2. Blaue Stunde
Es war die beißende Schärfe der Frostluft, die sie am nächsten Tag weckte. Langsam öffnete Lea die Augen und blinzelte in die dunstverhangene Morgensonne. Hinter ihrer Stirn tobte das Traumkino der Nacht weiter, jagte ein verstörendes Bild nach dem anderen über die Leinwand, so dass ihr schwindelig wurde, obwohl sie flach auf dem Rücken lag. Sie wurde verfolgt, ergriffen, herumgerissen, überwältigt,immer und immer wieder, bis sie kaum noch Luft zum Atmen fand. Doch die Furcht ums nackte Überleben hatte sich mit einer Lust am Ausgeliefertsein gepaart. Und der Erregung, wenn alles um sie herum in Dunkelheit versank. Ein unbeschreibliches Verlangen, wenn schon vernichtet, dann doch wenigstens gefunden worden zu sein.
All dies hinterließ beim Erwachen eine seltsame Empfindung. Was hatte ihre Fantasie da nur zusammengewürfelt?, fragte Lea sich und versuchte, die Eindrücke der Nacht zu verdrängen. Dabei verflüchtigten sich diese wie ein Wolkenbild, das eben noch deutlich den Umriss eines Gesichts gezeigt hatte und im nächsten Moment nichts weiter als angehäufte Watte aus Blau und Weiß war.
Erstaunt bemerkte Lea, dass sie komplett angezogen auf der Matratze in ihrem kleinen Zimmer lag. Das Fenster stand sperrangelweit offen. Sie konnte von Glück sagen, dass der Heizkörper tapfer der hereinströmenden Eiseskälte entgegenbollerte. Ansonsten hätte sie sich zumindest von Zehen und Nasenspitze verabschieden dürfen.
Verwirrt setzte Lea sich auf und tastete ihre Erinnerung behutsam nach den Geschehnissen des letzten Abends ab. Sie hatte weder eine Idee, wie die Diskussion geendet hatte, noch eine Erinnerung an die Verabschiedung. Ihr Körper hatte einfach auf Autopilot geschaltet. Wie in Trance war sie durch die weißen Schneemassen nach Hause getaumelt, den Kopf im Sternenhimmel und das Herz ein tiefer erdiger Schlag, dessen Vibrationen Welten erzittern ließen.
Erst die Kälte brachte die Bilder des vergangenen Abends allmählich zurück. Adams Geruch war dem des Frostes ähnlich gewesen, als er während der Diskussion dicht neben ihr gestanden hatte. Kalt und klar hatte er geduftet, als sie ihm in die Augen geblickt hatte.
Was hatte sie in seinen Augen gesehen?
Mit einem Schlag war es Lea so heiß, als hätte sie das Fenster niemals geöffnet. Schwer atmend kam sie auf die Füße. Ein Bild blitzte auf, aber sie bekam es nicht zu fassen. Voller Staunen schaute sie auf das Unbeschreibliche, das ihr aus diesen grünen Augen entgegengeblickt hatte und dem sie versuchte, eine Form zu geben. Stattdessen entzog sich ihr das Bild und ließ eine schmerzend leere Stelle zurück. Wenn sie nicht aufpasste, würde ihr der Zauber, der in diesem Blick gelegen hatte, verloren gehen.
Verzweifelt gestand sich Lea ein, dass sie keine passenden Worte für den Moment fand, als Adam ihren Blick erwidert hatte. Es schien so, als höre er deshalb auf zu existieren und würde zu einer bloßen Traumgestalt. Als wäre es ein Rettungsanker, langte Lea nach einem abgegriffenen Gedichtband von Edgar Allen Poe, in dessen Leineneinband vor Jahren ihr Hund Rüben einen Abdruck seiner Zähne hinterlassen hatte. Mit zitternden Fingerspitzen fuhr sie über die Zeilen:
And all the way along
Amid empurpled vapors, far away
There where the prospect terminales - thee only.
Es gelang den Versen, das Zerren in Leas Innerem zu besänftigen. Noch ein wenig wackelig auf den Beinen, schloss sie das Fenster und setzte sich wieder auf die Matratze, wobei sie Poes magische Worte wie ein Mantra leise wiederholte.
Während sie nach dem Grund dieser uferlosen Sehnsucht forschte, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wann und wo sie Adam wiedersehen würde. Nach der kurzen Unterhaltung hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt. Vielmehr glaubte Lea, dass Adam noch vor der allgemeinen Verabschiedung verschwunden war.
