26. Auferstehung

Stille war eingekehrt.

Am ganzen Leib zitternd, setzte Lea sich mit ungelenken Bewegungen auf und schüttelte die Steifheit aus den Gliedern. Dann nahm sie sich die Zeit, um die Haarsträhnen, die an ihren nassen Wangen klebten, einzeln aus dem Gesicht zu streichen und die Kleidung zu ordnen. Mit spitzen Fingern befühlte sie die geschundene Wange, wo Megans Schlag sie getroffen hatte. Sogleich flammte der Schmerz wieder auf, und sie unterdrückte ein Stöhnen. Auch ihr Rücken tat weh, und unter ihren eingerissenen Fingernägeln pochte es unablässig. Doch unweigerlich zog die Mitte der Höhle ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die »Show« - wie Adam es genannt hatte - war vorbei. Noch immer gellten ihr die »Ahs« und »Ohs« des Kollektors in den Ohren sowie das glockenhelle Gelächter, mit dem er sich schließlich verabschiedet hatte.

Die ganze Zeit über hatte Lea auf den Moment gewartet, in dem ihr Herz sich dazu entschließen würde, mit Adam zu brechen. Doch es war nicht geschehen, der Bund zwischen ihnen war zu stark.Vielmehr breitete sich eine wachsende Unruhe in ihr aus, feuerte sie an, Adam ein Zeichen zu geben, dass sie immer noch zu ihm gehörte. Sie würde ihm beistehen, egal mit welchem Dämonen er gerade zu kämpfen hatte. Doch um welchen Preis würde sie das tun?

Mit Schrecken fragte sie sich, wie sie ihm gegenübertreten und in die Augen blicken konnte - mit dem Wissen, dass er gerade vor einer geifernden Meute eine Frau hingerichtet hatte?

Auch der Gedanke daran, welche grauenhaften Spuren sich in der Dunkelheit unter dem Felsvorsprung befinden konnten, ließ den Puls in Leas Schläfen dumpf pochen. Seit dem blutigen Kampf in Etienne Carrieres Haus fürchtete sich sie vor solch grausigen Bildern. Sie hatte am eigenen Leib erfahren müssen, das alles, was man einmal zu sehen bekam, vom Gedächtnis bei jeder unpassenden Gelegenheit wieder hervorgezerrt werden konnte. Die Erinnerung konnte die Gegenwart mit einem schwarzen Tuch durchziehen, das sich schlagartig wie ein Segel aufblähte und den Blick auf das Leben versperrte. Allein die Vorstellung, von Megans toten Augen verfolgt zu werden, war so schrecklich, dass Lea nicht wagte, sich zu rühren.

So kauerte sie noch eine Zeit lang auf dem kalten Stein und biss sich vor Unschlüssigkeit in die Unterlippe. Als sie sich schließlich eingestand, dass es sinnlos war, weiterhin in der Dunkelheit auszuharren, krabbelte sie auf den Vorsprung zu und ließ sich bäuchlings hinabgleiten. Während sie sich durch den Felsenwald tastete, mied sie es tunlichst, den Boden zu betrachten. Auf keinen Fall wollte sie etwas hell Schimmerndes entdecken, das sich bei genauerem Hinsehen als abgebrochener Zahn entpuppen könnte ... Außerdem ignorierte sie nach Möglichkeit das Geräusch ihrer Sohlen und die Konsistenz des Grundes. Falls es dickflüssige Lachen geben sollte, so wollte sie es nicht wissen.

Als sie aus dem Schatten der Felsen hervortrat, sah sie das Zentrum der Höhle mit erschreckender Klarheit. Ihre Augen hatten sich mittlerweile so sehr an das Dämmerlicht gewöhnt, dass das Licht der Scheinwerfer ein unangenehmes Brennen verursachte.

