28. Im Labyrinth

Es gefiel Maiberg gar nicht, das Echo des eigenen Atems in den Ohren zu hören. Nervös lauschte er noch etwas angestrengter.

Wasserrauschen, viel zu laut.

Feines Knacken und Mahlen.

Sein eigenes verdammtes Keuchen, Herrgott!

Aber da ... ein leises Lachen.

Er hatte sich nicht geirrt. Eigentlich müsste er nun loseilen und den Kollektor holen. Aber das Lachen hatte vergnügt geklungen, amüsiert. Wie es da so in Maibergs Gehörgang getanzt hatte, war kein Bild von Vernichtung aufgestiegen. Es hatte viel mehr so geklungen, als verlustiere sich der Jäger noch ein wenig mit der Beute, bevor er seine Reißzähne hineinschlug. Dass er seine Reißzähne hineinschlagen würde, daran bestand für Maiberg kein Zweifel. Er hatte genau beobachtet, was dieser Mörder mit der Sklavin angestellt hatte.

Maiberg ließ sich das Wort »Mörder« wie eine Praline auf der Zunge zergehen. Dann probierte er das Wort »Lustmörder« aus. Mhm, noch süßer. Besonders in Kombination mit der Tatsache, dass dieser Lustmörder zu seinen Füßen eingesperrt war.

Was für eine berauschende Mischung: Dieser Adam würde eine Sünde nach der anderen begehen, bis dass der steinerne Grund in Blut getaucht war. Und trotz all dieser Macht, die er in sich barg, konnte Maiberg ihn beschimpfen, Dinge nach ihm werfen, ihn begaffen ... nun, zumindest könnte er all dies tun, wenn dieser Kerl sein düsteres Versteck endlich verlassen würde.

Ein Aufstöhnen erklang, lustvoll, tief.

Maibergs Finger verknoteten sich zu einem komplizierten Muster, während er mit sich rang, ob er sich nun dem Wunsch seines Herrn oder dem Bedürfnis seiner Libido unterwerfen sollte. Ein heilloses Durcheinander brach in ihm aus: Der Kollektor hatte mit seiner einnehmenden Stimme die Anweisung wiederholt, ihn sofort zu holen, falls dort unten Bewegung ins Spiel käme. Maiberg wusste genau, Konsequenzen aufgezählt, die Maibergs Versagen zur Folge haben würde. Bei dem bloßen Gedanken an Adalberts Bestrafungskünste quiekte Maiberg auf, als habe man ihm bereits einen brennenden Dorn unter die Fußnägel gejagt.

Während sich seine Vernunftseite eine Debatte leistete, zog es die pervertierte Libido vor, zu handeln. Rasch und ehe jemand Wind von diesem Alleingang bekam.

Hastig griff sich Maiberg einige der Leuchtstangen, die Randolf zusammen mit dem Generator angeschleppt hatte. Im äußersten Notfall wollte der Kollektor damit versuchen, zumindest etwas Licht in die Dunkelheit zu bringen. Die Betäubungspistole hatte Adalbert ebenfalls zurückgelassen, damit Maiberg gegebenenfalls einen ungestümen Adam zur Räson bringen konnte. So gesehen, war er für eine kleine Höhlenexkursion bestens ausgestattet.

Seine Libido ließ ihn so schnell agieren, dass die Furcht, unter der er normalerweise dauerhaft litt, gar nicht erst auf dem Plan trat. Es würde ja auch alles ruck, zuck über die Bühne gehen: ein Blick hinter die Felsen, falls nötig ein wenig Licht, und dann nichts wie wieder rauf auf den Vorsprung. Falls das kleine Miststück zu diesem Zeitpunkt schon dahingeschieden sein sollte - sei's drum. War halt nichts zu hören und schon gar nichts zu sehen gewesen. Konnte ja keiner ahnen, dass der Jäger still und heimlich zuschlagen würde. Selbst der Kollektor war von einer atemberaubenden Darbietung im Scheinwerferlicht ausgegangen, nicht wahr?