Sie hing diesem verstörenden Gedanken nach, als plötzlich ihr Handy klingelte. Hektisch suchte sie den Raum ab, bis ihr klar wurde, dass das dröhnende Gerät sich in der Seitentasche ihres Parkas befand, den sie immer noch trug.
»Ja?«, meldete sie sich atemlos.
»Guten Morgen, Lea.« Professor Carriere versuchte gar nicht erst, den belustigten Ton in seiner Stimme zu unterdrücken. »Hoffentlich habe ich Sie nicht geweckt?«
Lea kniff sich heftig ins Nasenbein.Tief einatmen, verdammt!, feuerte sie sich selbst an. »Sie müssen entschuldigen, ich bin eben elf Stockwerke zu Fuß hochgelaufen. Geben Sie mir bitte einen Moment.« Völlig selbstverständlich rutschte ihr die Flunkerei über die vor Aufregung zitternden Lippen.
Erleichtert hörte sie ein leises Lachen vom anderen Ende der Leitung.
»Ich möchte Sie heute ins Dekadenz zum Abendessen einladen, meine Liebe. Das Friedrich-Gemälde, über das Sie gestern gesprochen haben, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Eigentlich ist schon so vieles über die Bedeutung des Mönchs am Meer für die Romantik gesagt worden, trotzdem würde ich gern da weiter ansetzen. Ich dachte mir, wir treffen uns und lassen den Gedanken freien Lauf.Was meinen Sie?«
Lea nickte begeistert. Als sie begriff, dass Carriere auf ihre Antwort wartete, überschlug sich ihre Stimme beim »Unbedingt!« fast vor Eile.
Den restlichen Tag überließ sie sich dem berauschenden Sog, in den Adam sie am Abend zuvor gestürzt hatte.
Lea konzentrierte sich auf Professor Carrieres auf- und zuklappenden Mund. Es konnte doch nicht so verflucht schwer sein, wenigstens einige Worte aufzufangen. Sie hatte nicht den Anschluss an dieses Gespräch verloren, nein, sie hatte schon den Einstieg verpasst. Betäubt saß sie da, die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben und minimales Interesse heuchelnd.
Glücklicherweise verstand Professor Carriere unter einer netten Plauderei einen von ihm gehaltenen Monolog. Vis-ä-vis mit einer, für die Verhältnisse im Dekadenz, reizlos zurechtgemachten Studentin. Dabei hatte Lea in einem Anfall von Wahn die wenigen Kleidungsstücke, die sie für das Auslandssemester mitgenommen hatte, so lange miteinander kombiniert, bis ein einigermaßen akzeptables Outfit dabei herausgekommen war. Nun, zumindest hätte sich der eng anliegende Rollkragenpulli zusammen mit der Jeans gut in einer Studentenkneipe gemacht.
Erneut schluckte Lea die Verzweiflung hinunter. Dabei war es nicht die zweideutige Situation, allein mit ihrem Professor in einem der besten Restaurants der Stadt zu sitzen, die Lea bekümmerte. Als sie zum dezent abseits stehenden Tisch geführt worden war, der eine Aussicht auf das Labyrinth des Straßennetzes bot, hatte sie enttäuscht festgestellt, dass nur für zwei Personen gedeckt worden war.
Die Enttäuschung war sogar so groß gewesen, dass Lea am liebsten wieder gegangen wäre, um zu Hause ausgiebig in ihr Kissen zu schluchzen. Auf diese Art verarbeitete sie seit Kindheitstagen alle Reinfälle, die das Leben ihr bot. Doch dann hatte sie einmal tapfer geschluckt und sich eingestanden, dass Adam an diesem Essen nicht teilnehmen würde.
Kaum hatte der Kellner Lea mit einer galanten Geste an den Tisch geschoben, war Professor Carriere erschienen, hatte ihr die Schulter getätschelt und, noch während er sich setzte, mit seinem Vortrag begonnen. Nur zur Bestellung hatte er eine Pause eingelegt und mit einer generösen Geste Lea die Auswahl überlassen, was sie mittlerweile beide zutiefst bereuten.
Eigentlich war Lea auf die Situation vorbereitet gewesen: Auf ihrem Zimmer hatte sie gewissenhaft die Frage »Was würden Sie uns heute empfehlen?« nachgeschlagen. Sie hatte nichts von der Antwort des Obers verstanden - das von einem schweren Akzent durchwirkte Französisch schien sogar Professor Carriere vor ein unlösbares Rätsel zu stellen -, dennoch hatte sie tapfer gelächelt und mit einem »wunderbar« geantwortet.
