8
Freier Fall
Sam
Rufus lief einen Schritt hinter mir her wie ein schlecht gelaunter Hund, der keine Lust auf einen Spaziergang verspürt. Aber er folgte mir, also blaffte ich ihn nicht an, obwohl mir durchaus danach zumute war.
»Wenn ihr wegen irgendwelcher Chemieunfälle schlecht ist, dann soll sie doch Dr. Bryer persönlich nach Hause bringen. Der Typ ist völlig verkalkt, wenn er Leuten wie dieser schrägen Lena Chemikalien in die Hand drückt. Wieso muss ich das ausbaden? Mann, ich habe jetzt eine Freistunde.«
Obwohl ich möglichst schnell zu Mila zurückwollte, blieb ich stehen, sodass Rufus in mich hineinlief.
»Was?«, knurrte er, machte aber gleichzeitig einen Schritt zurück.
»Mila war wirklich weggetreten und es hat eine Weile gedauert, bis es ihr besser ging. Also, tu mir den Gefallen und reiß dich zusammen. Einen maulenden Bruder kann sie jetzt sicherlich nicht gebrauchen.«
Rufus zuckte mit der Schulter, als würde ihn mein Anschnauzer nicht beeindrucken, sagte dann aber ein wenig kleinlaut: »Okay.«
Als wir auf den Innenhof traten, saß Mila noch auf der Bank, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Ihre Wangen waren erschreckend blass und ich konnte erkennen, dass sie leicht zitterte. Das versonnene Lächeln, das auf ihrem Gesicht lag, beruhigte mich nur ein wenig.
Chris hatte sich, wie ich ihn im Vorbeigehen gebeten hatte, in ihre Nähe gestellt und unterhielt sich mit seiner Freundin Jette. Zumindest taten sie so, denn kaum dass sie Rufus und mich bemerkten, hatten wir ihre volle Aufmerksamkeit. Chris grinste erneut dümmlich, während Jette die Augen zusammenkniff, damit ihr auch nicht das kleinste Detail entging. Glücklicherweise ersparten sich beide einen Kommentar.
»Hi, Mila. Was machst denn du für einen Scheiß?« Rufus fuhr seiner Schwester mit der Hand durchs Haar und klang tatsächlich fürsorglich. »Du solltest Chemie echt abwählen, das ist doch nichts für dich. Dad wird Bryer dafür in den Arsch treten.«
»Ich bin mir gar nicht sicher, ob es überhaupt am Ammoniak lag.« Sie senkte den Kopf, als hätte er sie bei einer Lüge ertappt. »Vielleicht bin ich einfach nur mit dem falschen Fuß aufgestanden oder mein Kreislauf ist abgeschmiert, weil ich mich so abgehetzt habe, um pünktlich bei der Nachhilfe zu sein.«
Nach dieser Erklärung murmelte Rufus etwas Unverständliches, während er Mila hoch half und sie dann unterhakte. Dabei warf er mir einen Blick zu, der wohl besagen sollte, dass die Schuldfrage damit wohl geklärt wäre. Sam, der vielleicht der richtige Kumpel für Rufus sein mochte, aber ganz bestimmt nicht ein passender Freund für Mila. Ehe ich irgendwie reagieren konnte, trat Bjarne neben mich und drückte mir Milas und meine eigene Tasche in die Arme.
»Als ich eine rauchen wollte, habe ich Mila hier sitzen sehen. Na, da habe ich mir gedacht, mit Nachhilfe wird es heute wohl nichts mehr. Da kann ich ja auch gleich euer Zeug vorbeibringen. Milas Verweigerungstechniken werden wirklich immer origineller.«
»Sehr witzig, Bjarne.« Rufus gelang das Kunststück, gleichzeitig Milas Tasche an sich zu nehmen und Bjarne den Mittelfinger zu zeigen, ohne seine Schwester dazu loszulassen.
Mila schaute mich verlegen an und einen Moment lang verspürte ich den Drang, sie zu berühren, sie fest an mich zu ziehen. Doch vermutlich hätte Rufus mich geifernd angefallen, noch bevor ich auch nur den Arm in ihre Richtung ausgestreckt hätte. »Warum gibst du mir nicht deinen Fahrradschlüssel?« Meine Stimme klang belegt, aber wenigstens fest. Mila blinzelte, dann holte sie einen Schlüssel aus der Hosentasche hervor, an dem ein pinkes Band befestigt war.