Beim Wasserlauf entdeckte sie Adam, wie er mit dem Rücken zu ihr auf dem Boden saß. Langsam ging sie auf ihn zu, wobei ihr das Herz bis zum Hals schlug, als wollte es sich einen Weg in die Freiheit sprengen. Einen Schritt vor ihm blieb Lea stehen und beobachtete seine Körperhaltung, in der Hoffnung, dass sie etwas über seinen Zustand aussagen mochte: Der Rücken war gebogen, den einen Fuß hatte er unter den Körper gezogen, während das andere Bein angewinkelt war und das Kinn auf dem Knie ruhte. Er wirkte in Gedanken versunken, die Schultern waren entspannt, der Rücken hob und senkte sich gleichmäßig. Kein Muskelzucken verriet, ob er ihre Anwesenheit wahrgenommen hatte.

Trotzdem gelang es Lea nicht, die Anspannung abzustreifen, die ihren Körper eisern umfangen hielt. Beklommen betrachtete sie Adams Arm,der auf den Boden gestützt war. Der Stoff des Ärmels schimmerte nass. Zwanghaft folgte Leas Blick dem reißenden Flusslauf, dorthin, wo das Wasser im dunklen Schlund der Felswand verschwand. Zwei der Eisenstäbe waren aus den verrotteten Halterungen herausgebrochen worden und boten Platz genug, um sich hindurchzudrängen.

In diesem Augenblick traf Lea die Gewissheit, dass Megans Körper sich nicht mehr in dieser Höhle befand. Ihr Verstand formulierte ausdrücklich Körper, als wolle er die Fantasie bloß nicht anregen, wie es das Wort Leichnam vielleicht vermocht hätte. Zwecklos. Ein ausgebluteter Leichnam, das Gesicht im Augenblick des Todes noch vom Grauen verzerrt ... ein seltsam verrenkter Leichnam, da der Dämon beim Versuch, das neue Haus zu beziehen, sämtliche Knochen gebrochen und die Blutzellen zum Implodieren gebracht hatte ...

Verzweifelt bemühte sie sich, das Aufeinanderschlagen ihrer Zähne unter Kontrolle zu bringen, doch sie ließen sich genauso wenig beherrschen wie ihre wild wuchernde Fantasie. Ich brauche einen Schnaps, eine Tafel Schokolade und eine Wochenration Valium, ansonsten verliere ich hier gleich die Nerven, sagte sie sich mehrmals hintereinander, als handele es sich um ein Mantra.

Gleichzeitig stieg ihr jenes hysterische Kichern die Kehle hinauf, das ihr mittlerweile schon so vertraut geworden war.

»Adam?«, setzte Lea zögerlich an und hasste sofort den flehenden Klang in ihrer Stimme.

Langsam drehte Adam sich um. Dabei stützte er sich auf beide Hände, als wolle er zu einem Sprint ansetzen. Die Gesichtszüge waren entspannt, und die Haut wies keinerlei verräterische Spuren von Blut oder Verletzungen auf Ein verträumtes Lächeln umspielte seine Lippen, aber es erreichte seine Augen nicht. Die waren vollkommen ausdruckslos. Doch Lea wusste genau, wer in ihren grünen Tiefen seine Kreise zog.

Das Aufblitzen des Dämons ließ sie zurückweichen, woraufhin Adam mit einem Schlag sämtliche Muskeln in seinem Körper anspannte. Aber anstatt sie zu attackieren, richtete er sich in aller Ruhe mit geschmeidigen Bewegungen auf, als könne Lea sein Vorhaben nicht begreifen, wenn er sich nur langsam genug bewegte.

Obwohl sie den Drang verspürte, auf der Stelle kehrtzumachen und loszurennen, beherrschte sie sich und setzte einen Fuß nach dem anderen zurück. Ganz bedächtig, nur keinen Verdacht wecken, dass die Losung in Wahrheit »Je weiter weg von Adam, desto besser« lautete.

Adam legte den Kopf schief und beobachtete sie mit unverhohlenem Interesse. Mit seinen langen, kräftigen Gliedmaßen, die innerhalb eines Augenblicks solch vernichtende Energie freisetzen konnten, und dem kalten Funkeln in den Augen erinnerte er Lea einmal mehr an eine Raubkatze auf der Jagd. Berauscht vom Geruch der Angst. Verspielt und gern bereit, so zu tun, als bestünde für die Beute noch eine Chance zur Flucht. Aber auch eine Spur von Enttäuschung, denn eine Beute auf der Flucht war selten raffiniert genug, um den Ehrgeiz des Jägers zu befriedigen.

