28
Sphärenwechsel
Ranukens Laune besserte sich erst, als ich ihm anbot, mein Fahrrad zu schieben. Schon bald war er vollauf damit beschäftigt, alles und jeden zu kommentieren und nur mit vereinten Kräften konnten wir ihn davon abhalten, einen Süßigkeitenautomaten von seiner Halterung zu rupfen und unterm Arm mitzunehmen. Als wir endlich den kleinen Stadtpark am Fuß der Steilklippe erreichten, war ich froh, unter das schattige Laubdach schlüpfen zu können. Ich sehnte mich nach einem riesengroßen Glas Wasser und einer Dusche. Außerdem würde es für die beiden Jungen bestimmt angenehmer sein, nicht länger mit ihren bloßen Füßen über die heißen Pflastersteine zu laufen, auch wenn sich bislang keiner von ihnen darüber beschwert hatte. Vermutlich waren sie immun gegen Hitze, so wie Sam die Kälte nichts ausmachte.
Auf den Parkbänken saßen verstreut ein paar Leute, die ihre Mittagspause im Freien verbrachten. Zu meiner Erleichterung hoben sie nur kurz den Blick von Zeitschriften und Handy-Displays, als wir an ihnen vorbeigingen. Allein ein älterer Herrn ließ uns nicht aus den Augen, während ich mein Rad abschloss und wir - die Betreten-verboten-Schilder ignorierend - über die Rasenfläche auf das Wäldchen zuhielten. Vielleicht lag es auch bloß daran, dass Ranuken sich bereits den Pulli über den Kopf zog, als könnte er ihn keine Sekunde länger auf der Haut ertragen.
In diesem Teil des Parks standen mehrere Birken, viele von ihnen nicht älter als zwanzig oder dreißig Jahre, weil die winterlichen Stürme, die vom Meer hertrieben, selbst in dieser geschützten Mulde die Bäume entwurzelten. Die Birken, die die Stürme überstanden hatten, standen zumeist schief, als suchten sie Schutz vor den Winden. Mitten im Wäldchen aber fand sich eine, deren weißgrauer Stamm zwar auch einen Bogen machte, die aber ausgesprochen kräftig gewachsen war. Die Krone leuchtete im schönsten Grün des Sommers.
»Meine Birke«, sagte Ranuken stolz und tätschelte die verborkte Oberfläche. »Ein echtes Prachtstück.«
»Sie ist wirklich ungewöhnlich elegant gewachsen«, pflichtete ich ihm bei. »Ob das daran liegt, dass sie sowohl in der Sphäre als auch hier steht?«
Ranuken zuckte gleichgültig mit der Schulter, doch Kastor warf mir einen anerkennenden Blick zu. Er war gerade dabei, einen Steinkreis für sein Feuer anzulegen. Sobald er damit fertig war, packte er Ranuken am Arm und zerrte ihn dorthin und ich rechnete schon fast damit, dass er den Jungen gleich mit der Nase draufdrücken würde.
»Habe ja schon verstanden, du Nervensäge.« Ranuken schüttelte den Griff ab und straffte sich würdevoll. Trotzdem war er gut und gern zwei Kopf kleiner als Kastor. »Sobald ich drüben bin, zünde ich den Zwergenscheiterhaufen an, den du dort aufgerichtet hast. Ich verspreche auch hoch und heilig, dass ich es sofort tue, ganz gleich, was für bessere Ideen mir auch durch den Kopf schwirren. Wie kann man nur so misstrauisch sein?« Dann kehrte er zu seiner Birke zurück und schlang seine Arme um den Stamm. »Was habe ich nur für ein Glück mit meiner Pforte. Meine Baby-Birke, mein Schätzchen.« Zärtlich schmiegte er seine Wange an den Stamm und im nächsten Moment rutschte er mehr oder weniger in die Birke hinein. Ich musste schallend auflachen, denn Ranuken glitt durch Rinde und Holz, als handle es sich um Wackelpudding, und guckte dabei völlig perplex. Ich glaubte sogar, ein leises »Plopp« zu hören, als er ganz in seiner »Baby-Birke« verschwand. Scheinbar erwischte ihn seine Pforte stets aufs Neue kalt.