»Es ist das einzige Mountainbike, das vorne einen Drahtkorb anmontiert hat«, sagte sie leise und brachte tatsächlich ein Lächeln zustande, das auch ihre Augen erreichte.
»Ich kenne es. Du fährst seit dem letzten Sommer damit zur Schule.«
Mein Geständnis ließ Rufus noch ungeduldiger herumzappeln, während Chris und seine Freundin zu hoffen schienen, dass noch etwas weit Interessanteres passieren würde. Bjarne hatte sich beleidigt mit einer Zigarette zwischen den Lippen verzogen, stand aber immer noch nah genug, damit ihm nichts entging. Also schwieg ich, obwohl nicht zu übersehen war, dass Mila sich mehr von mir erhoffte. Ich würde sie am Abend anrufen, ihr sagen, dass ich das Rad morgen mit zum Strand bringen würde. Vielleicht würde ich auch den Mut aufbringen und nachfragen, was sie nun wirklich so erschreckt hatte. Oder wir würden einfach nur reden. Dann waren jedenfalls keine neugierigen Ohren in der Nähe und auch kein eifersüchtiger Bruder. Und ich würde mich bis dahin auch wieder besser unter Kontrolle haben.
Ich ließ zu, dass Rufus Mila wegführte, bevor ich mich richtig verabschieden konnte. Es kostete mich viel Kraft, ihnen nicht hinterherzuschauen. Stattdessen spielte ich mit dem Fahrradschlüssel in meiner Hand. Dabei fiel mein Blick auf das angeknüpfte Band. Tagträumerin stand da in Blockbuchstaben drauf. Doch Mila war keine Tagträumerin, dafür erfasste sie ihre Umwelt viel zu klar. Dieses Talent wurde im Augenblick noch überschattet, weil sich ihre Wahrnehmung an einzelnen Dingen, die ihr besonders aufregend erschienen, festhängte. Dadurch mochte sie vielleicht auf andere verträumt wirken, aber ich wusste es besser. In dieser Hinsicht waren wir uns nämlich ähnlich: Wir konnten beide Dinge erkennen, die andere nicht bemerkten.
Chris riss mich aus meinen Gedanken, indem er mit den Fingerknöcheln fest gegen meinen Oberarm boxte.
»Ich bin echt schockiert, mein Freund. Du stehst auf Rufus’ kleine Schwester. Mutig, sehr mutig.«
»Was meinst du mit mutig?«
Das dreiste Grinsen schien sich regelrecht in Chris’ Gesicht festgesetzt zu haben. Er war einer von diesen Geradeaus-Typen und normalerweise konnte ich seine Nähe auch ganz gut ab, aber in der letzten Zeit ging er mir immer häufiger auf die Nerven. Vermutlich lag es am Einfluss von Jette, unserer Jahrgangskönigin mit der wallenden blonden Mähne, dass er nicht mehr nur vorlaut, sondern regelrecht anmaßend war.
»Ach, komm. Nun tu doch nicht so blöd. Rufus liebt seine kleine Schwester abgöttisch, die kommt bei ihm noch vor dir, auch wenn er das nie zugeben würde. Der mag zwar die coole Sau spielen, aber er hängt auch freiwillig mit Mila ab. Und was kann an der für einen wie Rufus wohl so spannend sein, an diesem Schöngeist? Ich sage dir, da steckt heilige, reine Bruderliebe hinter. Und nun kommst du und willst dir den Unschuldsengel unter den Nagel reißen. Irgendwelche dreckigen Sachen mit ihr anstellen. Soll ich dir mal was verraten? Wenn Rufus vorhin mit mir zusammen auf den Innenhof gekommen wäre und gesehen hätte, wie du Mila so ganz unbrüderlich an dich gedrückt hast, dann wäre er bestimmt einem Blutrausch verfallen.«
Ich spielte konzentriert mit dem Schlüssel, um nicht in Versuchung zu geraten, etwas gegen Chris’ Grinsen zu unternehmen, das zweifelsohne weiterhin da war. »Und da bist du von ganz alleine draufgekommen oder hat dir deine Freundin dabei geholfen?«
»Als wenn man ein Genie sein müsste, um das zu kapieren.« Dem Affront konnte Jette nicht widerstehen. Ich registrierte, wie sie eine Hand gegen die Hüfte stemmte. Ihre überhebliche Art war nie ganz nach meinem Geschmack gewesen. Sie passte zu Chris, auch wenn sie als Team nicht gerade sympathisch wirkten. Jetzt kochte es in Jette vor unterdrücktem Zorn, aber sie weigerte sich auszusprechen, was ihr wirklich auf der Seele lag. Das stachelte mich an.
