22. Die Entführung
Die Zeit verstrich unbemerkt, während Lea auf Pfaden wandelte, die auf kein Ziel gerichtet waren. Sie streifte Erinnerungen an das schnappende Geräusch vom Feuerzeug ihrer Mutter, dem Rhythmus ihrer Kindheit, und verweilte an einem Ort, an dem Gedichtfetzen, Songtexte und Impressionen von Gemälden umherschwirrten. Ungewöhnlich lange hielt sie vor einer Collage inne, die sich aus mentalen Schnappschüssen von Adam zusammensetzte: sein lächelnder Mund ... das Seitenprofil wie ein Scherenschnitt ... die Stirn störrisch gerunzelt ... seine entspannten Züge, kurz bevor er einschlief. Als sie einen Ausschnitt entdeckte, auf dem er verblüfft aussah, freute sie sich besonders eine wahre Rarität. Sie ließ sich weitertreiben, vorbei an Bruchstücken aus Unterhaltungen, dem Farbspiel eines Sommercocktails, den Nadine für sie bestellt hatte, eine zärtliche Berührung an ihrer Schulter, bis sie das dunkle Wasser des Sees aufgriff und es in eine unendlich einsame Meereslandschaft verwandelte.
Lea war derartig in ihren inneren Kosmos versunken, dass sie gar nicht reagierte, als ihre Taille mit festem Griff umschlungen wurde und sich eine Hand über ihren Mund legte. Erst als die Worte »schwitzig« und »weich« in ihr Bewusstsein drangen, wurde sie in die Gegenwart zurückkatapultiert.
Adam war nicht »schwitzig« und »weich«!
Ein Zischen, als entwiche einem Kolben Druck, riss sie endgültig aus ihrer Verträumtheit. Sie blinzelte und blickte auf ein paar Wurstfinger, die gerade ein metallisch schimmerndes Gerät vonAdams Hals entfernten, wonun ein blutrotes Mal aufleuchtete.Adams schmerzverzerrte Gesichtszüge entspannten sich im selben Augenblick.
»Das war fast zu einfach«, sagte eine näselnde Stimme, die unangenehm vertraut klang. »Aber auch sehr klassisch. Denn was macht man mit einem gefährlichen Wachhund? Man betäubt ihn, ehe er zuschnappen kann.«
Obwohl alles in Lea vor Wut und Verzweiflung aufbrüllte, unternahm sie keinen Versuch, den Griff, mit dem ihre Arme an den Körper gepresst wurden, abzuschütteln. Wer immer sie von hinten gefangen hielt, war unleugbar stark. Stattdessen widmete sie sich der Gestalt, die auf Augenhöhe vor ihr hockte: Adalbert. Eben jener Adalbert, der ihr vor einigen Jahren mit seinem Angriff auf Etienne Carriere vor Aueen Reführt hatte, wozu der Dämon Adam treiben konnte.
Adalberts Gesicht war ihr so nah, dass jeder einzelne der vernarbten Krater auf der verätzten Haut sichtbar war. Erwartungsfroh stierte er ihr in die Augen, als hoffe er dort Schrecken und Verzweiflung zu finden. Aber eine solche Genugtuung wollte sie diesem Mistkerl auf keinen Fall gewähren. Außerdem war sie viel zu aufgebracht, um Furcht zu empfinden: Adalbert hatte sie überrumpelt und dadurch diesen verzauberten Vormittag, der nur Adam und ihr gehören sollte, an sich gerissen und ihn mit seiner Gegenwart beschmutzt. Darüber war sie noch zorniger als über die Tatsache, dass es ihm gelungen war, sie beide so mühelos in seine Gewalt zu bringen.
