30
Der unerwünschte Gast
Mila
»Ich will noch mal!«
Drohend hob ich den Zeigefinger, durchaus bereit, sofort zum Schlag auszuholen, falls es nötig sein sollte.
»Ach, bitte. Was macht so eine kleine Berührung denn schon aus?«
Meinetwegen konnte Ranuken flehen, betteln und fordern, bis er schwarz wurde. Auf keinen Fall würde ich ihm noch einmal zu nah kommen. Dafür stand mir seine Reaktion, als wir in der Sphäre angekommen waren, zu lebhaft vor Augen, besser gesagt, ich fühlte seine Hände immer noch auf meiner Haut. Von einer Sekunde zur anderen war aus der lockeren Umarmung etwas geworden, das man nur als Belästigung bezeichnen konnte. Mir war schon klar, dass Ranuken nicht wirklich begriff, wie unangenehm es mir war, wenn er sich an mir rieb und dabei verzückt die Augen verdrehte, weil sich meine Berührung in der Sphäre so gut anfühlte. Ich verspürte allerdings kein Verlangen, ihn darüber aufzuklären.
»Komm schon, Mila. Das ist doch albern. Wenn ich dich nicht anfassen darf, müssen wir die gesamte Strecke zur Ruine laufen. Das dauert doch viel zu lange.«
Nun versuchte er es also mit Vernunft. Ich schnaufte abfällig und beschleunigte meine Schritte in die Richtung, in der ich die Steilklippe vermutete. Den Marsch würde ich gern auf mich nehmen, wenn ich dafür nicht noch einmal Ranukens Finger einzeln von meiner Haut zerren musste. Diese Berührungskiste war eine Frechheit und ich fragte mich ernsthaft, wie es Sam eigentlich gelang, in meiner Nähe verhältnismäßig locker zu bleiben. Noch eine Frage, die ich im Hinterkopf behalten musste.
»Mila …«
»Kein Wort mehr!«, zischte ich.
Ranuken hielt inne, setzte ein beleidigtes Gesicht auf und ging mit vor der Brust verschränkten Armen und einem Schritt Abstand hinter mir her.
Der Weg, den ich eingeschlagen hatte, führte bergab in einen Wald, der so undurchdringlich war, dass ich schon bald die Orientierung verlor. Es war ein riesiger, endloser Wald, der nicht sonderlich freundlich wirkte und in dem ich mir vorkam, als wäre ich keine Wanderin, sondern Futter für etwas, das im Unterholz lauerte. Nein, die Sphäre war in ihrer Rohheit alles andere als menschenfreundlich. Hier sollte man sich einfach nicht auf zwei Beinen herumtreiben. Zu meinem Unwohlsein gesellten sich außerdem Zweifel, dass ich die richtige Marschroute eingeschlagen hatte. Hier sah einfach alles anders aus als in St. Martin. Dort war der Wald ein überschaubares Wäldchen, eingerahmt von Spazierwegen und Bänken.
»Wir laufen nicht in Richtung Steilküste, richtig?«, rang ich mir endlich die Frage ab. Doch Ranuken blickte bloß stur an mir vorbei. Hilflos fuchtelte ich mit den Händen in der Luft herum. »Okay, es tut mir leid, dass ich dich eben angefaucht habe. Das war ein wenig übertrieben.«
»Ein wenig? Du hast mir fast den kleinen Finger gebrochen, außerdem hast du nach mir getreten und mich beschimpft. Dieses Anfauchen war doch nur der Höhepunkt einer Reihe von Unverschämtheiten.«
Ungeduldig tappte ich mit dem Fuß auf, was dank des moosigen Untergrunds jedoch kein hörbares Geräusch erzeugte und somit seiner Wirkung beraubt wurde. »Sagen wir einfach, wir sind jetzt quitt. Also, wo liegt die Steilküste?«
»Woher soll ich denn das wissen? Du bist so lange im Zickzack herumgelaufen, dass mir immer noch der Kopf schwirrt.«
Mühsam unterdrückte ich das Verlangen, meinen Frust herauszubrüllen. »Na, wie gut, dass du zwei Schwingen hast. Dann kannst du ja mal hochfliegen und nachschauen, wo es langgeht.«
»Da wäre ich auch von selbst draufgekommen«, erwiderte Ranuken schnippisch, fuhr aber seine Schwingen aus und fand tatsächlich einen Weg durch das dichte Geäst. Er kehrte mit einem breiten Grinsen zurück.