Verzweifelt überlegte Lea, was sie jemals über Raubtiere und deren Jagdverhalten gelesen hatte, doch ihr Gehirn reagierte wie das eines Fluchttieres, das in der Regel gefressen wurde: Sie wollte nur noch weg, und zwar schnell und möglichst weit.

Adams Nasenflügel flatterten, und für eine Sekunde ballten sich seine Hände krampfartig zu Fäusten. Unweigerlich zuckte sie zusammen und stieß einen leisen Schrei aus. Adams Haltung entspannte sich sogleich trügerisch, aber das sardonische Lächeln verriet den lüsternen Dämon: Laufund schrei, schien er ihr zuzuflüstern. Lass uns doch ein wenig Spaß an der Sache haben.

»Adam«, flüsterte Lea. »Ich werde ganz bestimmt nicht vor dir davonlaufen. Stattdessen werde ich mich jetzt umdrehen und mich ein wenig abseits hinsetzen. Dann warte ich ab, bist du wieder alles unter Kontrolle hast.«

Adams Mundwinkel zuckten nach oben, als wollte er sich vor Lachen ausschütten, wüsste aber nicht mehr, wie man das anstellt. Dann vibrierten seine Nasenflügel erneut, und der Blick, den er ihr zuwarf, war beredt genug.

Lea rannte los, rein dem Instinkt folgend, um eine möglichst große Entfernung zwischen sich und den Dämon zu bringen, der seine gierigen Finger nach ihr ausstreckte. Zwar konnte sie nicht hören, wie Adam sich vom Boden abstieß, aber sie vermutete, dass er ihr direkt auf den Fersen war. Vielleicht würde er sie noch etwas treiben, ehe er sie niederstreckte.

Mit einem Keuchen presste sie die Luft aus den Lungen, während sie vor Eifer beinahe über ihre eigenen Beine stolperte.Völlig von Sinnen vor Angst raste sie auf die senkrecht ansteigende Mauer zu, auf deren Rand in ferner Höhe der verlassene Regiestuhl des Kollektors stand.

Sie glaubte, Adam hinter sich heiser lachen zu hören. Im nächsten Moment durchschnitt etwas pfeifend die Luft, gefolgt von dem Knall eines Schusses und dem vielfachen Echo der Höhlenwände.

Mit einem dumpfen Krachen schlug ein Körper zu Boden.

Lea stoppte ihren Lauf, indem sie mit ausgestreckten Händen gegen die Wand prallte. Trotzdem konnte sie es nicht verhindern, dass auch ihr Brustkorb und ein Knie gegen den Stein knallten. Sie brauchte einige Atemzüge, um sich zu fangen, dann legte sie den Kopf in den Nacken und starrte hinauf. Oben stand Adalbert und sicherte die seltsam aussehende Schusswaffe, die mit Patronen voller Beruhigungsmittel bestückt war.

»Ich denke, es ist besser, wenn unser Freund hier eine Runde schläft, während wir beide einen kleinen Ausflug unternehmen«, erklärte er mit einer an Unverschämtheit grenzenden Sachlichkeit. »Außerdem sollte das Schauspiel, das Adam eben einläuten wollte, auf keinen Fall ohne den Kollektor stattfinden. Da hängt doch das ganze Seelenheil meines Herrn daran.«

Immer noch vor Angst und Erschöpfung keuchend, drehte Lea sich um und erkannte, dass Adams zusammengesunkener Körper neben dem Wasserlauf lag. Dort, wo sie sich von ihm abgewendet hatte. Er hatte sich nicht einen Schritt von der Stelle fortbewegt.

Lea starrte die Tür an, vor der Adalbert mit ihr stehen geblieben war: glattes, grau lackiertes Metall, eingelassen in eine niedrige Betonwand. Offensichtlich waren nicht alle Kerker für die interessanten Objekte des Kollektors in einem natürlichen Zustand belassen worden, so wie der, in dem man Adam und sie eingesperrt hatte. Adalbert hatte sie durch ein Labyrinth aus Gängen geführt, das immer wieder mal eine dieser Metalltüren aufwies. Unwillkürlich musste Lea an einen Sammelkasten für Schmetterlinge denken: Ein entsprechend großes Kästchen pro Exemplar.