Sie verengte die Augen zu Schlitzen und funkelte Adalbert voller Verachtung an. Er seufzte ergeben, fasste Adam mit einem brutalen Griff in das immer noch feucht glänzende Haar und zerrte seinen Kopf hin und her. Als Adam nicht die leiseste Reaktion zeigte, ließ er ihn zurück in Leas Schoß fallen. Lea biss die Zähne zusammen: Der Kopf fühlte sich so schwer an wie ein Stein.Wo immer auch Adam sich gerade befand, mit seinem Körper war er nicht verbunden.
Aus der aufgesetzten Tasche seines Tropenanzugs fischte Adalbert ein Stofftuch heraus, an dem er sich demonstrativ die Finger abwischte. »Der kommt nicht mal mehr zu sich, wenn er mit den Füßen voran in einen Schmelzofen geschoben wird«, erklärte er der Person, die hinter Lea kniete und sie -nun ohne übermäßigen Druck - umklammert hielt.
Plötzlich tauchte Maibergs Rattenvisage neben Adalbert auf, so als hätte er sich hinter einem der Bäume versteckt und daraufgewartet, dass sein Herr Entwarnung gab. Sofort machte er sich eifrig dran, Adam von Leas Schoß zu rollen. Dabei vermied er es übertrieben sorgsam, Lea auch nur zu streifen, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Trotz der Feigheit, die jede seiner Gesten verriet, ließ sich Maiberg nicht davon abhalten, ihr ein »Schön brav bleiben, Drecksstück« zuzuzischen.
Lea wusste nicht, welche der beiden Kreaturen sie mehr verabscheute: den brutalen Adalbert oder seinen schmierigen Handlanger. Adam nackt und ausgeliefert zu ihren Füßen liegen zu sehen trieb sie fast in den Wahnsinn. »Was habt ihr mit Adam und mir vor? Steht irgendwo zwischen den Bäumen schon ein Salzsäurefass bereit?«, fragte sie, sich vor der Antwort fürchtend.
»Nein, für unsere Bemühungen, euch beide in einem Stück abzuliefern, erwartet uns die Aussicht, dass ihr deutlich länger leiden werdet, als es in einem schlichten Säurebad der Fall wäre. Mein Mentor erwartet euch sehnsüchtig, schließlich hat er schon viel Außergewöhnliches über dich und deinen tollwütigen Freund gehört. Akinora war ganz aus dem Häuschen, wie ich hörte. Doch schient ihr beide von einem Moment zum anderen wie vom Erdboden verschluckt worden zu sein. Nun, jetzt haben wir euch ja, nicht wahr?«
Adalbert legte eine solche Selbstzufriedenheit an den Tag, dass Leas Magen sich vor Zorn zusammenzog. Gerade als ihr unbekannter Wächter, der sie die ganze Zeit über reglos festgehalten hatte, sie mit schockierender Leichtigkeit hochzog, winkelte sie ihre Beine an und trat heftig, aber wahllos aus. Adalbert brachte sich rasch in Sicherheit, doch zu ihrer unendlichen Befriedigung gelang es ihr, Maiberg am Ellbogen zu erwischen. Sein Aufheulen und die kindliche Empörung in seinen Augen nahmen ihr wenigstens etwas von der Wut.
Plötzlich wurde ihr mit einem Ruck die Luft aus den Lungen gepresst - ihr Wächter war aus seiner Lethargie erwacht.
»Das nächste Mal reagieren wir aber etwas zügiger, nicht wahr, Randolf?« Adalbert hatte erneut sein Tuch hervorgezaubert und wischte sich über die verschwitzte Stirn.
»Bestimmt«, lautete die melancholische Antwort.
Als Lea wieder klar sehen konnte, gelang es ihr, einen Blick auf ihren Wächter zu erhaschen. Ein massiges Gesicht und geschorenes Haar überragte sie um Haupteslänge. Ihr drängte sich das Bild einer Bulldogge auf, allerdings bis ins Groteske vergrößert. Aber es passte zu dem schwerenArm mit den unzähligen orangefarbenen Härchen, der sie wie in einer Zwangsjacke gefangen hielt. Ein leblosesAugenpaar blickte sie gleichmütig an - zumindest schien ihr der Riese ihren Wutausbruch nicht übel zu nehmen.
