13

Glaubensfrage

Was dort auf dem Grat gelegen hatte, war ein Stück von Sams kleinem Finger gewesen. Dass es tatsächlich Sams war, ebenso wie die Spitze eines Ringfingers, die die Polizei im Sand ebenfalls gefunden hatte, und wie auch das Blut, das an dem sichergestellten Messer und an Rufus’ T-Shirt klebte, stellte sich einige Tage später als Gewissheit heraus. Es waren die letzten Spuren, die Sam hinterlassen hatte, obgleich die Küstenwache tagelang unterwegs gewesen war, um ihn zu suchen. Die Klippen, sagte man. Die Strömung.

Ich hörte all das und ich hörte es auch wieder nicht. Macht ihr nur, dachte ich mir. Sucht ruhig nach ihm. Aber ihr sucht am falschen Platz, denn Sam ist nicht fort, ihr findet ihn bloß nicht. Mir erging es da allerdings nicht besser: Ich wartete auf ein Zeichen von ihm, auf eine heimliche Nachricht, doch es kam nichts. Auch für mich war Sam verschwunden. Wenn ich nicht so fest daran geglaubt hätte, dass Sam viel zu besonders war, um sich von seinem vom Suff verrückt gewordenen Vater umbringen zu lassen, wäre ich schlicht zusammengebrochen.

Meine Mutter schloss mich immer wieder in die Arme und flüsterte mir ins Ohr, was für ein tapferes Mädchen ich doch sei. Ich ließ es zu und schwieg mich aus. Hätte ich ihr meine geheime Überzeugung anvertraut, wäre der Zauber sofort zerbrochen. Nur ich wusste, dass Sam zwei Gestalten in sich trug: die des Jungen, der mich am Strand geküsst hatte, und jene strahlende Gestalt, die ich als Elfjährige zum ersten Mal gesehen hatte. Dieses Strahlen, da war ich mir ganz sicher, hatte Sam davor bewahrt, wie ein normaler Sterblicher über den Klippenrand zu stürzen und unter den Wellen begraben zu werden. Aber selbst meine Mutter hätte mich für verrückt erklärt, wenn ich ihr das anvertraut hätte.

Außerdem hatte meine Mutter in den Tagen nach Sams Verschwinden wohl kaum die Kraft, sich mit meinen Ahnungen auseinanderzusetzen. Zwar war Rufus körperlich nichts Schlimmeres als die Platzwunde an der Stirn zugestoßen, doch seine Erinnerung an die Ereignisse oben auf der Steilküste setzte nur allmählich und bruchstückhaft wieder ein, und das machte ihm sehr zu schaffen.

Sam und er hatten den späten Abend gemeinsam oben auf der Steilklippe verbracht, fernab vom allgemeinen Trubel. Sie hatten ein Lagerfeuer gemacht und geredet. Aber die meiste Zeit hatten sie einfach hinaus aufs dunkle Wasser geblickt. Es wäre alles ganz entspannt gewesen, hatte Rufus den Polizeibeamten erzählt und so war es später auch in unserm örtlichen Käseblatt zu lesen gewesen. Es hätte keinerlei Anzeichen gegeben, dass Sam irgendetwas beunruhigt hätte. Irgendwann musste Rufus eingedöst sein, denn er bemerkte Jonas Bristol erst, als Sam bereits aufgesprungen war. Er versuchte, seinen Vater zurückzudrängen, doch sein verletzter Arm machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Als Rufus ihm zu Hilfe eilen wollte, verpasste Bristol meinem Bruder einen solch brutalen Schlag ins Gesicht, dass er zu Boden ging. Als Rufus wieder zu sich kam, sah er das Messer in Bristols Hand aufblitzen. »Du bleibst, wo du bist«, schrie Bristol seinen Sohn aus Leibeskräften an und versuchte, dessen verletzten Arm zu greifen, doch der wehrte ihn ab. Als Sam den Arm ein weiteres Mal vorstreckte, um seinen Vater auf Distanz zu halten, holte dieser mit dem Messer aus und schlug ihm zwei Finger seiner linken Hand ab. Das Letzte, woran Rufus sich erinnern konnte, war sein eigener Schrei.