Die grau getünchten Wände des Tunnels waren übersät mit Stockflecken, an einigen Stellen hatten sich feine Risse aufgetan, aus denen Wasser rann, das abgestanden riechende Pfützen auf dem Boden bildete. Als ahme das Reich des Kollektors seinen eigenen körperlichen Verfall nach. In absehbarer Zeit würde hier unten alles in sich zusammenbrechen und dieses obskure Kabinett voller Dämonen unter sich begraben.

Adalbert hatte ihr erneut den Seidensack über den Kopf gezogen, bevor sie das verwirrende Gangsystem betreten hatten. Auf ihrem Weg durch die langen Flure waren die drängenden Rufe der Sammelstücke immer leiser geworden. Als sie in einen Gang eingebogen waren, der in einer Sackgasse endete, waren sie gänzlich verstummt. Am Ende der Sackgasse war ebenjene Tür eingelassen, vor der Adalbert und sie nun wortlos standen. Das metallene Monstrum wies weder Schloss noch Klinke auf. Neben dem luftdicht abschließenden Rahmen war ein Codefeld eingelassen, das Adalbert nun mit seinem Körper abschirmte.

Alter Angeber, hätte Lea ihn am liebsten angezischt. Aber sie war zu erschöpft, um ihm den verdienten Seitenhieb zu verpassen. Ohnehin schien dem vernarbten Mann nach keiner Plauderei zumute zu sein. Nicht einmal ein Kommentar dazu, was für eine perfekte Zielscheibe Adam in seiner Fixiertheit auf Lea abgegeben hatte, war von seinen Lippen gewichen. Das änderte jedoch nichts daran, dass ihn eine verstörende Aura der Vorfreude umgab. Was immer er im Schilde führte, sie würde es sogleich erfahren.

Die Tür ließ ein Seufzen vernehmen, dann schwang sie automatisch auf wie eine gut geölte Safetür. Ehe Adalbert ihr einen Stoß verpassen konnte, ging Lea auf den Spalt zu und fand sich in einer Art Schleuse wieder, an deren Ende sich dieselbe Art Metalltür befand. Hinter ihr schloss sich der Spalt wieder, und eine karge Notbeleuchtung sprang an. Einige Minuten später schwang die zweite Tür auf, und ohne zu zögern trat Lea ein.

Vor ihr lag ein niedriger quadratischer Raum, dessen graue Betonwände gelegentlich von einem Stück Fels durchdrungen wurden, wodurch er ggq ,ggg g, den Anstrich eines unterirdischen Verlieses erhielt.

Offensichtlich eroberte sich der Berg auch über diese Höhlen die Hoheit zurück: An einigen Stellen fiel der Putz ab und gab den Blick auf zerbröckelndes Mauerwerk frei,Wasser quoll aus den Spalten hervor und höhlte die Bausubstanz aus. Noch während sie die Wände betrachtete, war ein Knacken zu hören, und ein haarfeiner Riss grub sich in den Putz. Von Sporendurchsetzte, schwere Luft, die von einemLuftschacht in der Decke unzureichend bewegt wurde, drang in ihre Nase und verursachte ihr Übelkeit.

In einer Ecke des Raumes war eine miniaturartige Kamera an der Decke angebracht, deren Auge Lea sofort auf sich ruhen spürte. Einige Kunstdrucke, die mit Klebeband angebracht waren, sowie Holzregale verzierten die nackten Wände. Die Regale waren überwiegend mit in Leder gebundenen Büchern bestückt, die sich auf den zweiten Blick allerdings als billige Sammlereditionen entpuppten. Zudem gab es viele Titel doppelt, wie sie anhand der identischen Buchrücken höchst irritiert feststellte. Auf der einen Seite des Raums stand ein Feldbett, doch genau wie die Bücher wirkte es mehr wie eine Attrappe denn wie ein realer Alltagsgegenstand.