Das Schnurren des Gewindes, als der Aufzug hinunterfuhr, versetzte Maiberg kurz in Panik. Was, wenn der Jäger ihn hörte? Kein schönerGedanke, die ganze Nummer war nur durch das Überraschungselement ungefährlich. Plötzlich hörte er ein gerauntes »Bitte«. Schlagartig zerstreuten sich die Sorgen. Hatte Adam da eben wirklich »bitte« gesagt? Worin würde wohl die Folgeleistung für dieses »Bitte« bestehen?

Maiberg klappte vor Aufregung der Kiefer runter, seine Hände umfassten den Schaft der Betäubungspistole. Leise wie ein Mäuschen schlich er die Felsen entlang, als er plötzlich doch ein platschendes Geräusch verursachte. Er war in eine tiefe Pfütze getreten. Sofort sogen sich die Schuhe mit Wasser voll. Maiberg zog die Oberlippe kraus, dann ging er weiter.

Kaum wahrnehmbare, aber rhythmische Atemstöße erreichten seine Ohren und gössen ein ganzes Füllhorn sexueller Fantasien aus, eine abscheulicher als die andere.

Maiberg frohlockte. Ein Mann, der all die Macht des Dämons in sich trug, dort im Dunkeln, scheinbar für sich allein. Der all das tat, wovon er selbst nur träumte - nichts auf der Welt hätte verlockender sein können. Besonders da er, Maiberg, Zeuge all dieser Unaussprechlichkeiten werden würde, weil er die Macht besaß, in dieses Universum einzudringen ... Allein diese Vorstellung setzte den schmalen Mann fast in Ekstase.

Gerade als er den äußersten Felsen tastend umrundet hatte, verklang das Atmen in einem stockenden Höhepunkt. Ein feines Schnauben, gefolgt von einem noch feineren Lachen drang zu ihm herüber. Ein Frauenlachen. Ein Frauenlachen? Beinahe riss es Maiberg von den Füßen. Einen Augenblick lang schob er die Schuld daran auf das Zusammenbrechen seiner Fantasiewelt. Dann erkannte er, dass der Grund dafür in der Wirklichkeit zu suchen war. Unter seiner rechten Sohle hatte sich ein Riss aufgetan, der ihn fast um sein Gleichgewicht gebracht hätte.

Maiberg spie ein Geräusch aus, als würde einem Luftballon pfeifend die Luft entweichen. Mit Mühe konnte er eine Hand von der Pistole lösen und eine der Leuchtstangen hervorholen.Vor ihm in der Dunkelheit herrschte Stille. Seine Hände waren so schwitzig, dass ihm der Kunststoffstab dabei fast entglitten wäre. Elender mieser Verräter, tobte es in ihm. Wobei nicht sicher gesagt werden konnte, ob er nun Adam oder sich selbst beschimpfte.

Schemen schienen in der undurchdringlichen Schwärze umherzuhuschen, aber sie verursachten nicht einmal einen Windhauch.

Beim dritten Versuch gelang es Maiberg endlich, den Leuchtstab an seinem Oberschenkel zu zerbrechen. Ein fahles grünes Glimmen beleuchtete mehrere Meter mit Gesteinsbrocken übersäten Boden. Außerdem ein Paar nackte Füße, über denen sich der Saum einer Pyjamahose wellte.

Bevor Maiberg diese weitere Enttäuschung verkraften konnte, war Adam schon so dicht bei ihm, dass er nur noch den Arm ausstrecken musste, um dem überraschten Voyeur die Kehle zu zerdrücken. In dem Moment, als auch Adams vor Zorn erstarrtes Gesicht in grünes Licht getaucht wurde, fand Maiberg so weit zur Besinnung, dass er den Abzug der Betäubungspistole drückte.

Mit trägen Bewegungen zog sich Lea den Pullover über den Kopf, während Adam lautlos in die Dunkelheit verschwand. Auch sie hatte das kurze Beben im Boden gespürt und den verdächtig nach Maiberg klingenden Schrei gehört.Trotzdem war sie zu ermattet gewesen, um zu reagieren.