»Und?«
»Es geht genau in die entgegengesetzte Richtung, du Superfrau.«
Ich verkniff mir einen Kommentar und lief los. Fein, dann marschierten wir eben die ganze Strecke zurück. Kein Problem. Ich hatte schließlich alle Zeit der Welt und konnte mir unterwegs wunderbar den Kopf darüber zerbrechen, wie es Sam wohl ging und ob mein großer Bruder mich gerade leidenschaftlich verfluchte, weil ich ihn sitzen gelassen hatte.
»Ich könnte uns beide rüberfliegen«, schlug Ranuken vor, nun schon deutlich weniger schadenfroh. »Durch die Luft ist die Strecke ein Klacks. Wirklich.«
Über diesen Vorschlag dachte ich nur kurz nach, denn sobald Ranuken seine Arme nach mir ausstreckte, machte ich unwillkürlichen einen Hopser von ihm weg. Das würde wohl nichts werden.
»Schön«, sagte er unentschlossen, ob es nun gerechtfertigt war, erneut beleidigt zu sein, »dann laufen wir uns halt gemeinsam die Füße wund. Bis es dunkel wird, haben wir ja noch Zeit.«
Tatsächlich erreichten wir die Steilklippe erst, als das Licht, das sich seinen Weg durch die Baumkronen suchte, bereits einen weichen Schimmer angenommen hatte und alles einen Ton satter aussehen ließ - im Fall der Sphäre bedeutete das die schönsten Abstufungen in Mittelgrau. Mir scholl das Echo des Meeres in den Ohren. Nur noch ein paar Schritte und wir würden die Fichten hinter uns lassen und den Grat sehen. Mittlerweile hatte ich es allerdings nicht mehr ganz so eilig. Unbehagen hatte sich in mir ausgebreitet. Einmal zu oft war ein Schatten über unseren Köpfen hinweggeglitten, und auch wenn man wegen der dicht an dicht stehenden Bäume selten einen Blick auf den Himmel erhaschen konnte, war ich mir sicher, dass es nicht stets dieselbe Schattenschwinge gewesen war. Außerdem nahm ich um mich herum eine seltsame Stimmung wahr, eine Art Ruhe vor dem Sturm. Während ich noch meinen Gedanken über diese beunruhigende Atmosphäre nachhing, kam Ranuken unvermittelt zum Stehen.
»Tja, bin mir nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, dich einfach in die Sphäre mitzubringen. Wofür mache ich das noch einmal?«
»Damit du mit meinem Fahrrad den Verkehr in St. Martin aufmischen kannst.« Ich schloss die Augen und versuchte, ein Bild für die Stimmung zu finden. Doch bevor ich es zu greifen bekam, riss mich Ranuken aus meiner Selbstversunkenheit und stupste mich an. Mit einem Stück Ast, wie ich anerkennend hinzufügen muss.
»Was ist da bei der Ruine los?«, fragte ich.
Sofort machte Ranuken ein störrisches Gesicht. »Sam hat gesagt, ich soll den Schnabel halten.«
»Na, dann rate ich doch einfach mal. Nicken darfst du doch wohl, oder?«
Ranuken nickte, aber schon im nächsten Moment presste er die Hände gegen beide Schläfen, als wolle er seinen Kopf festhalten. »Das gibt nur Ärger. Sam wird mich eh schon durch die Mangel drehen, weil ich dich heute Abend hierher gebracht habe. Es wird ihn kaum interessieren, dass wir die Verspätung nur deiner Sturheit zu verdanken haben.«
»Wohl eher deinen Grabschfingern. Außerdem ist es zu spät für einen Rückzieher. Ich bin in der Sphäre und werde mich auch von niemand anderem als Sam wieder zurückbringen lassen. Also, es sind ziemlich viele Schattenschwingen da draußen unterwegs und es fühlt sich nicht so an, als wollten die bloß ein Barbecue veranstalten. Was hat das zu bedeuten?«
»Das bedeutet, dass die Ruine gerade kein besonders guter Platz für Menschenkinder ist«, platzte es aus Ranuken heraus. »Merkst du das auch? Es ist, als hätten Blitze die Luft elektrisch aufgeladen, als könne sie sich jeden Augenblick entzünden. Da draußen sind Körperlose unterwegs - um das zu wissen, muss ich mich gar nicht erst ins Schattenschwingen-Netz einklinken. Die kann ich nicht ausstehen. Wenn ich geahnt hätte, dass Sam die auch einlädt, hätte ich Protest dagegen eingelegt.«
»Moment mal. Sam hat sämtliche Schattenschwingen eingeladen? Wozu das denn?«
Ranukens Hände wanderten augenblicklich von seinen Schläfen zu seinem Mund. »Ups.«
Deshalb hatte er mich unter allen Umständen von der Sphäre fernhalten wollen! Nun war es jedoch zu spät für einen Rückzieher. Außerdem war meine Neugierde geweckt. Das hier konnte meine Chance sein, die Schattenschwingen endlich besser zu verstehen.