Lea trat einen Schritt weiter in den Raum hinein und überlegte, ob der Kollektor vielleicht beschlossen hatte, sie in Einzelhaft zu stecken, bis Adam wieder zur Vernunft gekommen war. Sie konnte sich gut vorstellen, dass diese Zelle aus seiner Sicht ihre menschlichen Bedürfnisse abdecken würde. Ein Bett und etwas zum Lesen, weitab von den anderen Sammlerobjekten.

Mit einem Seufzer schloss sich die Tür hinter ihr und gab den Blick auf einen schäbigen Kaminsims aus Sperrholz frei, in dem anstelle eines Feuers eine nackte Glühlampe brannte. Davor standen ein Tischchen, auf dem ein Teeservice mit grünem Blumenmuster angeordnet war, und zwei gewöhnliche braune Sessel. In einem von ihnen saß Etienne Carriere und schob die Lesebrille auf der Nase zurecht. Auf dem Knie balancierte er eins der Bücher mit Kunstlederumschlag.

»Besuch«, sagte Professor Carriere mit einer Freundlichkeit, als hätte Lea höflich an seiner Bürotür angeklopft, um seine Sprechstunde aufzusuchen. »Nehmen Sie doch bitte Platz, Lea, und erzählen Sie mir ein wenig vom Lauf der Welt.«

Lea starrte ihn fassungslos an. Dort saß tatsächlich Etienne Carriere, vielleicht noch ein wenig asketischer wirkend und schmaler, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber ... keine Narben, keine fehlenden Körperteile. Nur ein seltsam vergeistigter Ausdruck, den sie nicht zu deuten wusste.Aber es war unbestreitbar Professor Carriere.

Adam hatte also doch recht gehabt: Es war Adalbert nicht gelungen, Carriere zu zerstören. Stattdessen hatte ihn der Kollektor seiner Sammlung einverleibt. Ob dieser Handel schon bestanden hatte, bevor Adalbert seinen Fuß in Carrieres schöne Villa gesetzt hatte? Adalbert, der Ohnmächtige, der für einen Moment lang die Vorstellung genießen durfte, die totale Herrschaft über seinen ehemaligen Herrn gewonnen zu haben, um ihn im nächsten Augenblick wieder ausliefern zu müssen. Ob Adam das geahnt hatte? Wahrscheinlich ja, denn auf einmal erschien Lea der Gedanke absurd, Adalbert könnte jemals die von Dämonen beseelte Söldnerin Truss für seine Angelegenheiten angeworben haben. Dazu brauchte es schon mehr, als die Rachegelüste eines verstoßenen Dieners.

Mit hölzernen Bewegungen nahm sie den angebotenen Platz ein und beobachtete den Professor, als verberge sich hinter seiner heiteren Miene die Antwort auf unzählige Fragen. Professor Carriere störte sich wenig an dieser Unhöflichkeit. Er nahm die Lesebrille ab und legte sie sorgsam auf den Kaminsims. »Ein wenig Tee?«, fragte er mit seiner melodiösen Stimme.

Geduldig wartete er ab, bis sie sich zu einem Nicken durchringen konnte. Dann zauberte er unter dem Tisch eine zweite Teetasse samt Untersetzer hervor und platzierte sie mit großer Akribie vor Lea. Automatisch fragte sie sich, welchen Besuch der Professor ansonsten hier in seinem dem natürlichen Lebensraum nachempfundenen Kerker empfing. Saß er in trauter Zweisamkeit mit Adalbert zusammen, und sie redeten über alte Zeiten? Allein bei der Vorstellung wurde Lea ganz elend.

Noch elender wurde ihr, als Professor Carriere zur Teekanne griff und ihr einschenkte: Es kam nichts heraus. Kein Tee, nicht einmal Wasser. Davon unberührt, stellte der Professor die Kanne zurück auf das kalte Stövchen.

»Zucker?«, fragte er.

