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Liebesblind

Am Abend lag ich noch lange wach, den Kopf voll mit Sam und unserer Verabredung. Als es mir schließlich gelang einzudämmern, stiegen unvermittelt Erinnerungsfetzen auf. Die Symbole auf Sams Haut, die sich zu einer schwarzen Mauer verdichteten, die mich von ihm trennte. Schwarz und Weiß, einander verdrängend, verschlingend. Eine graue Hand, deren Griff ich mich allen Anstrengungen zum Trotz nicht entwinden konnte. Ich wälzte mich herum, bis mein Körper zu schmerzen anfing. Irgendwann schlief ich dann wohl doch ein, denn der Freitagmorgen kam früher als erwartet. Pingpong hockte auf meiner Brust und schnurrte, als ginge es um ihr Leben. Durch die Ritzen der Vorhänge drangen bereits erste Sonnenstrahlen. Ich ließ mich samt Katze auf die Seite gleiten und versenkte mein Gesicht in Pingpongs orangefarbenem Pelz. Als Belohnung wurde noch lauter geschnurrt. Wie konnte man einem solchen Weckdienst böse sein?

Im Badezimmer hörte ich das Duschwasser prasseln, Rufus war also ebenfalls ungewöhnlich früh wach. Eine heiße Dusche konnte ich auch vertragen, mir tat nämlich dank der unruhigen Nacht der Nacken weh. Mühsam quälte ich mich aus dem Bett, Pingpong in meine Armbeuge geklemmt, und stellte mich vor den Kleiderschrank. Meine Finger wanderten über Shorts, T-Shirts und meinen Lieblingskapuzenpulli, den man gut überziehen konnte, wenn vom Meer her ein kühler Wind wehte. In diesem Jahr hatte der Frühling zwar ungewöhnlich früh Einzug gehalten, aber sommerlich warm war es an der Küste deshalb noch lange nicht.

Bequeme Klamotten waren genau das Richtige, wenn man den Feiertag auf einem Segelboot verbrachte. Aber eher nicht das Richtige für ein Stranddate mit einem Jungen … Ich spielte mit dem Gedanken, Lena auf ihrem Handy anzurufen und sie um Rat zu bitten. Ein Blick auf die Uhr verriet mir jedoch, dass sie die längste Zeit meine Freundin gewesen wäre, wenn ich sie um diese Uhrzeit aus dem Bett klingelte.

Mein Blick fiel auf das Top mit einem für meine Verhältnisse tiefen Ausschnitt, das ich mir gerade erst gekauft hatte. Es würde perfekt zu dem Rock meiner Mutter passen, den sie immer trug, wenn sie mit meinem Vater eines der Promenadenrestaurants besuchte. Durchaus verführerisch mit seinem schwingenden Stoff, aber eher schick. Reza würde sicherlich nichts dagegen haben, wenn ich ihn mir auslieh. Oder war es übertrieben, sich heute anders als in der Schule anzuziehen? Da fiel mir Sams Blick wieder ein, als er mich am Sonntag in diesem Blümchenkleid gesehen hatte, und der Entschluss war gefasst: Ich würde Top und Rock in eine Tasche packen und mitnehmen. Falls mich der Mut bis zum Nachmittag verlassen haben sollte, konnte ich Sam einfach in meinen alten Segelklamotten treffen.

In der Dusche lief immer noch das Wasser und langsam verlor ich die Geduld. Ich klopfte an die Tür.

»Hey Rufus, wie lange soll das denn noch dauern? Bist du unter dem Wasserstrahl eingeschlafen?«

Als Antwort bekam ich nur ein geknurrtes »Hau ab!« zu hören.

Wütend öffnete ich die Tür - dank meiner Hippiemutter lebten wir in einem schlüsselfreien Haushalt - und trat in eine Wasserdunstlandschaft. Hinter dem beschlagenen Duschglas sah ich die Silhouette meines Bruders, die gleichzeitig mit mir nach der Kabinentür griff. Ich war schneller und riss die Tür auf. Nebelschwaden schlugen mir entgegen.

»Spinnst du? Mach wieder zu, das ist schweinekalt.« Rufus’ Stimme klang verwirrend heiser. Er griff nach der Tür und wollte sie mit Gewalt zuziehen, aber ich ließ nicht locker.