Nachdem die kristallisierte Kürbissuppe und die in Gelee verwandelten Garnelen überstanden waren, hatten ihr die neben Rote-Bete-Schaum drapierten Wachtelteilchen samt dem zu einem Miniaturfächer gebundenen Schnittlauch den Rest gegeben. Sie fühlte sich heillos überfordert, und obwohl ihr Magen laut und deutlich vor Hunger knurrte, schob sie den kaum angerührten Teller diskret von sich. Noch eine moderne Geschmacksbombe, und sie würde sich draußen Schnee in den Mund schaufeln müssen, befürchtete Lea.
Professor Carriere lächelte ebenfalls gequält. »Sie haben auch eine spezielle Karte für regionale Spezialitäten, aber die rücken sie nur ungern heraus. Man isst hier halt en vogue. Vielleicht sollten wir uns später unten an der Ecke noch eine Portion Piroggen mit Pilzen und Sauerkraut holen.«
Lea nutzte Carrieres kulinarische Verunsicherung, um sich kurz in den Waschraum zurückzuziehen. Im Vestibül, der eine groteske Mischung aus fatalem Barockverständnis und dem Schönsten, was der hiesige Kristallhandel zu bieten hatte, darstellte, ließ sie sich seufzend auf einen Hocker vor einem der Schminktische fallen.
Lea war sich bewusst, wie blass sie in diesem Farbenrausch aussehen musste. Die üppig aufgerüschten Damen mit ihren nackten Füßen in Strass-Sandalen und lackierten Lippen schienen das ähnlich zu sehen, denn sie schenkten Lea keinen zweiten Blick. Sony, aber die Evolution hat mich noch nicht kälteunempfindlich werden lassen, dachte Lea mürrisch und betrachtete ihre vom Schmelzwasser fleckigen Stiefelspitzen.
Was sollte sie bloß tun? Da saß sie nun im Studentenoutfit in einem First-Class-Restaurant vor lauter originellen Gerichten, die ungenießbar waren, und gab vor, dem nicht enden wollenden Gedankenfluss ihres Professors zu lauschen, während sie vor Sehnsucht am liebsten laut aufgeschrien hätte. Diese ganze Situation war bizarr und hätte sie wahrscheinlich auch überfordert, ohne dass die Abwesenheit eines ihr eigentlich fremden Mannes sie in den Wahnsinn trieb.
Lea seufzte. Ob sie Adam jemals wieder treffen würde? Vielleicht bot sich ja eine Gelegenheit, wenn Professor Carriere ihr später noch eine besonders schöne Ausgabe von Abenteuer einer Silvesternacht zeigen wollte. Wahrscheinlich liegt sie in seinem Schlafzimmer, dachte Lea gehässig. Einen Augenblick später zuckte sie schuldbewusst zusammen, denn der Professor hatte den gesamten Abend über nicht die geringstenAnstalten gemacht, mit ihr zu flirten. Deshalb würde sie jetzt auch höflich anden Tisch zurückkehren und ihm zuhören. Und zwar richtig, wie es sich für eine gute Studentin gehörte.
Als Lea in den Saal zurückkehrte, hielt sie den Blick starr auf den Boden gerichtet. Ihr Bedarf an abfälligen Blicken von Geschlechtsgenossinnen war für den heutigen Abend eindeutig gedeckt. Sie kam sich so grau und überflüssig vor wie noch nie zuvor.
»Ich weiß nicht, wie du dieses Zeug hinunterbekommst.« Adam saß mit dem Rücken zum Fenster am Tisch und betrachtete fasziniert die Reste auf Carrieres Teller.
»Alles eine Frage der Übung«, erklärte Carriere mit fachmännischem Ton, bevor er Lea bemerkte.
Mit einem Lächeln winkte er sie heran, überließ es jedoch Adam, der jungen Frau mit dem Stuhl behilflich zu sein. Adam nickte lediglich zur Begrüßung, während seine Hände auf der Stuhllehne ruhten. Ohne sich dessen bewusst zu sein, atmete Lea tief ein, während sie sich hinsetzte. Der wunderbare Geruch nach Schnee, der von Adams Kleidung aufstieg, raubte ihr die Sinne.