»War das jetzt ein beabsichtigter Wechsel oder bloß ein dummes Versehen?«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen und freute mich, als Kastor es erwiderte. Einen Moment lang standen wir noch abwartend vor dem Baum, doch da Ranuken nicht zurückkehrte, gingen wir schließlich dazu über, weiteres trockenes Holz und Gras aufzutürmen. Während wir in angenehmem Schweigen arbeiteten, fiel mir auf, wie vertrocknet alles war. Trotz des schattigen Laubdachs waren die Gräser verdorrt, und selbst der Seelavendel sah schlapp aus. Die Vorstellung, hier ein Feuer anzuzünden, gefiel mir plötzlich gar nicht mehr.
»Wie hoch müssen die Flammen denn lodern, damit du das Feuer als Pforte benutzen kannst?«
Kastor deutete ungefähr auf die Höhe seiner Knie. Also kein sonderlich großes Feuer, nicht zu vergleichen mit dem Spektakel, das Ranuken am Strand veranstaltet hatte. Dem Kerl war wirklich nicht über den Weg zu trauen. Während Kastor das Lederband von seinem Hals nahm und anfing, die beiden Steine gegeneinanderzuschlagen, bis sie Funken sprühten, begann ich den lockeren Waldboden aufzuhäufen, damit ich das Feuer möglichst rasch wieder würde ersticken könnte. Wenn Kastor das nächste Mal wechseln wollte, sollte er als Fixpunkt gefälligst den Kamin meiner Eltern nehmen, das würde deutlich weniger Scherereien machen.
Als das Feuer endlich glomm und die Flammen selbst hier unter den Bäumen blass orange nach der erhitzten Luft schnappten, deutete Kastor eine Verbeugung an - zum Dank und als Verabschiedung. Unschlüssig stand ich da und fragte mich, ob es wohl unhöflich war, ihm beim Wechseln durchs Feuer zuzusehen. Die Frage erledigte sich von selbst, als Kastor mit einem Schmunzeln auf den Lippen in die Flammen stieg, die sich perfekt in seiner Iris spiegelten, und in der Glut versank. Kein Peng, keine spritzenden Funken, keine fliegende Asche. Es sah aus wie ein Zaubertrick, der auf einer Bühne vorgeführt wurde. Der Teufel verschwindet im Feuer und zurück bleibt nicht mehr als Rauch. Nur, dass Kastor nicht durch eine Falltür im Boden verschwand, sondern in eine andere Dimension … Ich konnte nicht anders als dazustehen und zu staunen. Wie mein wissenschaftsgläubiger Vater wohl reagiert hätte, wenn er Zeuge geworden wäre, wie ein Junge in den Flammen verschwand? Das stellte ich mir lieber gar nicht vor. Das Gleiche galt für Rufus und Lena, die ebensolche Realisten waren wie mein Vater. Meine Mutter würde es noch am ehesten verkraften, aber selbst sie würde wohl an ihrem Verstand zweifeln, wenn sie Zeugin eines solchen überirdischen Spektakels würde. Nachdenklich kratzte ich mich hinter dem Ohr. Sam würde sich eine überzeugende Ausrede für seine Wiederkehr einfallen lassen müssen.
Während ich vor mich hingrübelte, begann ich den Sand, den ich aufgeschichtet hatte, auf das Feuer zu werfen. Nur widerwillig ließen sich die Flammen ersticken und das Ganze artete zu einer größeren Plackerei aus, als ich erwartet hatte. Dabei musste ich eigentlich zu meiner Verabredung mit Rufus los, ich war ohnehin schon spät dran. Irgendwie gelang es den roten Zungen immer wieder hervorzukriechen und nach trockenen Halmen und Ästen zu schnappen. Ein paar versuchte ich auszutreten, doch das nahmen mir die Sohlen meiner Flip-Flops übel. Leise fluchend lief ich um die Feuerstelle herum, kurz davor, die Flammenreste mit meinem grünen Pulli zu erschlagen. Ich wollte hier endlich wegkommen und mit Rufus reden, bevor ich Sam traf. Bei dem Gedanken an Sam hielt ich einen Augenblick lang inne, und sofort nutzte eine Flamme ihre Chance und brutzelte einen Ast an. »Wunderbar«, seufzte ich und trat nun doch mit meinen Flip-Flops zu, woraufhin es sogleich nach verbranntem Gummi stank.