»Rufus sollte eigentlich der Letzte sein, der es mir übelnimmt, wenn ich mich für Mila interessiere. Schließlich liegt er mir schon seit Ewigkeiten in den Ohren, dass ihm meine zurückhaltende Art Mädchen gegenüber auf die Nerven geht. Dass es mal langsam an der Zeit wäre, dass ich …«
Weiter kam ich nicht, denn Jette unterbrach mich, einen Tick zu laut und zu schrill: »Ist ja nicht so, als hättest du bei uns an der Schule nicht die große Auswahl. Es sind doch alle hinter dir her. Und von den ganzen Frauen, die du haben könntest, suchst du dir ausgerechnet diese Mila aus? Die mag ja ein ganz süßes Mädchen sein, aber du stehst doch wohl nicht ernsthaft auf Unschuldslämmer. Wie alt ist die, doch wohl höchstens fünfzehn?« Ich konnte Jettes Gesicht deutlich vor mir sehen, obgleich ich den gepflasterten Boden begutachtete. Die Nasenflügel angespannt, die Mundwinkel herabhängend, während sich die Lippen in zu hohem Tempo bewegten. »Gerade von dir hätte ich mehr erwartet. Hätte gedacht, du suchst dir eine Frau, die zu dir passt, jemand, der dir hilft, endlich das aus dir zu machen, was in dir steckt.«
»Jemand wie du?« Ich blickte nur kurz auf, um Chris zum Abschied zuzunicken. Dem war das Grinsen nun doch vergangen. Als ich mich wegdrehte, hörte ich Jette schnaufen. Es sollte wohl verächtlich rüberkommen, klang aber eher so, als sei ihr gerade bewusst geworden, dass sie zu viel ausgeplaudert hatte. Weder sie noch ich hatten ihre vielen, teilweise ziemlich zudringlichen Offerten mir gegenüber vergessen. Doch ich hatte nie Lust gehabt, Jettes König zu spielen, das überließ ich lieber Chris.
Am Fahrradständer brauchte ich nicht lange, um Milas Fahrrad ausfindig zu machen. Es war ein ausgesprochen sportliches Gerät, etwas zu sportlich für Mila, der es beim Handball regelmäßig nicht gelang, schnelle Bälle richtig abzuschätzen und die deshalb schon das eine oder andere Veilchen mit nach Hause genommen hatte. Sie sah zwar immer großartig aus, wenn sie morgens kurz vor knapp mit dem Bike zur Schule angesaust kam, aber ein gebrauchtes Hollandrad hätte besser zu ihrem Typ gepasst. Ich konnte mir gut vorstellen, dass ihr Vater es ausgesucht hatte, vielleicht ein Geburtstagsgeschenk, das mehr nach seinem als nach ihrem Geschmack gewesen war. Und nun bestrafte sie ihn mit einem Drahtkorb, an dem bunte Bänder flatterten. Nun, wenigstens war das Bike 1a in Schuss, wie ich auf dem Weg zur Arbeit feststellte. Bei der ersten roten Ampel machte ich fast einen Abgang über das Lenkrad, als ich die Handbremsen betätigte.
Die Tankstelle, an der ich meinen Unterhalt zusammenjobbte, lag am Stadtrand landeinwärts, eine langweilige Gegend, in der ich mich nicht besonders wohlfühlte. Trotzdem war der Job okay, denn in einen Supermarkt bekamen mich keine zehn Pferde und die Aushilfsjobs am Hafen waren zwar verlockend, aber dort trieb sich zu jeder Tag- und Nachtzeit mein Vater herum. Der Besitzer der Tankstelle, Knut Jahnson, hatte keine besonders große Lust, seine Lebenszeit in der zusammengeschusterten Verkaufshütte zu verschwenden, sodass ich am Nachmittag und den Wochenenden locker Stunden zusammenbekam und gleichzeitig für die Schule lernen konnte, wenn grade mal eine Flaute herrschte. Außerdem kümmerte es ihn auch nicht, wenn sich gelegentlich einige meiner Freunde auf der Tankstelle herumdrückten, solange ich meine Arbeit erledigte und freiwillig den Laden sauber hielt. Das machte Jahnson nämlich auch nur ungern.