Erst nachdem Adam sich schweigend aus ihr zurückgezogen hatte und nach seiner Kleidung griff, war ihr Gehirn angesprungen. Unwillig, aber verhältnismäßig einsatzfähig. Im Gegensatz zu ihren Gliedmaßen, denen jemand sämtliche Muskelstränge entzogen zu haben schien.

Gerade als sie sich abmühte, die Hose über die Oberschenkel zu ziehen, leuchtete ein grünes Glimmen auf und illuminierte das Gesicht Maibergs: Die schwarzen Murmelaugen hinter den Brillengläsern drohten aus ihren Fassungen zu springen, unter solch innerem Druck stand der knochige Mann. Der Mund war verzerrt - ob vor Ekel oder Panik, vermochte Lea nicht zu sagen. In seinen Händen hielt er eine Waffe.

Dann schob sich Adam in ihr Sichtfeld. Ein Zischen erklang, und Lea wusste, dass eine der Betäubungsampullen abgeschossen worden war. Adam schrie wütend auf und kreiste um die eigene Achse.

Mit einem Ruck richtete sie sich auf, um im nächsten Moment schwirrende dunkle Flecken zu sehen. Die letzten Stunden waren einfach zu viel für ihren Kreislauf gewesen. »O nein«, keuchte sie und setzte sich auf einen der Felsvorsprünge.Taubheit breitete sich in ihren Gliedmaßen aus.

Adam war leicht in die Knie gegangen und hielt den Oberkörper vornübergebeugt. Lea hörte ihn fluchen. Währenddessen machte Maiberg sich daran, die Pistole nachzuladen. Dabei stellte er sich ausgesprochen ungeschickt an.

Keine Automatik, so ein Pech aber auch, dachte Lea und nahm sich vor, gleich einen kleinen Überraschungsangriff zu starten. Sobald das wackelige Gefühl aus ihren Knien verschwunden war, würde sie sich auf Maiberg stürzen, ganz bestimmt.

Doch da richtete Adam sich wieder auf und schüttelte seine linke Hand aus. »Von dem Zeug habe ich vorläufig erst einmal genug«, sagte er mürrisch. Er schaute zu Lea hinüber und lächelte. »Er hat nur die Handkante erwischt. Pech gehabt, Maiberg.« Mit diesen Worten drehte er sich um, doch Maiberg hatte bereits die Flucht angetreten.

Mit langen Schritten setzte Adam ihm nach, und Lea schickte sich ebenfalls an, das Dunkel hinter den Felsen zu verlassen. Zitternd krallte sie sich am letzten Felsen fest und keuchte einige Mal hingebungsvoll. Was weder Adalbert noch dem Kollektor, ja, nicht einmal dem Dämon gelungen war, hatte Adam innerhalb kürzester Zeit mit seiner Leidenschaft zu Wege gebracht: Jegliche Form von Kampfeswille hatte ihren Körper verlassen, und Aggression und Rachegelüste wurden von einer watteartigen Benommenheit überdeckt. Sie wollte nur noch in Adams Arme zurückkehren und sich liebevolle Worte ins Ohr flüstern lassen. Seine Hände wieder auf ihrer bloßen Haut spüren, seine kraftvollen, einfallsreichen Hände ...

Doch die hielten gerade Maiberg vorn am Hemd gepackt und verabreichten ihm ein paar gehörige Ohrfeigen, ohne ihm dabei die Brille von der Nase zu fegen. Maibergs Arme baumelten an der Seite herunter. Die Betäubungspistole war nicht länger in seinen Händen.

Lea stutzte: Ohrfeigen - kein Blutrausch, kein gewalttätiger Rachefeldzug? Ihr gerade entdecktes Liebesleben erzielte bei Adam offensichtlich eine genauso seltsame Wirkung wie bei ihr.