In der Zwischenzeit machte sich Maiberg an dem bewusstlosen Adam zu schaffen. Was genau er in Erfahrung zu bringen gedachte, indem seine Finger über Adams nackten Körper wanderten, war Lea ein Rätsel. Offensichtlich sah Adalbert das ähnlich, denn er tippte Maiberg mit einer Schuhspitze an. Nur widerwillig zog der Handlanger seine Finger zurück.
»Maiberg hat eine Schwäche für Kreaturen, die ihm ausgeliefert sind. Kein besonders hübscher Charakterzug, aber schließlich brauchen wir alle etwas, das uns gebührend motiviert«, erklärte Adalbert, als doziere er, vor einem Kaminfeuer sitzend, über die Unbill des Lebens. Dafür hatte Lea nur ein verächtliches Lächeln übrig, das Adalbert indessen wenig zu beeindrucken schien. »Ihr beide habt in eurer Zweisamkeit aber auch wirklich einen rührenden Anblick geboten. Kein Wunder also, dass längst verschüttet geglaubte Gefühle in Maiberg geweckt wurden. Auch wenn die damit einhergehende Fantasie wahrscheinlich nicht nach Ihrem Geschmack sein dürfte.«
Der massige Mann strich sich einen Fussel von der Schulter, was eher danach aussah, als wolle er sich selbst zu diesem Geniestreich gratulieren. Lea schüttelte es. »So ein hübsches Paar, mitten im Herzen der Natur. Wer hätte je vermutet, dass Adam sich zähmen ließe? Ich habe ihn eher mit gefletschten Zähnen und blutverschmierten Fäusten in Erinnerung. Jederzeit bereit, seiner Wildheit freien Lauf zu lassen. Was der Schoß einer sterblichen Frau so alles bewirken kann ... Eigentlich ist es -nun ja - ernüchternd. Raubt es ihm doch etwas von seiner Größe, wenn Sie verstehen, was ich meine. Da betreibt man solch einen enormen Aufwand, um ihn an die Kette zu legen, ohne allzu viel Schaden anzurichten. Und dann stellt sich heraus, dass aus ihm ein Löwe geworden ist, der sich im Paradies wähnt. Friedlich an der Seite seines Lämmchens.«
»Adalbert«, sagte Lea, bewusst Adams trägen, arroganten Ton imitierend. »Du schwitzt, und bevor du dir diesen netten Anzug vollends ruinierst, sollten wir einfach aufbrechen. Also, gibt es noch irgendetwas, das du unbedingt sagen musst? Irgend so einen aufgeblasenen Unfug wie bei unserem letzten Zusammentreffen, ehe Etienne dir die Hölle heißgemacht hat?«
Adalbert bleckte die Zähne, was vermutlich als Beweis durchgehen sollte, dass keins von Leas Worten seine innere Schutzbarriere durchdrungen hatte. »Ich würde dir ja gerne eine von diesen Betäubungsdosen hier anbieten, damit du unsere Anwesenheit nicht länger ertragen musst. Aber ich befürchte, dass sie ein wenig zu potent für deine Konstitution ausfallen. Falls du trotzdem darauf bestehen willst.
Lea sparte sich eine Antwort.
Es war zum Verzweifeln:All die vielen Jahre war Adams ganzes Sinnen darauf ausgerichtet gewesen, diesen einen Mann in die Finger zu bekommen. Und gerade in dem Moment, wo er endlich mit der vergeblichen Suche abgeschlossen und seinem Leben einen neue Ausrichtung gegeben hatte, tauchte Adalbert wie ein vorwitziger Schachtelteufel auf. Aber es machte nicht den Anschein, als handele Adalbert aus eigener Motivation heraus. Dahinter steckte jemand anderes, jemand mit Möglichkeiten und einem Interesse, das über Rachegelüste hinausging jemand, der Adalbert eine Betäubungspistole in die Hand gedrückt hatte, weil es für ihn nicht von Vorteil wäre, Adams Überreste aus einem Salzsäurebad herauszufischen. Und für sie selbst war offensichtlich nicht einmal ein Betäubungsmittel vorgesehen. Keine Verunreinigung des Blutes, kein Risiko, dass ihr etwas geschah.