»Dieser Jagdhorst, den man von der Ruine aus sehen kann - kannst du mich da hinführen?« Bevor Ranuken mir meine Bitte abschlagen konnte, fügte ich hinzu: »Du hast doch eben gesagt, dass du kein Verlangen verspürst, diesen Körperlosen zu nahe zu kommen. Wenn du das Treffen gern aus der Ferne betrachten möchtest, ist der Horst doch auch für dich genau das Richtige. Na, komm schon, wir zwei schauen uns das Spektakel von dort aus an.«
Nach einigem Händeringen und lautlosem Geschimpfe nickte Ranuken schließlich. »Dieses Fahrrad sollte nach dem ganzen Ärger eigentlich mir gehören«, ließ er mich wissen, während er nach einem Weg zwischen den Bäumen suchte. Ich folgte ihm grinsend, bis ich die abstehenden Härchen auf meinen Unterarmen bemerkte. Die Luft war unleugbar von einer Energie erfüllt, die sich zunehmend verdichtete und sich wie ein klebriger Film auf Haut und Haare zu legen drohte. Sicher war es eine gute Idee, einen gewissen Abstand zur Ruine zu halten. Hoffentlich würde er ausreichen.
Die Fichte, in deren Spitze der Horst errichtet war, hatte einen ungewöhnlich dicken Stamm. Ihre unteren Äste waren zwar kahl, aber kräftig genug, dass ich mühelos auf ihnen hochklettern konnte wie auf einer Wendeltreppe. Zu meiner Erleichterung hatte Ranuken gar nicht erst den Vorschlag gemacht, uns mit einem Flügelschlag nach oben zu befördern, sondern war schweigend hinter mir hergeklettert. Seine Schwingen hatte er allerdings, soweit das Geäst es zuließ, ausgebreitet. Mit jedem Meter, den wir höher stiegen, versicherte ich mir mehr, dass das Astwerk halten würde. Auf keinen Fall wollte ich ausrutschen und mich von Ranuken retten lassen. Einmal pro Tag sein verzücktes Gesicht zu sehen, weil er mich berührte, reichte vollkommen aus.
Mit schmerzenden Muskeln und aufgeschrammten Handflächen erreichte ich schließlich den Horst. Erschöpft kauerte ich hinter der niedrigen Balustrade aus Zweiggeflecht, dankbar für den Wind, der meine glühenden Wangen kühlte. Nachdem das Reißen in Armen und Beinen nachgelassen hatte, wagte ich einen Rundblick. Von hier oben war die Höhe der Fichte kaum zu ermessen, da die niedrigeren Bäume dicht an dicht standen, sodass man nur auf einen Teppich aus Zweigen und Nadeln blickte. Dafür hatte man einen Blick auf den gesamten Ausläufer der Steilklippe, und auch Küste und Meer lagen ausgebreitet vor einem.
Doch trotz des atemberaubenden Ausblicks war es das Geschehen bei der Ruine, das mich magisch anzog. Der Hof war bis auf den letzten Fleck mit Schattenschwingen gefüllt, deren Aura sich mindestens so sehr voneinander unterschied wie ihr Aussehen. Aber keine strahlte auch nur annähernd so hell wie Sam, keine übte solch eine Anziehungskraft aus. Ich sah Schattenschwingen, deren Haut trotz der anbrechenden Dämmerung in einem fast weiß anmutenden Hellgrau leuchtete, während andere nachtdunkel waren. Es gab seidige Haarmähnen, die bis zu den Kniekehlen hinabreichten, willkürlich abgeschnittenes Lockenhaar und eine Unzahl feiner Zöpfe. Ein Gesicht, das ich eher im Museum für Frühgeschichte vermutet hätte, saß neben Schattenschwingen mit aristokratischen Zügen und Allerweltsgesichtern, in denen die Augen jedoch so bunt leuchteten, dass es mir selbst auf diese Entfernung nicht entging. Auch die Kleidung hatte nur einen gemeinsamen Nenner: Sie war knapp. Die meisten Schattenschwingen saßen mit nacktem Oberkörper da, aber es gab auch Tuchgewänder, die so geschickt gewickelt waren, dass sie den Schwingen ausreichend Platz ließen, sich zu entfalten, schlichte Umhänge und die Überbleibsel alter Rüstungen. Einige der Anwesenden steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich scheinbar flüsternd, während andere Schattenschwingen sich trotz der Enge des Vorplatzes weigerten, ihre Schwingen einzuziehen, als wollten sie sich dadurch Respekt verschaffen, oder als wären sie in steter Fluchtbereitschaft. Andere hatten es gleich vorgezogen, in der Luft zu bleiben und kreisten nun über der Ruine wie überdimensionale Raben. Andere hockten auf den Überresten der oberen Etage und beäugten einander misstrauisch.