All das hatte ich von meinen Eltern erfahren und in der Zeitung nachgelesen, denn in den ersten Tagen, nachdem die Polizei Rufus in die Mangel genommen hatte, wollte er niemanden sehen. Nur Reza durfte sich in seiner Nähe aufhalten, was Daniel bekümmerte, auch wenn er sich nichts anmerken ließ. Als Rufus sein Zimmer wieder verließ, sah er viel zu elend aus, als dass jemand von uns ihn bedrängt hätte. Ich weiß nicht, ob meine Eltern sich instinktiv richtig verhielten, oder ob sie einfach viel zu schockiert darüber waren, wie unvermittelt das Grauen über unsere Familie hereingebrochen war. Aber ich hatte das Gefühl, dass ihre ruhige und besonnene Art es uns Kindern leichter machte, als wenn sie uns ständig auf den Zahn gefühlt hätten. Sie vertrauten uns und wir vertrauten darauf, dass sie uns sofort helfen würden, wenn wir es wollten.

Dass Rufus bei der Erinnerung an den Abend ausgerechnet das letzte, entscheidende Puzzlestück fehlte, trieb ihn in den Wahnsinn. Und nicht nur ihn, sondern auch die Polizei von St. Martin, die außer zwei abgeschlagenen Fingern, einem verstörten Zeugen und einem Tatverdächtigen, dem der Alkohol fast das Gehirn zerfressen hatte und der nur noch Unsinn von sich gab, nichts zu bieten hatte.

Jonas Bristol war noch am selben Tag, als Sam spurlos verschwunden war, aufs Revier gebracht worden. Wie sich herausstellte, hatte er einige Tage zuvor seinen Job am Hafen verloren und seitdem nichts anderes getan, als zu trinken. Die meisten seiner Saufkumpane hatten ausgesagt, dass sie sich von Bristol ferngehalten hätten, weil er ihnen Angst gemacht hätte. Nicht etwa, weil er so aggressiv gewesen wäre - das war Bristol offenbar auch ansonsten stets -, sondern weil er solch wirres Zeug geredet hatte. Von sich auftuenden Pforten habe er geredet, die geschlossen werden mussten. Von der drohenden Flut, schwarz wie Pech, von der ihm ein Schatten, nein, der Schatten zugeflüstert hatte, in den Nächten, in denen Jonas’ Träume direkt in die Hölle führten. Niemand hatte recht verstanden, was der Mann eigentlich wollte. Es hatte wohl auch niemanden wirklich interessiert. Nun saß Jonas Bristol in Untersuchungshaft, im Verdacht, seinem Sohn nicht nur aufgelauert und ihn angegriffen zu haben, sondern dafür verantwortlich zu sein, dass dieser über die Klippe gestürzt war. Aus dem Mann selbst war kein vernünftiges Wort mehr herauszubringen.

Für die Menschen in St. Martin passte es zu dem, was Rufus zu Protokoll gegeben hatte. Auch bei uns an der Schule gingen alle davon aus, dass Sam in den Tod gestürzt war. Was sonst? Ich ließ all das an mir abprallen, genau wie die mitleidigen oder neugierigen Blicke, mit denen mich einige Mitschüler verfolgten - weil ich Rufus’ Schwester war, oder weil mich einige auf der Frühlingsfeier am Strand mit Sam zusammen gesehen hatten. Auch Lena beobachtete mich ununterbrochen aus den Augenwinkeln, seit sie mir - kaum dass sie mit ihren Eltern von der Wochenendfahrt zurückgekommen war - zu Hilfe geeilt war und mich in die Arme geschlossen hatte.

»Sam ist nicht tot«, erklärte ich ihr unumwunden, während ich so stocksteif dastand, wie sie es ansonsten bei meinen Umarmungen immer tat. »Das weiß ich.«

Lena konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Vermutlich hielt sie mich für besonders tapfer, wie alle anderen auch, weil ich jedes Zeichen von Trauer verbarg. Die still Trauernde. »Woher willst du das wissen?«

Ohne es zu wollen, begann ich zu blinzeln. Lena hatte recht, ich wusste es nicht und ich konnte ihn auch nicht spüren. Da, wo einst Sams Platz in meiner Welt gewesen war, war nun eine Leere. Aber so sah der Tod nicht aus.