Obwohl ich dank Milas Mountainbike gut in der Zeit lag, trat ich so kräftig in die Pedale, dass meine Oberschenkelmuskeln vor Anstrengung zu pochen begannen. Aber das störte mich nicht. Die Geschwindigkeit gefiel mir, sie befriedigte eine Sehnsucht, die ich ansonsten strikt verdrängte. Ich mochte den Fahrtwind, der mir in den Augen brannte und an meiner Kleidung zerrte. Die Welt, die an mir mit all ihren Eindrücken vorbeizog, wie ein Stück Film, das zu schnell abgespielt wurde. Das war doch etwas ganz anderes, als im muffigen Bus zu sitzen, der schneckengleich um die Ecken kroch.
Auf der letzten Strecke zur Tankstelle musste ich einen Hügel hinauf, ehe er sich in eine gerade, steil abfallende Bahn verwandelte. Ich hob mich aus dem Sattel und ignorierte den Schmerz in meinen Beinen, als ich das Bike in raschem Tempo über die Anhöhe zwang und die Geschwindigkeit auch nicht drosselte, als es bereits bergab schoss. Dann schloss ich die Augen und nahm nur den freien Fall wahr. Es war wie ein Rausch und fühlte sich echt an, viel echter, als wenn ich mit beiden Beinen auf dem Boden stand.
Ein ohrenbetäubendes Hupen riss mich aus meiner Selbstversunkenheit. Direkt vor mir tauchte die Kreuzung auf. Die Seitenfenster eines Kombis blitzten auf. Mit einem Ruck riss ich die Bremsen an und ließ mich zur Seite gleiten, um nicht über das Lenkrad geschleudert zu werden. Das Bike folgte meiner Bewegung. Instinktiv wollte ich loslassen, doch dann wäre es unter die Räder des Wagens geraten. Also hielt ich es fest. So schlugen wir beide zu Boden, rutschten ein Stück weiter und kamen eine Armlänge vor dem Wagen, der eine Vollbremsung hingelegt hatte, zum Liegen.
Obwohl das Fahrrad auf meinem Bein eine halbe Tonne zu wiegen schien, blieb ich liegen. In meinem Ellbogen breitete sich ein dumpfer Schmerz aus, während Knie und Handballen wegen der Abschürfungen zu brennen begannen.
»Wolltest du Idiot dich umbringen?« Die Stimme eines Mannes überschlug sich fast vor Entsetzen.
Ich atmete tief ein und schob das Bike mit dem linken Arm umständlich von mir herunter, ohne dass mir ein Stöhnen über die Lippen kam. Das hätte den Mann nur wütender gemacht. Damit kannte ich mich aus. Als ich versuchte, auf die Beine zu kommen, griff er mir unter die Achsel und half mir auf.
»Was sollte das denn, Junge?«
Obwohl es mir schwerfiel, stellte ich mich aufrecht hin und beachtete meinen vor Schmerzen aufschreienden Körper nicht weiter. Trotzdem konnte ich es nicht verhindern, dass ich leicht schwankte, weshalb der Mann mich auch nicht losließ, was ich eigentlich hatte bezwecken wollen.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen einen solchen Schreck eingejagt habe. Ist denn alles okay bei Ihnen?«
Der vielleicht sechzig Jahre alte Mann, dem eine Baseballkappe schief auf dem Kopf saß, blickte mich groß an. »Ob bei mir alles okay ist? Bin ich etwa eben mit halsbrecherischem Tempo den Hügel runtergejagt und habe dann eine Vollbremsung mit meinem Ellbogen hingelegt? Ich fahr dich jetzt wohl besser ins Krankenhaus.«
»Nicht nötig, das sind nur ein paar Abschürfungen.« Ich trat einen Schritt zurück und wollte mich nach dem Fahrrad bücken, da wurde mir schwarz vor den Augen. Bevor ich mich versah, saß ich auf der Straße.