Lea glaubte in einer Endlosschlaufe festzuhängen, untermalt vom Brummen des Motors und dem stoßweise ausgespuckten Atem Maibergs. Die Landschaft zog hinter den getönten Scheiben des Vans vorbei wie eine Rollkulisse im Theater, unwirklich und fremd. Immer wieder wurde diese seltsame Fahrt unterbrochen, wenn Adalbert den Wagen stoppte und kommentarlos zu ihnen nach hinten einstieg. Mit einem unwirschen Handgriff strich er Adam dann die Haare aus dem Nacken, um ihm eine weitere Betäubungsdosis zu verabreichen.
Jedes Mal wenn das Zischen der sich entleerenden Patrone aufklang, zog sich Leas Magen schmerzhaft zusammen. Einmal hatte sich unter der Einstichstelle ein münzgroßer Bluterguss gebildet und sich rasch ausgebreitet wie ein Tropfen Tinte in einem Glas Wasser. Doch bevor sie die Form des Fleckens hatte ausmachen können, hatte der Dämon die kleine Wunde schon geheilt. Das Betäubungsmittel lieferte ihm offensichtlich einen schweren Kampf. Zumindest zuckte Adam nicht einmal leicht zusammen, wenn die Spritze die Haut an seinem Hals durchschlug und die Flüssigkeit mit Hochdruck ins Gewebe gejagt wurde.
Während Adalbert am See eine Plastikschnur um ihre Handgelenke festgezurrt hatte, hatten der Riese namens Randolf und der asthmatisch röchelnde Maiberg sich um Adam gekümmert. Doch schon nach ein paar Schritten war Maiberg der leblose Körper, den er unter den Achseln hielt, entglitten, und Adams Kopf und Schultern waren dumpf auf den mit Steinen gespickten Weg aufgeschlagen. Daraufhin hatte der Riese die Stirn gerunzelt und war in die Hocke gegangen. Nachdem er den bewusstlosen Adam geschultert hatte, hatte er zitternd die Knie durchgedrückt und war dann den Weg zur Holzhütte zurückgetrottet, wobei Maiberg zwei Schritte hinter ihm hergeschlichen war und sich verträumt die Hände gerieben hatte.
Lea hingegen hatte sich von der personifizierten Selbstzufriedenheit namens Adalbert auf dem Schotterweg vorantreiben lassen, ohne auch nur den geringsten Widerstand zu leisten - wozu auch? Selbst wenn es ihr gelungen wäre, Adalbert zu entkommen, so wäre da noch die Frage gewesen, wie sie den achtzig Kilo schweren, bewusstlosen Mann befreien und mit ihm fliehen sollte.
Sich dieser Tatsache ergebend, hatte sie sich stoisch auf die Rückbank des Vans stoßen lassen. Mit der Gelassenheit war es allerdings vorbei gewesen, als sie hatte zusehen müssen, wie ihre Entführer mit Adam umsprangen. Als der Riese ihn auf den bloßen Boden des Vans hatte gleiten lassen, als wäre er lediglich ein lästiges Gepäckstück, hatte sie ihre Fingernägel im Bezug des Sitzes vergraben. Schließlich war Maiberg ins Wageninnere geklettert und hatte Adam grob auf den Bauch gerollt. So hatte er dessen Beine leicht anwinkeln können, damit sich die Schiebetür schließen ließ. Seine Finger waren dabei deutlich länger als nötig über Adams nackte Haut gewandert. Am liebsten hätte sich Lea mit einem Kampfschrei auf Maiberg gestürzt und seine Dreckspfoten ein paar Mal kräftig in der Schiebetür eingequetscht. Aber da hatte ihr Randolf, der sich neben ihr auf der Sitzbank niedergelassen hatte, bereits die schwere Hand auf die Schulter gelegt.