»Du bist hier nicht der einzige Mensch, der sich fertigmachen will. Also, raus jetzt.«

Rufus rangelte noch kurz mit mir, aber offensichtlich brachte er nicht ausreichend Energie auf, um mich wirklich loszuwerden. Schimpfend stellte er das Wasser ab und schnappte sich das Handtuch, das ich ihm hinhielt. »Kann ich mich hier wenigstens noch in Ruhe anziehen? In meinem Zimmer ist es mir zu kalt.«

»Nein, kannst du nicht.« Demonstrativ riss ich das Fenster auf. Rufus funkelte mich aus rot unterlaufenen Augen an. »Was hast du da am Hals?«, fragte ich ihn und deutete auf die beiden münzgroßen Blutergüsse.

Es brauchte einen Moment, bis meine Frage ihren Weg durch Rufus’ verkorkste Gehirnwindungen gefunden hatte, dann schnellte er herum und wischte mit dem Handtuch den Dunstfilm vom Spiegel. Während er die Knutschflecke von allen Seiten begutachtete, tropfte er den Boden voll. Ich würde achtgeben müssen, damit ich mir später nicht das Genick in dieser Pfütze brach.

»Hat Julia dir ihr Zeichen aufgedrückt, damit du als ihr Besitz gekennzeichnet bist?« Ich konnte ein Kichern nur mühsam unterdrücken.

Statt einer Antwort begann Rufus an seinem Daumennagel zu knabbern, den Blick immer noch fest auf sein Spiegelbild gerichtet.

»Das war gar nicht Julia, richtig? Bist du gerade erst nach Hause gekommen?«

Rufus schlang sich das Handtuch um die Hüften und ging in sein Zimmer, ohne mich weiter zu beachten. Ich folgte ihm trotzdem. Er stellte das Radio an und stieg in seine Jeans, griff sich ein T-Shirt und setzte sich auf das gemachte Bett.

»Du fliegst allein schon deshalb auf, weil Mama im Leben nicht glauben wird, dass du dein Bett selbst gemacht hast.«

»Ich bin zufällig volljährig, schon vergessen? Ich kann machen, was ich will.«

»Und was genau hast du gemacht?« Rufus wrang das T-Shirt in seinen Händen, als wolle er ihm den Hals umdrehen. »Na komm schon, erzähl es mir. Dann leihe ich dir auch ein Halstuch für deine Schandmale. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob man den oberen verstecken kann. Den hat deine neue Freundin dir wirklich gut gesetzt.«

»So ein Scheiß, verflucht.« Rufus ließ sich auf den Rücken fallen. »So war das eigentlich nicht geplant. Wir wollten nur ein wenig um die Häuser ziehen, schauen, wie die Stimmung ist. Am Strand war dann auch gut was los. Irgendwie bin ich versackt. Lagerfeuer, Freibier, die Nacht war richtig mild. Ich weiß auch nicht.«

Ich konnte es mir lebhaft vorstellen, der Feiertag zog immer jede Menge junge Leute von überall her an. Sie zelteten wild am Strand und hinterließen, wenn sie schließlich wieder abreisten, eine Spur der Verwüstung. »War Sam auch dabei?«

Rufus richtete sich wieder auf. »Hast du zufällig noch etwas anderes im Kopf außer Sam?« Ich blinzelte verlegen, während mein Bruder sich endlich das T-Shirt über den Kopf zog. »Nein, dein geliebter Sam war nicht dabei. Was ich ordentlich daneben fand, denn eigentlich waren wir für den Abend verabredet. Aber er hat was mit dem Knie und kann wohl kaum laufen. Ich wette, bis heute Nachmittag hat er sein kaputtes Knie bereits wieder vergessen. Ihr trefft euch doch, nicht wahr?«

Obwohl es mir schwerfiel, hielt ich Rufus’ anklagendem Blick stand. Er sah als Erster weg, stand auf und nahm einen Bilderrahmen von der Wand, in dem eine Sporturkunde steckte. Brummend betrachtete er in der spiegelnden Glasfläche erneut die Blutergüsse an seinem Hals. »Reza wird mir dafür den letzten Nerv rauben, vor allem, wenn Julia wieder einmal ausflippt und vor unserer Haustür Protestzelten macht. Dieses Mal wird sie bestimmt darauf bestehen, dass ich mich beim Arzt durchchecken lasse.«