Wenig später war der Tisch bis auf den Kerzenlüster und drei volle Weingläser abgedeckt, und Lea war sich sicher, einen kleinen Schwips zu haben. Adams berauschender Anblick machte das Ganze nicht besser, auch wenn er ihren Blick mied. Das sollte Lea recht sein, solange sie nur dasitzen und ihn ansehen konnte. Sie versuchte gar nicht erst, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Seine pure Anwesenheit reichte ihr in diesem Moment vollkommen aus. Genießerisch schwelgte sie in seinem Anblick, studierte die Anspannung in seinem aufrechten Oberkörper. Sie prägte sich die Form seiner Hände ein, die beide locker auf dem Tisch lagen. Beobachtete, wie das Licht immer wieder honigfarbene Strähnen in seinem dunklen Haar aufleuchten ließ, so dass es einen warmen Glanz bekam.
Schließlich riss etwas in Professor Carrieres Stimme sie aus der Verträumtheit. Lea blinzelte. Das war eine direkt gestellte Frage gewesen, und sie hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte. Professor Carriere hatte den Faden wieder aufgenommen und schien zumindest in Adam einen interessierten Zuhörer gefunden zu haben.
Carriere lächelte freundlich. »Meine Liebe, seien Sie nicht schüchtern und erzählen Sie uns, wie Sie in den Sog der Romantik geraten sind.«
Es dauerte einen Moment, bis Lea begriff, dass er nicht von ihren Gefühlen zu Adam gesprochen hatte, sondern weiterhin bei seinem Steckenpferd, der Romantik, verweilte. Ihre Gehirnzellen schalteten auf Hochtouren, ein Kaltstart, wie sie erschrocken registrierte.
»In einen Sog geraten ...«, wiederholte sie nachdenklich. »Das kam, wie mit den meisten Übeln, am Ende der Kindheit auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Ich entdeckte eine Schwäche fürs Unheimliche ...« Lea hielt inne. Was sie da erzählte, klang furchtbar langweilig. Dabei war diese Erfahrung damals in ihrer ganzen Schlichtheit beinahe eine Erleuchtung gewesen, die ihr ganzes späteres Leben beeinflusst hatte. »Das klang jetzt ausweichend«, setzte Lea erneut an. »In Wirklichkeit habe ich als Zwölfjährige während eines Sommerurlaubs die Welt des Schauerromans entdeckt, sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Die Sonne schien, die Leute hatten Spaß, und ich trieb meine Mutter in den Wahnsinn, weil ich mein ganzes Geld in zentnerschwere Taschenbücher mit so schönen Titeln wie Salem 's Lot investierte. Diese Schauergeschichten haben etwas in mir zum Klingen gebracht, gaben mir das Gefühl, fortgerissen zu werden, ohne Hoffnung auf Rettung. Der Strand und das Wasser waren mir egal, ich saß im Strandkorb und hatte nicht einmal die Zeit für eine kleine Plauderei mit meiner Mutter, weil ich vollkommen gebannt war. Als ich dann anfing, Literatur zu studieren, brauchte ich über meinen Schwerpunkt nicht lange nachzudenken. Ja, ich bin einfach dem Geist der Romantik verfallen. Außerdem lagen mir das Irrationale und die ziellose Schwärmerei schon immer besonders gut.«
Lea hatte während ihres kleinen Vortrags die reflektierenden Lichter in der Fensterscheibe hinter Adams linker Schulter fixiert, und dort blieb ihr Blick haften, bis ein leises Lachen von Professor Carriere sie erlöste.AUerdines wirkte er eher erleichtert als amüsiert.
»Eine Schwäche fürs Irrationale ist eine wunderbare Voraussetzung, wenn man die bekannten Grenzen überschreiten möchte. Lea, wie sieht eigentlich Ihr Leben aus? Sie sind eine hervorragende Studentin mit einem seltsamen Sinn für Humor.« Mit einer einzigen Handbewegung wies Professor Carriere Leas Einspruch ab. »Warum sonst hätten Sie einen Ort wie diesen gewählt, wenn Ihr Stipendium Sie in die großen, alten Städte des Kontinents hätte bringen können? Liebeskummer?«
Beim letzten Wort gönnte Lea sich einen Blick auf Adams Gesicht. Dieser hatte eben einen Schluck Rotwein nehmen wollen, als er mitten in der Bewegung innehielt. Seine Augen wanderten zu Lea, aber schon im nächsten Moment wandte er sich wieder ab und trank aus seinem Glas.