Seit Adalbert den Wagen angelassen hatte, lag Adam reglos auf dem Boden, und zu ihrem Elend konnte Lea sein Gesicht in dieser Position nicht sehen. Aber seine Schultern hoben und senkten sich regelmäßig, als schlafe er immer noch in ihrem Schoß und träume von schönen Dingen.
Eingezwängt zwischen dem Riesen und Maiberg, saß sie auf der Rückbank. Während hinter ihr die Hütte ihres Vaters immer kleiner wurde und schließlich ganz zwischen den Bäumen verschwand, schob sie vorsichtig die Zehenspitzen unter Adams Rippenbogen. Durch den Seidenstoff ihrer Ballerinas drang schwach die Wärme seines Körpers.
»Könnt ihr ihm nicht wenigstens eine Decke überlegen?«, fragte sie tonlos.
»Braucht der nicht«, nuschelte Maiberg. Dabei entging Lea nicht der erregte Ausdruck, der für einen Augenblick über sein Rattengesicht huschte.
Nach einiger Zeit bemerkte sie, dass Maiberg sich übertrieben stark von ihr fernhielt. Wenn ihre Schultern sich gelegentlich streiften, zuckte er zurück, als hätte sie ihm einen Stromschlag verpasst. Und während der ganzen Zeit tanzte einer seiner Oberschenkel nervös auf und ab, peinlich darauf bedacht, nicht zur Seite auszubrechen und Lea zu streifen. Zunächst versuchte auch sie, jede Berührung zu vermeiden - schon deshalb, weil sie sich vor diesem schmierigen Kerl ekelte. Aber je häufiger Maibergs zunehmend geiler Blick auf Adam ruhte, desto mehr kochte es in ihr.
Lea verlagerte ihr Gewicht in Richtung Adalberts Gehilfen und stellte zufrieden fest, wie dieser zurückwich und schon bald zusammengekauert und röchelnd an der Seitenwand des Vans klebte. Mit kühler Berechnung bohrte sie ihm den Ellbogen in die Seite und bemühte sich, ihren Busen an seinen Oberarm zu pressen. Dann platzierte sie ihren aufreizend geöffneten Mund nur einen Hauch von seinem mittlerweile kalkweißen Gesicht entfernt und hauchte ein »'tschuldigung«. Da Maiberg nur schwach quiekte, setzte sie noch einmal nach, indem sie ihr Knie an seinem rieb, während sich ihre Hand in Richtung Oberschenkel aufmachte. Genüsslich beobachtete sie die sich ausbreitende Panik in Maibergs Augen.
»Das machst du doch mit Absicht, du dummes Miststück«, platzte es aus Maiberg heraus. Fluchtartig kletterte er über die Lehne auf den Vordersitz und legte dabei eine erstaunliche Gelenkigkeit an den Tag. Befriedigt stellte Lea fest, wie Maiberg sich immer noch angeekelt schüttelte, während Adalbert ihn zur Rückkehr auf seinen alten Platz zu bewegen versuchte. Aber alles Drohen und Schimpfen nutzte nichts, Maiberg blieb, wo er war.
»Jetzt biste aber friedlich, ja?«, raunte der Riese Lea ins Ohr. Während der kleinen Szene hatte er keinerlei Regung gezeigt. Auch jetzt hingen seine Pausbacken ungerührt hinab, und sein wässriger Blick gab keine Gefühlsregung preis.
Lea nickte kaum merklich und lehnte sich zufrieden in die Polster zurück.Auch gefangen und ohne Hoffnung auf Entkommen musste man sich schließlich nicht alles bieten lassen.