»Von wegen nicht nötig. Mit dem Arm stimmt doch was nicht«, grummelte der alte Mann und hob Milas Mountainbike auf, das allem Anschein nach nur ein paar Kratzer abbekommen hatte. Gott sei Dank. Der Wagen, dessen Warnblinkanlage mit einer nervtötenden Regelmäßigkeit aufleuchtete, das Fahrrad, der alte Mann und ich befanden uns mitten auf der Straße. Andere vorbeifahrende Fahrer reduzierten ihr Tempo und starrten uns unverhohlen an.
Da ich es von allein nicht auf die Beine schaffte, griff ich nach der offen stehenden Fahrertür und zog mich daran hoch. Meine Jeans war am Knie aufgerissen und bereits blutbesudelt, mein Hemd sah am Ellbogen nicht besser aus, aber den zerschlissenen Ärmel würde ich einfach hochkrempeln. Außerdem hatte Herr Jahnson einen ordentlichen Verbandskasten auf der Tankstelle, sodass ich was gegen die Blutung tun konnte. In meinem Handballen klafften nämlich mehrere tiefe Kerben. Trotzdem hatte ich Glück im Unglück gehabt. Nur das Bike würde ich am Ende meiner Schicht vermutlich nach Hause schieben müssen, ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Knochen eine weitere Fahrradfahrt mitmachten. Außerdem drohte mein Ellbogen von einer Schwellung außer Betrieb gesetzt zu werden. Zumindest hoffte ich, dass es lediglich eine Schwellung und kein Bruch war. Und wofür die ganze Aufregung? Um dieser verfluchten Sehnsucht nachzugeben, die ich einfach nicht abschütteln konnte. Wenn mich Daniel Levander morgen in diesem Zustand zu sehen bekam, würde ich eine gute Ausrede auftischen müssen, damit er mich mit seiner Tochter losziehen ließ. Ich war so ein Idiot.
»Nun steig schon ins Auto, oder brauchst du dabei Hilfe?« Der alte Mann hatte das Fahrrad auf den Gehweg gebracht und wollte mich nun auf den Rücksitz seines Kombis befördern. Dank meiner gut trainierten Instinkte wich ich ihm aus. »Hör zu, Junge. Das muss sich ein Arzt ansehen. Du kannst doch kaum gerade stehen.«
Da war ich allerdings anderer Meinung. »Sehen Sie die Tankstelle am Ende der Straße? Dort arbeite ich. Ich werde jetzt das Fahrrad dahin schieben und meinen Chef bitten, dass er jemanden als Ersatz anruft und mich dann ins Krankenhaus bringt. So hat alles seine Ordnung, einverstanden?«
Der alte Herr blickte nicht gerade überzeugt drein und kratzte sich unter seiner Kappe. »Ich kann dich ja rüberfahren.«
»Das ist wirklich nicht nötig«, sagte ich so eindringlich, wie ich es hinbekam. Das Stehen fiel mir schwer, ich musste mich endlich bewegen. Außerdem stieg mit jedem weiteren Wort die Wahrscheinlichkeit, dass dem Mann meine Lügen bewusst wurden. Ich hatte nämlich keineswegs vor, meine Schicht sausen zu lassen. Ich brauchte das Geld. »Sehen Sie mal, bis Sie das Fahrrad auf die Ladefläche gestemmt haben, bin ich schon lange an der Tankstelle und auch schon wieder weg. Also, tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen so einen Schrecken eingejagt habe. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Warum hattest du überhaupt die Augen geschlossen? Dachtest du, du bist unverwundbar? Oder gar ein Vogel? Das sah schon wunderlich aus, wie du da angeflogen kamst. So, als würdest du tatsächlich gleich abheben.«
Obwohl ich mich nur äußerst ungern unhöflich benahm, drehte ich mich um, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, und humpelte zum Mountainbike hinüber. Als ich mich noch einmal umdrehte, um dem Mann zum Abschied zuzuwinken, stand er da und starrte mich nachdenklich an. Als hätte er die Bestürzung über den gerade noch einmal glimpflich verlaufenen Unfall vergessen und würde stattdessen ein exotisches Tier beobachten, von dem er sich nicht sicher war, ob er es wirklich sah. Und dieses exotische Tier war ich. Ich kannte diesen Blick bestens, nur, dass ich ihn heute besonders gut nachvollziehen konnte. Ich hatte mich nicht nur seltsam verhalten, sondern mich für einen kurzen Moment wirklich so gefühlt, als wäre ich nicht an diese Welt gebunden. Als wäre ich kurz davor abzuheben.