Da Lea ihm eine Antwort schuldig blieb, fuhr Professor Carriere fort. »Sehen Sie, Sie bleiben stets in diesem universitären Rahmen verhaftet. Es ist schwierig, Sie hervorzulocken. Aber mich würde interessieren, was sich hinter der anstudierten Art zu denken und zu reden verbirgt. Was ist der Auslöser für dieses hingebungsvolle Interesse? Ihr Wissen und Ihre Leistungen sind vorbildlich, dennoch kann ich keinen roten Faden erkennen. Ich vermute, Sie wissen nicht, wohin die Reise gehen soll, weil Sie nicht ausloten wollen, woher dieses Verlangen stammt?«
»Sie sind auch an Psychologie interessiert?«, fragte Lea schärfer als beabsichtigt. Doch sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Professor Carriere sie in eine bestimmte Ecke zu drängen versuchte. Außerdem spürte sie deutlich Adams zunehmende Unruhe, dessen Aufmerksamkeit weiterhin Carriere galt. Dabei lehnte er sich so weit über den Tisch, als werde er jeden Augenblick wie eine Raubkatze zum Sprung ansetzen.
Ein Lächeln schlich sich auf Leas Gesicht. Wenn dieses Thema bei Adam eine Regung hervorrief, dann musste sie daran festhalten, selbst wenn sie dabei einem gewitzten Gesprächspartner wie ihrem Professor ins Netz ging. Hauptsache, es gelang ihr, Leben in Adams verschlossenes Gesicht zu bringen, so dass es vielleicht etwas über ihn verriet.
»Ich denke, mich interessieren diese Grenzgänge, auf die einen die Romantik einlädt, bei denen alles verschwimmt und durcheinandergerät, und man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Das Brechen von Gesetzen, diese vage Sehnsucht nach dem Unbekannten. Vielleicht muss man an der richtigen Stelle empfindsam sein, um sich mit Lord Byron und seinesgleichen einlassen zu können.«
Lea konnte Adam schnauben hören, doch Professor Carriere kam ihm zuvor: »Was ich wissen möchte, meine Liebe: Beruht Ihre Empfindsamkeit auf reiner Neugierde? Oder ist Ihr Verlangen stärker, etwas, worauf man bauen kann?«
Verwirrt blickte Lea den Professor an. Die Worte bewegten etwas in ihr, als habe er mit der Fingerspitze die stille, spiegelglatte Oberfläche eines Sees berührt. Während Lea nach einer Antwort suchte und dabei in Carrieres ernstes, vor Konzentration blasses Gesicht sah, brach Adam den Zauber, in dem er abrupt aufstand.
»Beenden wir dieses Verhör für heute. Du kannst sie ja morgen in der Vorlesung weiterquälen. Lea, ich bin mit dem Wagen da und werde Sie jetzt nach Hause bringen, wenn Sie möchten.«
Mit einem Satz sprang Lea auf, um sich im nächsten Moment für diese Unhöflichkeit zu schämen. Doch weder Professor Carriere noch Adam nahmen ihr Verhalten wahr, denn sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, einen wortlosen Disput miteinander auszufechten.
Beklommen wartete Lea ab, bis der Professor ihr unvermittelt die Hand zur Verabschiedung reichte. Er tätschelte ihr den Handrücken und sagte verschmitzt: »Wahrscheinlich muss ich mich bei Ihnen weder für mein Temperament noch für meine Neugierde entschuldigen, meine Liebe. Sie haben ja sicherlich Verständnis dafür, wenn man sich vor lauter Leidenschaft nicht zusammenreißen kann und Gefahr läuft, sich lächerlich zu machen.«
Er schenkte ihr noch ein Blinzeln, dann berührtenAdams Fingerspitzen kurz ihre Schulter, um sie zum Gehen aufzufordern. Sofort ließ Lea ihreÜberlegungen fallen, ob Professor Carriere seine Worte tatsächlich so offenkundig doppeldeutig gewählt hatte, wie es ihr vorkam.
Benommen folgte sie Adam auf dem Weg durch den Speisesaal. Dabei entgingen ihr weder die dunkelblonden Härchen auf seinem Handrücken, als er ihr die Tür öffnete, noch die fest aufeinandergepressten Lippen in der Spiegelung des Wagenfensters, wobei die sinnlich geschwungene Unterlippe nichts von ihrer Wirkung einbüßte. Auch die steile Falte über seiner rechten Braue, die sich seit Carrieres Verhör eingegraben hatte, übersah sie nicht. Nur die Fahrt durch die dunkle Stadt war schneller vorbei, als Lea es mitbekam. Bevor sie auch nur den Versuch einer Unterhaltung starten konnte, öffnete Adam ihr bereits die Beifahrertür.