Auf einem der großen Steinbrocken, die in Vorzeiten das Mauerwerk der oberen Etage ausgemacht hatte, saß eine Schattenschwinge und stierte so gleichgültig vor sich hin, als habe das alles nichts mit ihr zu tun. Es war ein junger Mann mit gleichmäßigen, asiatisch anmutenden Gesichtszügen. Zu meiner Überraschung waren seine Augen genauso schwarz wie seine langen Haare, die er im Nacken zusammengebunden trug. Er war der Erste seiner Art, dessen Augen in der Sphäre nicht wie ein buntes Feuerwerk aufleuchteten. Er war von Kopf bis Fuß schwarz-weiß.
»Wer ist das?«, fragte ich Ranuken, der neben mir kauerte, sorgfältig darauf bedacht, dass nur kein Stück zu viel von ihm über die Balustrade reichte. Diese Versammlung war offensichtlich ganz und gar nicht nach seinem Geschmack.
»Das ist Asami, der Erste Wächter. Dem haben wir das Drama heute Abend zu verdanken. Es gibt wirklich einige schräge Vögel in der Sphäre, aber Sam musste sich ja ausgerechnet mit ihrem ungekrönten König anlegen. Kein Wunder, dass es bei der Ruine nur so vor Körperlosen wimmelt. Sie lieben Asami und er liebt sie. Sieht ja fast selber aus wie einer von denen.«
»Seine Augen sind schwarz.« »Wirklich?« Diese Feststellung gefiel Ranuken zweifelsohne. »Das werde ich ihm bei der erstbesten Gelegenheit unter die Nase reiben. Mann, wenn der wüsste, dass du ihn gesehen hast, würde er vermutlich komplett ausflippen.«
»Dass der nicht gut auf Menschen zu sprechen ist, sieht man ihm an.« Selbst wenn Sam mich nicht bereits über Asamis Abneigung uns Menschen gegenüber aufgeklärt hätte, so hätte sein Anblick mir gereicht, um Bescheid zu wissen. Er wirkte gleichgültig und ausgesprochen kühl, wenn nicht sogar arrogant. Eine perfekt geformte Gestalt, ohne jeden menschlichen Makel, mit schlanken Gliedmaßen und einer weißen Haut, die dank seiner Aura, die ihn wie ein schwarzer Heiligenschein umgab, regelrecht leuchtete. Es war seine Aura, die ihn verriet: eine unheimliche Mischung aus Unglück und Zorn. In seinem Schatten stand eine kräftige Schattenschwinge mit einem verwilderten Haarschopf und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere, als könne sie ihre angestaute Energie kaum zügeln.
»Das da neben ihm ist seine rechte Hand Jason«, erklärte Ranuken. »Das riecht nach Ärger. Jason steht dem Ersten Wächter immer zur Seite, wenn es darum geht, eine Bestrafung durchzuführen.«
Allmählich schwante mir, worum es bei dieser Versammlung gehen würde: Sam würde sich rechtfertigen müssen, weil er zwischen den Welten wechselte und darüber hinaus einen Menschen mit in die Sphäre gebracht hatte. Rufus’ Drohung, Sam zu verraten, war zur Zeit vermutlich eher das kleinere Problem, mit dem mein Freund sich herumschlagen musste. Und er würde noch ein viel Größeres bekommen, wenn mich eine der Schattenschwingen entdecken sollte. Innerhalb eines Moments war mein spannendes Abenteuer in eine lebensgefährliche Dummheit umgekippt.