Seit sie die Hütte am See verlassen hatten, war der Van stets in Richtung Norden gefahren und hatte am späten Nachmittag einen verlassenen Grenzposten passiert. Als die Nacht schließlich einbrach, fuhren sie schon seit einiger Zeit auf einer Schnellstraße, die durch nicht enden wollende Wälder führte. Die einzige Unterbrechung der Eintönigkeit bestand in Schildern, die vor Wildwechsel warnten, und den gelegentlich aufleuchtenden Lichtern eines anderen Fahrzeugs. Irgendwann schlief Lea ein.
Als sie wieder erwachte, stand der Wagen still und durch die offene Fahrertür wehte ein frischer Wind herein, der nach Harz und nassem Laub roch. Darunter lag eine feine Spur von Salz.
Durch halb geschlossene Lider versuchte Lea, einen Blick auf die Welt außerhalb des Vans zu erhaschen. Es schien später Nachmittag zu sein, denn die nur kurz hinter einer dichten Wolkendecke auftauchende Sonne stand schon sehr tief. Ein leichter Regenschauer ging nieder und wusch alle Konturen unscharf. Offensichtlich hatten sie die Schnellstraße verlassen und befanden sich nun am Ende einer Schotterpiste, die von hohem Baumbestand umringt war.
Unangenehm berührt stellte Lea fest, dass sie sich im Schlaf an Randolf gekuschelt hatte. Er hatte ihr sogar den Arm um die Schultern gelegt wie ein großer Bruder. Mühsam unterdrückte sie den Drang, den Arm abzuschütteln - haftete der Geste doch etwas Fürsorgliches und Unschuldiges an. Hastig suchte ihr Blick Adam, der unverändert dalag, dann schaute sie hinaus durch die Frontscheibe des Vans, vor dem gerade ein mannshohes Gatter wie von Geisthand geschoben aufschnurrte. Am Maschendrahtzaun, der sich zu beiden Seiten zwischen den Bäumen verlor, baumelte ein Schild, dessen rot-weiße Lackierung mit Rostflecken übersät war. Trotzdem konnte Lea die Worte entziffern: Privatgelände - Zutritt untersagt.
Die Abzäunung machte zwar auf den ersten Blick einen heruntergekommenen Eindruck, trotzdem würde sie jeden Wanderer zu einem Umweg zwingen. Der Stacheldraht, mit dem Gatter und Zaun großzügig bedacht waren, machte eine Kletteraktion unmöglich. Außerdem war das einzip Interessante hinter dem Zaun ein verrotteter Wellhlechhancar. dessen Flügeltüren offen standen und einen Rück auf gähnende Leere boten.Wie ein Haufen vergessener Schrott schmiegte sich der Hangar an den Berg dahinter. Dieser deprimierende Anblick würde niemandes Abenteuerlust beflügeln, da war sich Lea sicher. Warum bloß hatte Adalbert sie in diese Einöde verschleppt? Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, während sie sich einen Reim auf das Ganze zu machen versuchte.
Während sich das Gatter hinter ihnen wieder schloss, holperte der Van den Schotterweg entlang. Adalbert tippte eine Zahlenfolge ins Handy ein, woraufhin die Rückseite des Hangars zur Seite glitt und einen dunklen Tunnel frei gab, groß genug, dass der Van hineinfahren konnte.
Die Lichtpegel der Scheinwerfer beleuchteten eine sich in der Dunkelheit verlierende Flucht von grauen Wänden. Bei der Vorstellung, in dieses dunkle Loch zu fahren, während sich hinter ihnen der Ausgang zur Welt schloss, kniff Lea panisch die Augen zusammen. Hervorragend verborgene Tunnel im Niemandsland, die in ein Bergmassiv führten, erweckten ihre Fantasie zum Leben. Doch die klaustrophobischen Bilder, die ihr im Schnelldurchlauf durch den Kopf schössen, waren wenig hilfreich: Sie ließen ihr den kalten Schweiß ausbrechen.