Schweigend erklommen sie die Treppen, und Lea stellte am Grad ihrer Atemlosigkeit fest, dass sie den elften Stock viel zu rasch erreichten. In dieser grauen, spärlich beleuchteten Umgebung schien Adam regelrecht zu strahlen, als stamme er aus einer anderen Dimension, schön und fremd. Eine Treppen steigende Marmorstatue, die einen süchtig machenden Duft verströmte, wie Lea erneut voller Verlangen feststellte.
Als sie vor ihrer Zimmertür ankamen, war Lea außer sich. Wie ein Fluch lastete jene Art von Verliebtheit auf ihr, die einen zur Reglosigkeit verdammt. Zugleich spürte sie Panik aufsteigen, weil Adam sich gewiss jeden Augenblick verabschieden würde.
Adam stand so dicht neben ihr, dass sie nur die Hand hätte anheben müssen, um sein ausdrucksloses Gesicht zu berühren. Doch er mied jeden Kontakt mit ihr. »Gute Nacht, Lea«, sagte er, dann war er auch schon gegangen.
In ihrem Zimmer schaffte es Lea gerade noch, die Kleidung abzustreifen und sich auf die am Boden liegende Matratze fallen zu lassen, ehe sie sich wie ein Fötus zusammenkrümmte und in die Leere hineinfühlte, die ihr Innerstes in Besitz genommen hatte. Gewaltsam zwang sie sich, mit dem Weinen anzufangen, und schließlich schluchzte sie so herzzerreißend, dass sie kaum noch Luft bekam. Trotz der spürbaren Erleichterung kostete es sie noch viele Tränen, bis sie endlich eingeschlafen war.
Einige Stunden später riss die plötzliche Erkenntnis Lea aus dem Schlaf. Keuchend setzte sie sich auf, ihr Brustkorb schmerzte, als hätte etwas Schweres darauf gelegen. Woher wusste er, wo ich wohne? In welchem Stock? In welcher Wohnung? Er war vorausgegangen, immer! Da war Lea sich sicher.Woher weiß er das alles?
Adam hatte kaum mitbekommen, wie er die Treppen hinuntergestiegen war - Schritt für Schritt, keinen einzigen Gedanken zulassend. Unvermittelt fand er sich im Freien wieder. Hinter ihm knarrte die Eingangstür, die langsam zuschwang. Durch die ewig beschlagenen Glasscheiben der Doppeltür drang das Licht der Flurbeleuchtung, und er glaubte das Surren der Leuchtstoffröhren zu hören. Zunehmend verdichtete es sich zu einem lauten Kreischen, das ihm in den Ohren schmerzte. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, dass das Kreischen nicht von den Lampen stammte, sondern tief in seinem Inneren wütete.
Nur mit Mühe konnte er dem Drang widerstehen, den Weg, den er soeben qualvoll hinter sich gebracht hatte, zurückzustürzen, um endlich das Verlangen zu stillen, das ihn um den Verstand brachte.
Adam zwang sich, einige Male tief durchzuatmen, dann ging er zu seinem Wagen. Als er den Schlüssel hervorzog, zitterten seinen Hände so sehr, dass es ihm nicht gelang, die Tür aufzuschließen. Mit einem unterdrückten Wutschrei schlug er gegen die Scheibe, die unter der Wucht zersplitterte. Er zog seinen Arm zurück und entdeckte einige rot verwischte Flecken auf dem zerbrochenen Glas.
Augenblicklich ließ der Drang, der ihn bislang in einem eisernen Griff gehalten hatte, nach. Der Anblick des Blutes veränderte alles, und nicht nur Adams Aufmerksamkeit war in diesem Augenblick auf die Blutspur gerichtet.
Das gelbliche Oberlicht der Zentralbibliothek ließ die Augenpartien der gesenkten Köpfe im Schatten verschwinden, und der Anblick der feinen Staubpartikel, die durch die Luft flimmerten, nötigte mancher Lunge ein kratziges Husten ab. Eine ganze Zeit lang beobachtete Lea, wie ein junger Mann, der trotz der Hitze eine dieser grellen Trainingsjacken aus verschleißresistentem Plastik trug, in einem ziemlich gleichmäßigen Fünf-Minuten-Takt die Seiten einer medizinischen Enzyklopädie umschlug. Sie gönnte sich noch drei weitere Seiten, die es umzublättern galt, ehe sie sich erneut dem vor ihr liegenden Gemälde zuwandte.