Zuerst verspürte ich das Verlangen, mich ganz flach auf den Boden des Horstes zu drücken und erst wieder aufzublicken, wenn die Versammlung vorbei war. Doch nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, entschied ich mich anders. Die Schattenschwingen waren vollkommen aufeinander fixiert. So, wie sie einander musterten und umringten, waren sie es nicht gewohnt, sich gemeinsam an einem Ort aufzuhalten. Keiner von ihnen würde Zeit darauf verschwenden, einen verwitterten Horst zu beobachten. Wenn ich mich vorsah und nur knapp über die halbhohe Holzwand lugte, würde mich niemand bemerken.
Mit wieder erwachter Neugier blickte ich zur Ruine auf die gut drei Dutzend Versammelten, bis etwas anderes meine Aufmerksamkeit erregte. Dort, im Dämmerlicht der Waldnaht bewegten sich Gestalten auf und ab, als wollten sie der Ruine nicht zu nah kommen. Dann wagten sie sich plötzlich hervor. Vor Schreck erstarrte ich. Das waren also die Körperlosen, von denen Sam gesprochen hatte! Ihre Erscheinung erinnerte nur noch entfernt an die menschlichen Körper, die sie einmal besessen hatten. Nun glichen sie Geistern, als seien sie aus dem gleichen Stoff wie ihre Schwingen gemacht, als wären sie bloß dunkle Tuscheschlieren ohne feste Kontur. Ich war mir sicher, dass sie keine Schatten zu werfen vermochten, denn sie waren kurz davor, selbst welche zu werden. Dennoch mussten sie der Quell jener Energie sein, deretwegen die Luft immer stärker nach überhitzten Batterien roch. Ein ölig beißender Gestank, der sich in den Nasenlöchern festsetzte.
Ranuken, der bislang ebenfalls schweigend die Szenerie beobachtet hatte, riss mich aus meinen Gedanken. »Da ist Kastor. Siehst du ihn?«
Ich kniff die Augen zusammen und erblickte in der im Dunkeln liegenden Eingangstür der Ruine Kastor, der mit verschränkten Armen gegen den Rahmen lehnte. Auch wenn er eher entspannt dastand, war klar, dass er alles und jeden im Auge behielt.
»Er hätte ruhig die Jeans anlassen können«, flüsterte ich ein wenig pikiert. »Was ist dieses Etwas, das er um seine Hüften trägt?«
»Tatsache, Kastor hat sich echt was übergezogen!«
Zuerst dachte ich, Ranuken wolle mich aufziehen. Dann erst wurde mir klar, dass die Schattenschwingen einfach eine völlig andere Einstellung zur Nacktheit hatten als ich. An die Oberkörper, die die meisten wegen der Schwingen freiließen, hatte ich mich bereits gewöhnt, aber an fast nackte junge Männer? Nun, damit würde ich wohl auch zurechtkommen. Nach einiger Zeit zumindest.
»Was ist mit Sam und Shirin? Die beiden habe ich noch nirgends entdecken können.«
Ranuken rieb sich das Kinn und ließ seinen Blick umherschweifen. »Keine Ahnung«, gab er schließlich zu.
Doch kaum hatte er das gesagt, da zeichneten sich die Silhouetten von zwei Schattenschwingen am Himmel ab, die einen Moment später mitten auf dem Platz zwischen den Schattenschwingen landeten. Sam und Shirin. Plötzlich war ich doppelt froh, versteckt im Horst zu sitzen. Zum einen, weil Sam wie ein Leuchtfeuer am Nachthimmel strahlte und ich selbst auf diese Entfernung Probleme hatte, ihn anzusehen. Zum anderen, weil mich sein Anblick so froh machte, dass ich unwillkürlich auflachte. Glücklicherweise nahm der Wind das Lachen mit sich und niemand riss den Blick von Sam los, um zum Horst hochzuschauen.
Ranuken grinste ebenfalls, was das Zeug hielt. »Ich habe da so den Verdacht, dass Asami sich ganz schön anstrengen müssen wird, wenn er unseren Sam kleinkriegen will.«
»Ja«, sagte ich, immer noch halb geblendet von Sams Anblick. »Wenn das hier ein Kampf von Licht gegen Dunkelheit wird, dann hat Asami schlechte Karten.«
Doch gerade als ich das ausgesprochen hatte, gaben die Körperlosen ihr Versteck am Waldesrand auf und begannen Kreise über der Versammlung zu ziehen. Dabei verschlangen sie sich derartig ineinander, dass ich nicht sagen konnte, wie viele es waren. Allerdings machte mir etwas anderes Sorgen: Sie fingen Sams Strahlen ab wie eine Wolke, die sich vor die Sonne schob. Und das gefiel mir ganz und gar nicht.