Plötzlich kam Leben in Maibergs Beine, und er veranstaltete einen kleinen Stepptanz, bis er sich mit einer aaligen Drehung befreien konnte. Adam machte sich nicht die Mühe, seiner wieder habhaft zu werden. Stattdessen beobachtete er, wie Maiberg vom eigenen Schwung zu Boden gerissen wurde und auf allen vieren von dannen krabbeln wollte. Adam schüttelte leicht den Kopf, dann versetzte er Maiberg einen Tritt ins Hinterteil. Obwohl ein Tritt mit dem bloßem Fuß kaum schmerzhaft sein konnte, kreischte Maiberg beleidigt auf und ließ sich flach auf den Boden fallen. Dort blieb er ausgestreckt in einer Pfütze liegen. Adam hatte keine Geduld für solche Spielchen. Unwirsch zerrte er Maiberg am Ohr hoch und drehte ihm einen Arm auf den Rücken, sobald er auf den Beinen stand.

»Was wird das hier, deine Version des Sterbenden Schwans?«, zischte er Maiberg an.

Ein Beben durchfuhr den Grund der Höhle und ließ ein weiteres Stück Fels beim Wasserlauf mit einem Krachen herausbrechen. Sofort ergoss sich ein Schwall dunklen Wassers in das überflutete Flussbett. Ein Anblick, der Lea überhaupt nicht gefiel und sie augenblicklich ihre Erschöpfung vergessen ließ.

»Adam!«, rief sie, woraufhin dieser aufhörte, Maiberg durchzuschütteln. »Wir sollten den Aufzug nehmen, ehe Adalbert oder der Kollektor hier auftauchen oder wir unter einer Steinlawine begraben werden.«

Mit dem Kinn deutete Adam auf Maiberg und hob dabei fragend die Augenbrauen.

»Maiberg kommt mit«, entschied sie. »Er kennt den Weg aus diesem Höhlenlabyrinth. Oder ziehst du es vor, hier unten abzusaufen?«, fragte sie den schmächtigen Mann, woraufhin dieser eifrig den Kopf schüttelte.

Adam ließ seine Hand in Maibergs Hosentaschen wandern, der sich verlegen wand und rote Wangen bekam. Mit einem verächtlichen Schnaufen zog er schließlich ein Taschentuch hervor und knebelte ihn damit. Dann wateten die drei durch das inzwischen knöcheltiefe Wasser zum Aufzug. Oben angekommen, gab Lea dem verwaisten Regiestuhl des Kollektors einen Stoß, so dass er über die Kante des Vorsprungs kippte. Bevor er unten ins schnell ansteigende Wasser schlug, war sie den anderen schon um die Ecke gefolgt.

Der Tunnel, der von der Höhle wegführte, war so niedrig, dass Adam den Kopf einziehen musste. Beim Anblick der ungewöhnlich ebenmäßigen Oberfläche der Wände fragte Lea sich, auf welche Art und Weise das Höhlensystem einst erschlossen worden war. Die Gänge verliefen oftmals sehr gerade, als hätte man sich einen Weg frei gesprengt. Die Höhle, in der Adam und sie gefangen gewesen waren, schien abseits der restlichen Gefängniszellen zu liegen: Alles war provisorisch hergerichtet, notdürftig zusammengeschustert -vom Aufzug über die Stromversorgung bis hin zum Beobachtungsposten auf dem Vorsprung. Da trug Etienne Carrieres Kerker schon eine ganz andere Handschrift. Wahrscheinlich war es reines Glück gewesen, dass die andere Höhle, von der Randolf gesprochen hatte, nicht mehr von Nutzen war. Denn hier gab es weder eine Sicherheitstür noch Kameras. Die Flucht war das reinste Kinderspiel.

Mit einer Stabtaschenlampe beleuchtete Lea den mit Geröll übersäten Boden, der zu ihrem Unwohlsein abwärts und somit tiefer ins Erdreich hineinführte. Wasser folgt der Schwerkraft, dachte sie bedrückt.Was, wenn die Höhle in ihrem Rücken beim nächsten Riss in der Felswand vollief? Dieser niedrige Tunnel, durch den sie nur mühsam vorankamen, würde sich im Handumdrehen in ein nasses Grab verwandeln zumindest für die Sterblichen unter ihnen.