Plötzlich ertönte hinter mir ein erneutes »Plopp« und ich sah, wie Ranuken sich von seiner Birke trennte, als würde er sich aus den Armen einer anhänglichen Geliebten befreien. Kurz schüttelte er sich, dann stürmte er auch schon mit verkniffener Miene auf mich zu.
»Sam sagt, er kann heute Abend nicht zu dir kommen. Vielleicht morgen. Tu mir den Gefallen und sag ihm, dass ich nicht sein Bote bin, einverstanden? Dafür habe ich schließlich nicht den halben Wald umarmt.«
Oh, das klang gar nicht gut. »Kannst du ihm von hier aus eine Nachricht von mir senden?«
»Sehe ich etwa aus wie ein Telefonmast? Nein. Außerdem besteht zwischen Menschenwelt und Sphäre keine Verbindung, tut mir leid. Wenn du deinem geliebten Sam etwas sagen willst, musst du warten, bis er sich zu dir bequemt.«
Ich dachte einen Moment lang nach. Was Ranuken sagte, gefiel mir ganz und gar nicht. »Hat Sam dir gesagt, warum er mich nicht treffen kann?«
»Nein, aber er hat gesagt, ich soll meinen Schnabel halten. So was. Der ist schlimmer als Kastor. Mir einfach so in den Kopf zu funken und einen Auftrag zu erteilen, Frechheit.«
Während Ranuken weiterhin seinem Ärger Luft machte, überschlugen sich meine Gedanken. Was konnte Sam davon abhalten, zu mir zu kommen? Ich brauchte nicht lange, um die Antwort zu finden: Rufus und seine Drohung. Sam hatte so verletzt ausgesehen, als er gegangen war. Was mochte sich bei ihm im Lauf der letzten Nacht an Zweifeln angesammelt haben? Vielleicht wuchs ihm die Situation langsam über den Kopf und er hielt es nun doch für besser, sich von mir fernzuhalten? Nun, ich würde ihn nicht damit alleine lassen, selbst wenn ich Rufus dafür versetzen musste. »Ranuken, kannst du mich eigentlich genau so in die Sphäre mitnehmen, wie Sam es tut?«
Mitten im Schimpfen hielt Ranuken inne und sah mich plötzlich sehr neugierig an. »Weiß nicht, aber vermutlich schon. Warum?«
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. »Was hältst du von einem Tauschhandel: Du nimmst mich mit und dafür darfst du bei deinem nächsten Besuch auf meinem Bike rumfahren, soviel du willst? Nachdem ich dir die Verkehrsregeln erklärt habe, natürlich«, schob ich schnell hinterher.
»Gebongt.«
Ehe ich mich versah, hatte Ranuken mich bei den Schultern gepackt, ging rückwärts auf seine Birke zu - und stieß gegen sie, anstatt in ihr zu versinken. Er verdrehte die Augen. »Ach, komm schon, Liebling«, forderte er den Baum auf, der auf weibliche Konkurrenz scheinbar eifersüchtig reagierte. Als Ranuken sich ein weiteres Mal gegen den Stamm lehnte, sank er hinein und ich mit ihm.
Anderes, als wenn ich mit Sam durch die Meeresoberfläche wechselte, legte sich ein feines, feuchtes Netz über mich. Einen Atemzug lang glaubte ich mich gefangen, dann zog das Netz sich von alleine zurück und offenbarte mir die schwarz-weiße Welt der Sphäre.