Lea schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Kann ich auch nicht ausstehen«, erklärte er im schönsten Plauderton. »Verklebt einem irgendwie die Zähne.«

In diesem Moment erklang ein ohrenbetäubendes Dröhnen, als hätte ein Blitz in einen Container voller Holzspäne eingeschlagen. Denn obwohl das Geräusch in Leas Ohren nachhallte, erschien es doch zugleich unendlich weit weg. Als liege eine ganze Welt dazwischen. Leas Teetasse war umgekippt, der Goldrand angeschlagen. Sie stellte sie wieder auf und legte dann rasch den Arm auf die Sessellehne. Sie brauchte dringend etwas Reales, an dem sie sich festhalten konnte.

So saßen sie eine Zeit lang schweigend beisammen, wobei Professor Carrieres Gesicht einen abwesenden Ausdruck annahm, gerade so, als wäre ihm entfallen, dass Lea nach all den Jahren plötzlich wieder vor ihm saß. An diesem skurrilen Ort, tief unter der Erde. Beide Gefangene eines Irren, der von einem Dämon besessen war.

Plötzlich regte sich der Professor wieder, und Lea schwor sich, dass, sollte er Anstalten machen, aus seiner leeren Teetasse zu trinken, sie dann schreiend mit dem Kopf gegen die Metalltür rennen würde. Aber er tastete nur nach der Brille auf dem Kaminsims, als wolle er sich versichern, dass sie an Ort und Stelle lag.

»Was lesen Sie denn da?«, fragte sie und deutete auf das Buch, das immer noch aufgeschlagen auf seinem Knie lag.

»Oh ...« Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, dann wechselte er direkt in seinen Vortragssingsang über. »Eine ungemein spannende Abhandlung über den Menschen als Menschen an sich. Interessiere mich nun schon seit Längerem für Psychologie, durchsetzt mit Anthropologie und Soziologie sowie einer Prise Astrologie - diese Kombination erscheint mir angemessen. Denn bei einem derartig komplexen Thema kommt man mit einer einzigen Sichtweise nicht besonders weit. Da muss man schon offen sein und neue Wege beschreiten. Demut vor dem Objekt. Der Mensch war ja schon immer mein Steckenpferd, wie Sie vielleicht wissen, und da lernt man ja bekanntlich nie aus. Darum ist dies ein besonderes Werk ... gehört zum Kanon, regelrecht empfehlenswert, wenn nicht sogar zwingend, wenn man sich dem Menschen in seiner brillanten Komplexität annähern will. Da muss man auf Scheuklappen verzichten und darf nicht immer nur geradeaus schauen ...«

Allmählich versiegte der Redefluss, und Professor Carriere schaute sie mit einem Ausdruck an, als habe er den roten Faden verloren und hoffte, dass sie ihm wieder auf die Sprünge helfen würde.

Einen Moment lang versuchte Lea, aus dem eben Gehörten schlau zu werden. »Wie lautet denn der Titel dieses herausragenden Werkes?«

Mit zwei Fingerspitzen tippte Professor Carriere kurz gegen seine Unterlippe, dann griff er nach dem Buch und hielt es hoch, damit sie den Umschlag sehen konnte: Ein Mann mit Cape. Eine vor Ekstase fast besinnungslose Frau. Ein Garten im Mondschein. Professor Carriere dozierte über einen Liebesroman, einen sogenannten »Nackenbeißer« ... wie passend, befand Lea, während ein kleiner Schwall hysterischen Kicherns ihre Lippen passierte.

»Bemerkenswerter Lesestoff, wenn man ihn richtig zu handhaben weiß! Ich besitze noch weitere Werke der Autorin«, sagte der Professor im Ton eines stolzen Sammlers.

»Und sogar jeweils mehrere Exemplare«, erwiderte Lea matt.

»Sie nutzen sich rasch ab.«

Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Dieses Gespräch konnte er unmöglich ernst meinen. Aber so sehr sie auch danach suchte, sie konnte nirgends das verräterische Aufflackern in Professor Carrieres Augen erkennen, dass er sich innerlich ausschüttete vor Lachen. Sie dachte an die Kamera, die ihr durch den Raum gefolgt war, und stellte sich Adalbert vor, der sich am Anblick eines völlig verwirrten Etienne Carrieres ergötzte.