Der Druck von Der Mönch am Meer hatte sich in der Zwischenzeit wieder zusammengerollt. Vorsichtig strich Lea ihn glatt und beschwerte die gewellten Kanten mit Notizblock und Stiftetui. Dann rieb sie sich ausgiebig die vom Schlafmangel brennenden Augen, was diese jedoch noch mehr reizte.
Neben ihr lag das schlechte Gewissen in Form eines Stapels Papier, vollgekritzelt mit geistlosem und schlecht abgekupfertem Zeug. Seit Tagen hatte sie keinen einzigen originellen Gedanken zustande gebracht. Dabei rückte der Abgabetermin bedrohlich näher, und Lea war es nicht gewohnt, unter Zeitdruck zu geraten. Normalerweise flogen ihr die Ideen nur so zu, aber nun herrschte Schweigen. Ihr Herrgott, es konnte doch nicht sein, dass ein Mann, den sie nicht im Geringsten kannte, ihr so sehr Sinne und Verstand benebelte. Adam mochte ungewöhnlich schön sein, gewiss. Aber war Schönheit in der Lage, eine solche Sehnsucht hervorzurufen, dass es einem die Brust zuschnürte? Und das Einzige, was Adam ihr von seinem Wesen offenbart hatte, war seine Unnahbarkeit. Auch das konnte ohne Zweifel reizvoll sein, doch so reizvoll, dass das ganze Leben plötzlich leer erschien, nur weil dieser Mann nicht anwesend war?
Frustriert starrte Lea die schmächtige, schattenartige Figur des Mönchs an, die ihr den Rücken zugewandt hielt und fast aus dem Bild herauszufallen schien. So wie ich aus meinem Leben, dachte sie, während sie mit den Fingern ein zusammengeknülltes Papier quer über den Tisch schnipste.
Erneut versuchte sie, sich auf den Kunstdruck zu konzentrieren, in der Hoffnung, dass das Werk ihr etwas Inspirierendes einflüsterte. Nichts dergleichen geschah. Einige Sekunden beharrte Lea noch darauf, dem Bild etwas Verwertbares zu entreißen, dann gab sie auf und schaute es sich einfach nur an.
Das unendliche Blau des Horizonts, den Caspar David Friedrich so ungewöhnlich tief gelegt hatte, drang in sie ein, zerrte an Haut und Kleidern, riss sie mit ins unendliche Treiben zwischen Himmel und Meer. Ausgeliefert peitschte ihr der Wind die Haare ins Gesicht, riss die Atemluft vor dem Mund weg, so dass sie aufkeuchte. Lea ließ sich treiben, spürte, wie sie schwankte. Ein Brausen umfing sie, vertrieb den letzten Widerstand, löschte jeden Gedanken. Sie ließ sich in die blaue Unendlichkeit fallen, nur allzu bereitwillig gab sie sich auf.
Später hätte sie nicht sagen können, wie lange sie derartig versunken dagesessen hatte, die Hände um die Kanten der Tischplatte gekrallt, bis ihr Bewusstsein sie Tropfen um Tropfen wieder zusammengesetzt hatte. Sie war nicht sonderlich erfreut darüber, denn sofort setzte aufs Neue das brennende Pochen in ihrer Brust ein, das alles andere unwichtig und abgestorben erscheinen ließ.
So kann es nicht weitergehen, beschloss Lea. Es war lächerlich, die Tage wie in Trance zu verbringen und sich um nichts mehr zu kümmern, was einem bislang wichtig gewesen ist. Die Nächte waren auch nicht besser: Die Einsamkeit raubte ihr den Schlaf, ließ sie immer wieder hochschrecken und das dunkle Zimmer nach jemandem absuchen, der nie vorgehabt hatte, es zu betreten. Dennoch wartete alles in ihr darauf, dass Adam zurückkehrte.
Lea lachte bitter. Wahrscheinlich plante ihre von Verlangen zerrissene Seele so lange in der Warteschleife zu verbringen, bis Adam es sich anders überlegte. Ein Plan B war offensichtlich nicht vorgesehen. Sie würde leblos wie Dornröschen abwarten, bis der Prinz sich blicken ließ.