»Ich weiß es eben«, erwiderte ich, aber es schlich sich ein Zögern ein, das mir nachts den Schlaf zu rauben begann und mich tagsüber betäubte, obwohl ich mich mit aller Kraft dagegen wehrte. Wenn ich Zweifel zuließ, würden alle Dämme in mir brechen, und dann wäre Sam tatsächlich für immer fort. Verloren. Also schwieg ich und verbannte jeden Gedanken und jedes Gefühl aus mir.

Nur einmal sah es so aus, als könnte ich dem Druck nicht länger standhalten. Die Pfingstfeiertage standen vor der Tür und meine Eltern hatten Rufus und mich für einige zusätzliche Tage aus der Schule genommen, um auf einen Segeltörn zu gehen. Normalerweise hätte ich mich gegen ein solches Unternehmen gesträubt und versucht, die Tage bei Lena unterzukommen. Aber im Augenblick brauchte ich die Nähe meiner Familie mehr, als ich mir eingestehen wollte. Die Sanftheit meiner Eltern und Rufus’ Gegenwart, dem es in seiner Schweigsamkeit nicht anderes erging als mir, waren wie ein Schutzraum. Was auch immer Sams Verschwinden in mir ausgelöst hatte, ich konnte mich dem einfach noch nicht stellen. Diese Menschen wussten darum und allein das half mir.

Nachdem das Frühjahr mit überraschend schönem Wetter gestartet war, hing nun ein undurchdringliches Wolkenband am Himmel und der Wind hatte deutlich aufgefrischt. Entgegen meinen sonstigen Erfahrungen stellte sich auf diesem Segeltörn keine Übelkeit ein und ich war sogar jedes Mal froh, wenn meine Eltern eine Aufgabe für mich hatten. Rufus ging es nicht besser, denn sobald er einmal seine Apathie abgestreift hatte, lief er über Deck wie ein Aufziehmännchen. Nur die Zähne bekam er nicht auseinander und unter seinen Augen zeichneten sich die gleichen schwarzen Balken ab wie unter meinen.

Gleich in der ersten gemeinsamen Nacht in der Kajüte - ich lag in der Koje über ihm - hatte ich herausgefunden, dass mein Bruder nur schlecht in den Schlaf fand, und wenn er denn einschlief, wälzte er sich unruhig hin und her, bis er keuchend hochfuhr. Ich lag mit geschlossenen Augen über ihm und wehrte die Trostlosigkeit ab, die nach mir griff. Jeder von uns kämpfte seinen eigenen Kampf und so, wie es aussah, würden wir beide nicht mehr lange durchhalten.

In einer Nacht jedoch konnte ich meine Distanz nicht länger aufrechterhalten. Rufus war nach einigem Gewälze in einen unruhigen Schlaf gefallen, während das Segelschiff im Rhythmus der aufgewühlten See tanzte. Noch sperrte ich mich erfolgreich gegen die Müdigkeit, da sich meine Träume in vermintes Gelände verwandelt hatten. In ihnen gab es keinen Sam, der mir die Hand entgegenstreckte, sondern nur sich windende Schatten, die sich um mich legen wollten wie eine zweite Haut. Diese Albträume waren schwache Abbilder der Vision, die ich damals während der Nachhilfe gehabt hatte. Nur, dass dieses Mal kein Sam da sein würde, um mich zu befreien, sollte ich mich wieder darin verlieren. Trotzdem zerbröckelte mein Widerstand allmählich. Bevor mich allerdings der Schlaf übermannte, drang ein schwaches Keuchen zu mir nach oben, bei dem ich sofort hellwach war. Genau dieses Geräusch hatte Rufus von sich gegeben, als er die Erinnerung an das Geschehen auf der Steilklippe erzwungen hatte. Als würde er Schmerzen leiden.

In der Dunkelheit der Kajüte glitt ich aus meiner Nische und schlüpfte neben Rufus auf die schmale Pritsche. Das T-Shirt meines Bruders war nass geschwitzt und er atmete in schnellen Stößen.

»Bist du wach?«, fragte ich ihn, da er sich trotz meiner Berührung nicht regte.