»Und was treiben Sie zurzeit?«, fragte der Professor. Seine Hände machten Anstalten, die leere Teetasse zu umfassen.

Leas Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Ich nehme mir gerade eine kleine Auszeit von Adam, der kurz davor ist, den Kampf gegen den Dämon zu verlieren.«

Professor Carrieres Finger wanderten zurück zu seiner Unterlippe, den Blick unstet auf die Glühlampe im Kamin gerichtet.

»Dämon«, wiederholte er sanft.

In dem Augenblick wusste Lea, dass sie einen Fehler begangen hatte. Eigentlich hatte sie den Professor lediglich reizen wollen, damit er die verdammte Teetasse in Ruhe ließ. Gleichzeitig war die Provokation ein Versuch gewesen, ihn aus seiner Versenkung hervorzulocken. Professor Carrieres Gesichtsausdruck zufolge war ihr das auch durchaus gelungen ... Sie hatte Dornröschen wach geküsst, nur dass Dornröschen sich gerade als böse Fee entpuppte.

Mit einem Mal waren Professor Carrieres Züge von einer Härte überzogen, die Lea nur allzu gut von Adam kannte: Der Dämon gab sich die Ehre. Die feinen Augenbrauen zurrten mittig zusammen, die Nasenflügel blähten sich auf, die Kiefermuskeln sprangen scharf hervor. Obschon der Professor sie nicht direkt ansah, war sie sich sicher, dass alles Verträumte aus seinen Augen mit einem Schlag verschwunden war. Stattdessen würde eine Klarheit Einzug gehalten haben, die ihr Ziel vor sich wusste.

In einem Moment dachte Lea noch über Flucht nach, im nächsten umfing sie der Sog des Dämons. Es schien, als werde sie magnetisch angezogen. Unweigerlich. Einem Naturgesetz folgend, das besagte: Gegenwehr ist sinnlos.

Lea keuchte. Als der Professor sie schließlich ansah, blinkten schlagartig alle Warnlichter gleichzeitig auf. Das innere Alarmsystem fackelte ein Feuerwerk ab, Leas Körper reagierte sofort: Mit einem Handschlag wischte sie das Teeservice vom Tisch. Die Kanne und die Tassen knallten gegen die Wand, zersprangen in Bruchstücke. Zwei kleine Blechlöffel flogen hinterher, und einer davon zerschlug die niühlamnp im Kamin wip sip mit Gpnuatiiun0 fpststpllfp

Das eben noch hoheitlich erstrahlte Antlitz des Dämons zuckte vor Raserei, um augenblicklich verbannt zu werden. Ein bekümmert dreinschauender Professor Carriere wandte sich dem Chaos aus Porzellan zu, als hätte es die Sekunden der Machtübernahme durch den Dämon nicht gegeben.

»Meine Liebe, wie konnte das denn nur geschehen?« Er schüttelte den Kopf und hob einige der Scherben auf. Als eine Spitze sich ins Fleisch eines Fingers bohrte und einige Tropfen Blut aus der Wunde hervordrangen, hatte Lea bereits die Metalltür erreicht und versuchte verzweifelt,ihre Finger in den Raum zwischen Rahmen und Tür zu graben. Über die Schulter schaute sie zur Kamera und formte mit den Lippen die Worte: »Mach die Tür auf, Adalbert.« In ihrem Nacken konnte sie deutlich spüren, wie der Dämon sich den Weg zurück an die Oberfläche erkämpfte und den Raum mit elektrisierender Luft erfüllte.

Endlich schnappte die Tür langsam auf, und sie fand sich atemlos in der Schleuse wieder. Hektisch fuhr sie sich mit den Händen über den Körper, aber da war nichts. Auch wenn es sich so angefühlt hatte, niemand hatte kleine Widerhaken ausgeworfen, die sich in ihrer Haut verfangen hatten und nun versuchten, sie in den Raum hinter der Tür zurückzuziehen. Trotzdem war das Gefühl, berührt worden zu sein, immer noch da, als Adalbert sie gemeinsam mit Randolf vor der zweiten Tür in Empfang nahm.