»Julia oder Mama?«

Rufus verdrehte die Augen. »Reza natürlich. Julia ist viel zu dämlich, um auf solche Ideen zu kommen.«

»Wie wäre es dann, wenn du dir zur Abwechslung mal eine Freundin suchen würdest, die dir das Wasser reichen kann?«

»Julia ist nicht meine Freundin.«

Ich zeigte meinem Bruder mit einer schlichten Geste, wie ich seine Einstellung fand, nämlich zum Kotzen, und ging dann schnurstracks ins Badezimmer. Von Menschen, die niedere Instinkte einer Liebesbeziehung vorzogen, hatte ich eindeutig genug. Rufus in seinem Elend tat mir kein bisschen leid, und dass Reza ihm gewiss den Kopf waschen würde, und zwar nicht nur wegen der Krankheiten, die man sich mit solchen Nummern locker einfangen konnte. Warum die harmonische Ehe meiner Eltern bei Rufus offensichtlich so gar keinen Eindruck hinterlassen hatte, war mir ein Rätsel. Aber keins, das ich sofort lösen musste. Heute würde ich mich mit einem viel verwirrenderen Rätsel auseinandersetzen: mit Sam.

Der Tag zog sich quälend in die Länge. Zwar versuchte mein Vater so unbefangen wie möglich mit mir umzugehen, nur machte es das nicht unbedingt leichter. Seine Gereiztheit ließ er stattdessen nämlich an Rufus aus, bis der wortlos das Werkzeug auf die Bootsplanken knallte und die Ewer verließ. Mein Halstuch trug er dabei sorgfältig um den Hals geschlungen, obwohl es ihm vor Rezas Argusaugen nicht viel gebracht hatte. Wie erwartet hatte es eine riesige Auseinandersetzung am Frühstückstisch gegeben.

Nach Rufus’ Abgang schwieg mein Vater, während Reza lesend am Bug saß und ich in meinem Vokabelheft herummalte, statt Latein zu lernen. Die gedrückte Stimmung an Bord und meine Aufregung vermischten sich zu einem Gebräu, das sich wie ein Betäubungsmittel auswirkte. Vielleicht war es auch besser, denn so konnte ich wenigstens nicht die Nerven verlieren. Als es auf fünf Uhr zuging, verschwand ich unter Deck, um mich umzuziehen.

»Ich geh jetzt zum Strand. Ich wünsche euch beiden noch viel Spaß.«

Doch so leicht entkam ich meinen Eltern nicht. »Lass dich mal anschauen«, sagte Reza und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Du siehst einfach umwerfend aus. Der Rock war eine Superidee. Eigentlich fast zu schade für einen schlichten Rummelbesuch.«

Mein Vater hingegen gönnte mir lediglich einen hastigen Blick, ehe er wieder zu hämmern begann. »Viel Spaß, aber komm keine Minute später als verabredet zum Denkmal. Sonst setze ich die Strandaufsicht auf euch an.«

»Daniel.« Rezas Ton war leise, aber bestimmt. Augenblicklich stand mein Vater auf und fuhr sich mit der Hand über den Bart, während er mich nun doch richtig anschaute. »Siehst hübsch aus, viel zu hübsch für diesen Kerl. Trotzdem hoffe ich, dass du eine schöne Zeit hast. Wenn nicht, breche ich Sam das Genick. Das kannst du ihm zur Motivation ausrichten.«

Meine Mutter schnappte vor Empörung nach Luft.

»Was denn?«, hielt Daniel dagegen. »Du wolltest doch, dass ich zu meinen Gefühlen stehe und trotzdem unser Mädchen unterstütze. Das mit der schönen Zeit habe ich ernst gemeint. Aber Punkt neun Uhr treffen wir dich am Denkmal, und keine Sekunde später. Sam gehört nur der Nachmittag, abends gehörst du wieder der Familie, wir schauen uns das Feuerwerk gemeinsam an - und zwar ohne dieses Mathegenie.«

Bevor mein Vater richtig dazu übergehen konnte, mir seine Gefühle in Bezug auf Sam zu offenbaren, sah ich zu, dass ich vom Schiff runterkam. Selbst als ich bereits den Kai entlangeilte, hörte ich noch die aufgebrachte Stimme meiner Mutter. Ihre beiden Männer machten es ihr heute wirklich nicht leicht.

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