Schließlich gelangten sie an eine Weggabelung. Auf der einen Seite setzte sich der rohe Tunnel fort, auf der anderen endete der Gang vor einer raumfüllenden Betonwand, in die eine doppelflügelige Metalltür eingelassen war. Dahinter vermutete Lea das Gangsystem, dass ein künstlich geschaffenes Innenleben in einer oder mehreren Höhlen bot. Ein Stück weit über der Tür klaffte eine Lücke in der Wand, wahrscheinlich von einem der vielen Einstürze. Dahinter verbare sich ein Hohlraum, schwarze Leere.

»Na los, Maiberg! Mach dich nützlich«, forderte Adam Maiberg auf, dessen Finger sogleich über das Display neben der Tür tanzten.

Lea blinzelte in den vom Notlicht trübe beleuchteten Gang, der nach einigen Metern eine scharfe Linkskurve machte. Entmutigt wich sie einen Schritt zurück und senkte den Blick, als Adam sie fragend anschaute.

»Welcher Weg führt nach draußen?«, fragte Adam deshalb den hysterisch blinzelnden Maiberg und nahm ihm den Knebel ab.

»Beide«, erwiderte Maiberg, wobei er sich vor Eifer beinahe überschlug. »Wenn man dem Tunnel folgt, kommt man irgendwann zu einem Senkschacht. Allerdings funktioniert der Aufzug nur, wenn man den Sicherheitsschlüssel hat, und den besitzt nur der Kollektor. Die einzige Kopie ist beim ersten großen Erdbeben verschüttet worden. Ohne Aufzug kommt man aber nicht hoch, weil die Wände zu steil zum Klettern sind.Wir müssen durch das Kabinett durch - ich meine, durch die verschiedenen Zellentrakte.« Maiberg kicherte aufgelöst. Es klang so, als büße er gerade ein Stück seines Verstandes ein. »Wir müssen zur Garage, zu einem der Wagen. Uns bleibt nur der lange Weg.«

»Bist du dir sicher, dass die Sache mit den Fledermausflügeln auch wirklich reine Folklore ist? Die Idee mit dem Senkschacht gefällt mir nämlich besser«, sagte Lea, einen beklommenen Blick in den Betongang werfend. Sie dachte an die Wesen, die dort hinter Metalltüren kauerten und die der Dämon zur Rebellion aufrufen würde, sobald sie einen Schritt hineinsetzen. Der bloße Gedanke, erneut die Berührung des Dämons ertragen zu müssen, trieb ihr den Schweiß aus den Poren.

Adam seufzte, dann richtete er seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf den Gang und witterte. »Maiberg«, setzte er schließlich wieder an. »Du wirst nur überleben, wenn du dieses Höllenloch an unserer Seite verlässt. Falls du also mit dem Gedanken spielen solltest, uns in eine Falle zu locken, bist du tot. Selbst wenn dieser rothaarige Riese rein zufällig unseren Weg kreuzen sollte, breche ich dir innerhalb von Sekunden das Genick.«

»Randolf ist unterwegs!« Mit beiden Händen umfasste Maiberg seinen Hals, als könne er sich auf diese Art schützen. »Er ist aufgebrochen, um diese Agatha zu holen, mit der du dem Kollektor einen Floh ins Ohr gesetzt hast. Er hat Randolf tatsächlich allein losgeschickt. Allein, jawohl! Weil er im Moment nicht auf Adalbert verzichten will. Weil außer Adalbert und mir niemand mehr da ist. Alle fort! Die ganze verdammte Bude bricht zusammen. Die Edition E mit den körperlich begabten Objekten ist komplett abgesoffen. Das ging ratzfatz. Und die Abteilung Zweites Gesicht ist unter Geröll begraben. Konnte ja keiner vorhersehen! Adalbert ist fuchsteufelswild. Wohin soll das noch alles führen? Hier fällt alles in sich zusammen, und der Kollektor sammelt trotzdem weiter. Er ist verrückt, vollkommen verrückt!«

Adam starrte den röchelnden Maiberg einen Augenblick ausdruckslos an, dann verabreichte er ihm zwei klatschende Ohrfeigen. Von einer Sekunde zur anderen hielt Maiberg den Atem an. Sein Gesicht wurde aschgrau, gesprenkelt von einigen purpurnen Flecken. Die Augen traten noch mehr aus den Höhlen als gewöhnlich. Lea befürchtete schon, Maiberg habe der Schlag getroffen und er werde gleich mausetot umkippen. Doch dann riss er den Mund auf und sog Luft in seine Lungen, als wollte er zum Urschrei ansetzen.Aber er bekam nur einen roten Kopf und atmete schließlich wieder regelmäßig ein und aus.

