befürchtete ich, allein bei diesem Namen könnte seine Wut wieder aufflammen, aber Rufus amüsierte sich viel zu gut über seinen eigenen dummen Scherz. Also bohrte ich meine Finger zwischen seine Rippen und empfand absolute Genugtuung, als ich den kleinen Ringkampf auf der Stiege gewann. Nun, vermutlich ließ mich mein großer Bruder bloß gewinnen.