»Ja«, antwortete Rufus erst nach einer ganzen Weile. »Und ich weiß nicht, ob ich das jetzt gut oder scheiße finden soll.«

»Geht mir genauso.«

Ich presste meine Stirn gegen seinen Oberarm und wehrte mich gegen die Tränen, die sich endlich nach so vielen Tagen ihren Weg freikämpfen wollten. Noch nicht, es war noch nicht die richtige Zeit dafür, ihnen nachzugeben. Erst wenn die Sache entschieden war, würde ich Tränen zulassen, entweder vor Glück oder aus Trauer. Aber solange nichts entschieden war, würde ich mich auch nicht fallen lassen.

»Ist er wirklich tot, Mila?« Rufus’ Stimme klang erschöpft, aber auch wütend, als würde er seinem Schicksal das Herz herausreißen, wenn er nur die Chance dazu hätte. »Warum kann ich mich an den ganzen Dreck erinnern, den Sams Vater angestellt hat, nur bei der einen entscheidenden Stelle versagt mein verfluchtes Gedächtnis? Ist er über die Klippe gefallen oder nicht?« In meinen Ohren dröhnte es, als würde er schreien, aber in Wirklichkeit sprach er leise. »Die Spuren auf meinem T-Shirt, die von Sam stammen - was bedeuten sie? Ich muss in Sams Nähe gewesen sein, okay. Hat er versucht, sich an mir festzuhalten, bevor er stürzte, oder wollte er mich wegstoßen? Ich weiß es nicht.«

»Vielleicht hat dir Jonas Bristol von hinten eins übergezogen. Bei Unfällen kann man sich doch auch manchmal nicht mehr an das eigentliche Geschehen erinnern«, versuchte ich meinem Bruder zu helfen.

Doch Rufus schnaufte nur. »Bis auf diese dämliche Wunde überm Auge hatte ich nicht mal einen blauen Fleck am Körper. Du kannst mir glauben, dass die Ärzte ziemlich genau nachgesehen haben. Nein, die Erinnerung ist fort, und zurückgeblieben ist an ihrer Stelle nur mein eigener verdammter Schrei, als könnte etwas in mir einfach nicht mehr aufhören zu schreien.«

So schrecklich das auch sein mochte, zumindest spürte Rufus noch etwas in seinem Inneren. Anders als ich. Ich hing in einer Warteschleife fest, die nur durch zwei Dinge durchbrochen werden konnte: durch Sam, wenn er jemals wieder vor mir stand - oder durch den Sieg meiner Zweifel, was hieß, dass ich seinen Tod akzeptiert hätte. »Vielleicht sollst du dich ja nicht erinnern können«, dachte ich laut nach.

»Komm mir jetzt nicht mit so einem Psychologenscheiß, meine Blockade hat nix mit Selbstschutz zu tun.«

Vor Wut hatte Rufus jeden Muskel angespannt, aber davon ließ ich mich nicht abschrecken. »So meine ich das ja auch gar nicht. Vielleicht hat jemand anderer dafür gesorgt, dass du nicht weißt, wohin Sam verschwunden ist. Eine Art Trick wie bei einer Hypnose.«

Ich rechnete fast damit, dass mein Bruder mich auslachen würde, doch das tat er nicht. Regungslos lagen wir beide da, bis er schließlich sagte: »Weißt du, Mila, dass klingt gar nicht so abwegig. Ich sehe Sam am Rand der Klippe, wie der den heilen Arm zur Abwehr ausstreckt. Dann saust dieses Messer nieder und trifft seine Hand. Und das war’s, kompletter Cut, als wenn einer den Strom in meinem Kopf abgestellt hätte. Ab da ist alles schwarz. Wenn ich trotzdem versuche, hinter diese schwarze Wand zu gelangen, dann tut das weh. Als würde jemand mit seinen Fingern in meinem Gehirn herumstochern. Sobald ich das jemandem erzähle, reden die gleich von Trauma. Aber das ist es nicht.«

»Ich glaube dir«, flüsterte ich.

Und das tat ich wirklich. Wenn Sam spurlos verschwinden konnte, dann konnte er sicherlich auch dafür sorgen, dass niemand ihn verraten würde. Was für ein absurder Gedanke, sagte der vernunftgetriebene Part in mir. Aber auf den hörte ich nicht.