»Dann sind im Moment also nur Adalbert und der Kollektor anwesend?« Ein gefährliches Glimmen loderte in Adams Augen auf.

Maiberg nickte. »Aber die Stromversorgung ist nicht mehr sehr zuverlässig.Wenn noch mehr Wasser durch die Wände eindringt, könnte sie kurzzeitig zum Erliegen kommen.«

»Und?«, fragte Adam, mit den Gedanken schon auf der Jagd durchs Tunnellabyrinth.

»Die Türen, die uns von den ausgehungerten Objekten des Kollektors trennen, werden übers Stromsystem verriegelt.« Lea blieb die Stimme weg. Das Szenario, das in ihrem Kopf entbrannte, war auch nicht dafür gemacht, in Worte gefasst zu werden. Kein Wunder, dass die anderen Helfer des Kollektors das Weite gesucht hatten. Ein Blackout - und hier unten brach ein Inferno aus.

Adam fluchte leise und legte kurz den Kopf in den Nacken, um sich zu sammeln. Oder vielmehr, um sich von der Idee zu verabschieden, Adalbert und dem Kollektor ein angemessenes Ende zu bereiten. Gerade als er sich anschickte, Maiberg zum Aufbruch anzutreiben, machte Lea einen Schritt auf ihn zu und berührte seine Schulter.

»In einem dieser Kerker ist Etienne Carriere gefangen.«

Wie vom Donner gerührt sah Adam sie an. In einer anderen Situation hätte sie sich zu einem überreizten Kichern hinreißen lassen, aber sie wusste nur allzu gut, was ihr Geständnis in Adam ausgelöst hatte.

»Und das erzählst du mir erst jetzt?«

»Wann genau hätte ich es dir denn sonst erzählen sollen? Du bist ja ziemlich nahtlos vom Fressenwollen zum Vernaschen übergegangen.«

Einen Moment lang loderte es in Adams Augen gefährlich auf, dann sagte er mit fester Stimme: »Wir holen ihn.« Doch um seine Augen zuckte es immer noch.

»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.« Lea biss sich auf die Unterlippe, nicht sicher, was sie eigentlich sagen wollte. Einerseits fürchtete sie sich davor, keine Metalltür mehr zwischen sich und einem vom Dämon heimgesuchten, fast wahnsinnigen Etienne Carriere zu haben. Andererseits wusste sie, wie wichtig es für Adam sein würde, seinen alten, tot geglaubten Freund zu befreien. »Der Professor steht ein wenig neben sich«, sagte sie deshalb vage.

Adam hielt kurz inne, dann nickte er. »Ich werde schon mit ihm fertig.«

Sie folgten dem spartanisch beleuchteten Gang. Die Risse in den Wänden kündeten vom Ende dieser zweckentfremdeten Höhlenwelt. Mit jedem Schritt, den sie tiefer ins Erdreich setzten, nahm der Druck auf Leas Ohren zu, bis sie glaubte, ihren Kopf in einen Schraubstock gelegt zu haben.

Als sie die ersten Metalltüren passierten, scholl ihnen sogleich das erwartete Brüllen des Dämons entgegen. Beunruhigt nahm Lea wahr, dass das Toben nun sehr viel ungeschminkter klang. Vielleicht lag es an Adams Anwesenheit oder an der bevorstehenden Gefahr durch die einstürzenden Höhlenwände. Außerdem hatte es eine aggressive Note bekommen, die sie so zuvor nicht wahrgenommen hatte. Die vom Dämon besessenen Gefangenen waren vollends außer Kontrolle. Es gab kein Locken, kein Vorspiel mehr. Nur noch der explosionsartig freigesetzte Wille, ein Blutfest zu feiern.