Und wenn nicht? Ach, was war ihr Leben denn schon wert? Alles erschien so sinnlos, gemessen an Adams Abwesenheit.
Erleichtert fühlte Lea, dass etwas wie Empörung in ihr aufstieg. Ein Rettungsanker, nach dem sie hoffnungsvoll griff. Die ganze Geschichte war vollkommener Irrsinn. Sich um den Verstand bringen zu lassen von einem schönen Mann, mit dem sie lediglich ein paar Sätze gewechselt hatte.Wer konnte schon sagen, welche Abgründe sich hinter der verführerischen Fassade verbargen? Oder schlimmer noch: Vielleicht gab es nur die Fassade. Um sich noch gründlicher vor Augen zu führen, wie sehr sie sich mit dieser Entrücktheit lächerlich machte, malte Lea sich aus, wie sie einer Freundin von Adam erzählte. Nur allzu gut konnte sie sich die mitleidsvollen Blicke und das unterdrückte Schmunzeln vorstellen, das ein Geständnis hervorrufen würde. Dann ließ sie das Gedankenspiel plötzlich stutzen: welcher Freundin? Und für einen kurzen Augenblick dachte sie an etwas anderes als an diesen anziehenden, aber unerreichbaren Mann.
Zu Hause hatte sie keine richtige Freundin, lediglich Maria, mit der sie jedoch seit ihrer Auseinandersetzung nicht mehr gesprochen hatte. Außerdem war Maria von ihrer Art her viel zu trocken, um sich irgendwelche Schwärmereien anzuhören - da musste Lea nicht lange darüber nachdenken. Hier an der Universität hatte Lea bislang nur mit Jazna mehr als ein paar Worte gewechselt, aber mit ihr über etwas so Verwirrendes zu sprechen? Dafür kannten sich die beiden Frauen noch nicht gut genug. Außerdem erinnerte sich Lea nur ungern an die anzüglichen Bemerkungen über Adam, die Jazna nach dem Abend in Professor Carrieres Haus gemacht hatte. Zu hören, wie jemand den Mann, der sie um den Verstand brachte, lediglich als ein Lustobjekt darstellte, war ihr zuwider.
Lea nahm einen Stift zwischen die Hände und rollte ihn in Gedanken versunken hin und her. Ihre Mutter wäre bestimmt begeistert auf das Thema eingestiegen. Schließlich hatte sie stets befürchtet, dass ihre Tochter zwar die verträumte Art ihres Vaters geerbt hatte, aber leider auch dessen Mangel an Leidenschaft. Wieder einmal wurde Lea bewusst, wie sehr sie ihre Mutter vermisste. Der einzige Mensch, der ihr wirklich jemals nahegestanden hatte, dem es gelungen war, mit Beharrlichkeit und sprödem Witz zu ihr durchzudringen.
Verstört biss sie sich auf die Unterlippe, als sie sich zu guter Letzt eingestehen musste, dass es tatsächlich niemanden gab, dem sie ihre verwirrenden Gefühle für Adam hätte anvertrauen können. Möglicherweise war es gerade ihre Einsamkeit, die für diesen rauschhaften Zustand verantwortlich war, dachte sie bitter.
Es war an der Zeit, zu akzeptieren, dass sie in eine Sackgasse geraten war: Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer Adam war. Sie wusstenur mit Bestimmtheit, dass er nicht einmal dazu bereit gewesen war, Interesse an ihr zu heucheln. Sämtliche Überlegungen, warum er zielsicher auf ihre Wohnung zugesteuert war, entsprangen dem gleichen Wunschdenken, das sie nachts in der Hoffnung aufwachen ließ, ihn neben ihrer Matratze sitzend vorzufinden.
Aus, Schluss und vorbei!, stachelte Lea sich an. Ab sofort gab es nur noch den guten alten Lebensmittelpunkt Literatur. Sie würde Professor Carrieres Augen mit ihrer Originalität zum Strahlen bringen. Entschlossen drückte sie den Rücken durch und blickte mit völlig neuen Augen auf Friedrichs Meisterwerk.
Erneut traf sie das Blau so unvermittelt und schmerzhaft, dass das Nervengeflecht zwischen Brust und Bauch sofort wieder unter Strom stand. Die Rebellion war verloren, jeder Widerstand war zwecklos. Lea ließ sich abermals willenlos davontreiben, bis Adam kommen und sie erlösen würde.