Die letzten Tage des Segeltörns verliefen spürbar gelassener, auch wenn weder Rufus noch ich das Thema erneut ansprachen. Allein die Tatsache, sich jemandem anvertraut zu haben, hatte bei ihm etwas gelöst und schon bald wusste er beim Segeln schon wieder alles besser als mein Vater. Er lachte sogar einige Male und blödelte mit meiner Mutter in der Kombüse herum. Das machte mich fast ein wenig glücklich, allerdings entging mir nicht, dass seinen ehemals selbstsicheren Bewegungen ein Zögern innewohnte und er seinen Blick manchmal senkte, als würde er in sich hineinhorchen. Und was er hörte, gefiel ihm nicht. Trotzdem war ich zuversichtlich, dass es meinem Bruder eines Tages wieder gutgehen würde, selbst wenn er nicht ganz zu seiner alten Höchstform zurückfinden sollte.

Auch mir selber ging es besser, denn Rufus’ Blackout bestätigte meine Hoffnung, dass Sam nicht tot war. Aber vielleicht verloren, wenn auch nur für mich. Genau wie mein Bruder glaubte ich von einer schwarzen Wand überrollt zu werden, sobald ich diesen Gedanken näher auf den Grund zu gehen versuchte. Die Brücke, auf der ich balancierte, war zu schmal, um sie mit Grübeleien zu belasten, also ließ ich es bleiben.

Die hellen Töne des Frühjahrs wechselten in ein sattes Grün, sodass meine Mutter kaum noch ihren Garten verließ. Jonas Bristol verbrachte die Tage in der psychiatrischen Abteilung, die der Universität angeschlossen war, und wartete auf seinen Prozess, während Rufus mit Hängen und Würgen seinen Schulabschluss schaffte und Lena den grünen Strähnen in ihrem Haar ein Ende bereitete, indem sie es komplett grün einfärbte. Obwohl die Tage sich für mich bestenfalls leblos anfühlten, gingen sie sehr schnell dahin.

Und dann war auch schon der Tag da, an dem Rufus, noch restalkoholisiert von der letzten der unzähligen Abschlusspartys, seinen Rucksack packte. Die nächsten Wochen würde er mit Chris und Luca zusammen durch die Lande trampen, ohne ein festes Ziel vor Augen. Wie es danach weitergehen sollte, wusste er noch nicht und unsere Eltern hatten es aufgegeben, ihm deshalb zuzusetzen. In etwa einer halben Stunde würde Chris’ Cousin mit dem Auto vor der Tür stehen, um die Jungs ein Stück landeinwärts mitzunehmen. Mir graute vor diesem Moment, auch wenn ich es meinen Bruder nicht spüren lassen wollte.

Rufus hatte sich ein Baseballcap aufgesetzt und tief in die Stirn gezogen, weil eine Sonnenbrille dann wohl doch etwas zuviel des Guten gewesen wäre. Seine dunklen Locken quollen unter der Kappe hervor, als hätten sie Angst zu ersticken. Mürrisch legte er zwei T-Shirts in den Schrank zurück.

»Ich will ja nicht wie ein Mädchen klingen, aber in diesen Rucksack passen schlicht nicht ausreichend Klamotten. Ich werde die Hälfte des Trips damit verbringen müssen, in irgendwelchen Waschsalons abzuhängen.«

»Als wenn deine Reisebegleitung so empfindlich wäre.« Ich saß im Schneidersitz auf seinem Bett und ging die Songlist seines iPods durch. Die Hälfte der Bandnamen sagte mir nichts. »Außerdem bist du nach ein paar Tagen sicherlich abgehärtet, wenn ihr wirklich wild campen solltet. Baden im See, Toilette im Dickicht …«

»Hör ich da so was wie Sarkasmus?« Ich blickte ihn mit großen Augen an, doch Rufus nahm mir die Unschuldsmiene nicht ab. »Ich lass mich ganz bestimmt nicht von einer veralbern, die freiwillig ihren sechzehnten Geburtstag in diesem Kaff hier verbringt, anstatt wie geplant unsere Lieblingstante in Hamburg zu besuchen. Keine Lichter der Großstadt für Mila, sondern Touristen auf Tagesgang. Das wird definitiv nicht dein Sommer.«