Immer wieder wanderte Leas Blick zu Adams Gesicht, das sich erneut in eine unnahbare Maske verwandelt hatte. Doch in seinen Augen sah sie Bestürzung und Unsicherheit. Verrückterweise beruhigte sie das.

Als sie den Gang einschlugen, der in Etienne Carrieres Zelle mündete, verklang das dämonische Brüllen wieder, doch die Anspannung nahm nicht ab. Adam blieb vor der Metalltür stehen und inspizierte sie ausgiebig. »Gib den Code ein«, forderte er Maiberg auf, der neben ihm stand.

»Kann ich nicht.« Eine Mischung aus Furcht und Schadenfreude durchzog Maibergs Tonfall. »Dieses Sammlerstück gehört Adalbert, und zwar nur ihm allein. Das hütet er wie seinen Augapfel. Er würde nie zulassen, dass ich einen Blick auf seinen wertvollen Etienne werfe.«

Maiberg schickte das hysterische Lachen hinterher, das Lea langsam in den Ohren zu schmerzen begann. Adam schien ähnlich zu empfinden und packte ihn grob am Oberarm.

»Und das fällt dir erst jetzt ein, wo wir uns in dieser verdammten Sackgasse befinden?«, herrschte Adam den jammernden Mann an.

»Hier muss es doch irgendwo eine Art Kontrollraum geben«, dachte Lea laut nach. »Als ich dort drinnen zu Besuch gewesen bin, hat Adalbert das Ganze über eine Kamera verfolgt. Das muss er sich ja irgendwo angesehen haben.«

»Ja, auf seinem Handy«, erwiderte Maiberg. Allerdings schien ihm die Schadenfreude angesichts Adams Wut abhandengekommen zu sein. »Zwar kann man sich die Aufnahmen aus allen Zellen an einem Bildschirm anschauen, aber der steht in den Privaträumen des Kollektors. Und die sind auf der anderen Seite des Kabinetts.«

»Wunderbar«, stöhnte Adam. Er stemmte die ausgestreckten Arme gegen die Tür und ließ resigniert den Kopf hängen.

Ein sanftes Beben im Boden ließ Lea zusammenfahren. »Wir können nicht hier bleiben und darauf hoffen, dass die Tür von allein aufspringt. Lass uns ein paar Zahlenvariationen ausprobieren ... Adalbert ist in Etienne vernarrt. Was für Zahlen fallen dir zu Etienne

»Etienne und Zahlen? Dazu fällt mir überhaupt nichts ein. Der Mann besteht nur aus Buchstaben, genau wie du.« Adams Arme knickten ein, und er rumste mit dem Kopf einige Male gegen die Metalltür. Maiberg sah ihm fasziniert dabei zu.

»Nun«, überlegte Lea fieberhaft. »Etiennes Geburtstag, der Geburtstag seines Lieblingsdichters, die Anzahl seiner Lieblingsdichter ...«

Adam warf ihr über die Schulter einen scheelen Blick zu, dann leuchtete die Erkenntnis in seinen Augen auf. Mit einem Satz war er bei dem Display und tippte eine Zahlenfolge ein. Seufzend schwang die Tür auf, und Adam wies grinsend auf die Schleuse, als wäre er der Einlasser beim Zirkus.

»Der Tag, an dem Etienne verwandelt wurde - zufälligerweise der Todestag von Victor Hugo. Nur deshalb konnte ihn sich Etienne über die Zeiten hinweg merken.«

Als die Notbeleuchtung in der Schleuse ansprang, suchte Adam die zweite Tür bereits nach einem weiteren Display ab. »Nein«, sagte Lea leise und nahm seine Hand. »Sie wird gleich von allein aufgehen.« Adam erwiderte den Griff ihrer Hand, und sie spürte das leichte Zittern seiner Finger. Sein ganzer Körper war ein einziges Spannungsfeld, aber als die zweite Tür aufschnappte, blieb er regungslos stehen. Lea schloss ihre Hand fester um seine. Sie sah Adam im Dämmerlicht nicken, dann trat er in das Zimmer ein, das in den letzten Jahren Etienne Carrieres persönliche Hölle gewesen war.