»Du vergisst, dass Lena für die Ferien unser Gästezimmer bezieht. Ihre Eltern wollen ein paar Wochen auf einem Weingut verbringen und mal richtig die Seele baumeln lassen, aber Lena will Artemis nicht so lange allein lassen.«

»Super, dann könnt ihr ja gemeinsam in Mamas Garten sitzen und nachts den Mond anschauen, denn was anderes wird es wohl kaum zu tun geben. Tu Lena einen Gefallen und schneid ihr die Haare ab, wenn sie schläft.«

»Noch so ein fieser Kommentar, und ich lösche deine komplette Playlist.«

Rufus setzte sich neben mich aufs Bett. Trotz seines Aftershaves konnte ich den Alkohol riechen, den er sich letzte Nacht reingekippt hatte, wie schon in den Nächten zuvor. Zweifelsohne würde es ihm guttun, St. Martin eine Zeit lang zu verlassen.

»Du solltest dir das mit der Einladung nach Hamburg noch einmal überlegen. Wenn du hierbleibst, fällt dir bestimmt die Decke auf den Kopf. Irgendwie ist das doch eine Verschwendung von Zeit.«

Ich suchte Rufus’ Blick, doch der senkte kurzerhand den Schild der Kappe. »Was genau willst du mir damit sagen?«

Rufus zögerte, eine seiner neuen Eigenschaften, dann sagte er: »Ich will dir nicht einreden, dass deine Warterei auf Sam Blödsinn ist. Aber ich glaube, du brauchst mal eine Auszeit - genau wie ich.«

»So einfach ist das nicht für mich.«

»Schau mal, du schuldest Sam nichts …«

»Darum geht es nicht«, unterbrach ich ihn.

Abwehrend hob Rufus die Hände. Sie zitterten leicht - ob nun vom Kater oder weil er aufgewühlt war, konnte ich nicht sagen. »Ich will dir nur helfen, so wie du mir geholfen hast.«

Schlagartig stieg Wut in mir auf. Rufus konnte alles hinter sich lassen, fein. Sollte er nur. »Willst du mir wirklich helfen? Dann sag mir, wo Sam ist.«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stand Rufus auf und schulterte den Rucksack. Erst an der Tür drehte er sich noch einmal um, allerdings immer noch meinen Blick meidend. »Behalt den iPod ruhig. Vielleicht lenkt die Musik dich ja ein wenig ab. Das wünsche ich dir jedenfalls.«

Nachdem Rufus gegangen war, saß ich noch eine ganze Weile auf seinem Bett und starrte auf das silberne Rechteck in meinen Händen. Irgendwann konnte ich meinen Frust nicht mehr zurückhalten und presste mein Gesicht tief in sein Kopfkissen, um mit meinen Schreien nicht etwa meine Eltern anzulocken. Schließlich war es Lena, die sich zu mir aufs Bett setzte und etwas ungeschickt meinen Rücken tätschelte.

»Tob dich ruhig aus«, sagte sie und klang dabei, als würde sie selbst gleich in Tränen ausbrechen. »Aber Rufus kommt sicherlich schon in ein paar Tagen wieder. Tief in seinem Herzen ist er doch ein Muttersöhnchen.«

Ich seufzte ein letztes Mal in das Kissen und ärgerte mich darüber, dass ich den Bezug zerknittert und mit Lipgloss beschmiert hatte. Nun würde meine Mutter das Bett sicherlich frisch beziehen, dabei wollte ich diesen Ort, der so tröstlich nach meinem großen Bruder roch, nicht verlieren.

»Wir machen uns eine schöne Zeit, lungern rum und essen Eis. Du kannst endlich mal das Bild von Artemis zeichnen, das du mir schon vor Jahren versprochen hast. Dann helfe ich auch freiwillig deiner Mutter im Garten. Das wird total nett, du wirst schon sehen.« Lena war die Erleichterung deutlich anzusehen, als ich mich endlich wieder aufrichtete und ihr zunickte. »Zwei Mädels wie wir werden doch wohl den Sommer rumkriegen.«

»Ja«, sagte ich. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nicht so erschöpft gefühlt. »Wenn nicht wir, wer dann?«

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