Tatsächlich neigte sich der Tunnel abwärts. Während der Van seinen Weg in die Tiefe des Berges antrat, stieg es Lea brennend die Speiseröhre hoch. In ihrer Verzweiflung presste sie das Gesicht gegen Randolfs Brust, der ihr beruhigend den Rücken tätschelte, als wäre sie ein kleines Mädchen, das sich gerade vorm schwarzen Mann erschreckt hatte. Als der Wagen endlich zum Stehen kam, machte er sich vorsichtig von ihr frei und bugsierte sie in eine aufrechte Haltung.
Ehe Lea sich sammeln konnte, wurde ihr plötzlich ein sackförmiges Tuch über den Kopf gestülpt. Automatisch atmete sie vor Schreck tief ein, so dass der leichte Stoff in ihren Mund gesogen wurde und für einen Moment an Lippen und Zunge haften blieb. Ein kühler, glatter Schleier, der ihre Atemwege zu versiegeln drohte. Sie stieß einen qualvollen Laut aus.
Sofort bohrten sich Finger in ihre Oberarme, und sie wurde grob durchgeschüttelt. »Nun mal keine Sorge, Mädchen«, hörte sie Adalberts gereizt klingende Stimme. »Durch Seide lässt es sich ganz hervorragend atmen. Wir wollen dich ganz gewiss nicht ersticken, schließlich handelt es sich bei dir doch um wertvolle Fracht. Aber wo sich die Ausgänge des Höhlensystems befinden, dass brauchst du schließlich nicht zu wissen. Auch wenn du es sowieso nicht lebend verlassen wirst.«
Mit diesen Worten wurde Lea aus dem Wagen gezerrt. Dabei trat ihr Fuß auf etwas, das sie instinktiv als Adams ungeschützte Ferse erkannte. Schnell versuchte sie, das Gewicht zu verlagern, rutschte jedoch ab, und es erklang ein feines Knacken. Schuldbewusst zuckte sie zusammen.
»Bewegung, Maiberg!«, schimpfte Adalbert unterdessen. »Du hilfst Randolf dabei, den Kerl zu tragen. Der ist immer noch ganz weggetreten.«
Ohne Widerstand ließ sie sich von Adalbert führen, während ihr das Tuch über dem Kopf das Gefühl gab, ihre fünf Sinne wären in Watte gewickelt. Jedes Mal wenn sie ausatmete, kroch ihr der eigene Atem in die Nase, bis ihr ganz schummerig wurde. Nur undeutlich vernahm sie das feine Summen von Leuchtstoffröhren und das Schlurfen, wenn Adalbert seinen Fuß auf dem sandigen Boden nachzog. Unweigerlich fragte sie sich, ob das Hinken vielleicht ein Andenken an jene Nacht war, in der er Adam vor Jahren die Stirn geboten hatte. Aber wer konnte schon sagen, welche dunklen Pfade Adalbert seitdem beschritten hatte? Zumindest hatte sich seine Technik deutlich verfeinert, wenn es darum ging, einen Unsterblichen schachmatt zu setzen.
Hinter ihr erklang das Keuchen des Riesen Randolf, der Adam nach einem weiteren Missgeschick Maibergs wieder allein zu tragen schien.Ängstlich lauschte Lea auf ein Poltern, das bewies, dass er die schwere Last nicht länger allein schultern konnte. Wenn seine Kräfte ihn verließen, würde er sicherlich nicht sanft mit Adam umspringen, befürchtete sie.
Mit einem Mal drang ein seltsam verwobener Klangteppich an ihr Ohr. Zuerst schwach und zusammenhanglos, dann immer klarer ... Jemand fluchte ausgiebig in einer Sprache, die Lea nicht zuordnen konnte ... Jemand anders schrie abgehackt, als ahme er einen Vogel nach ... Jemand rezitierte Nonsens-Gedichte ... Gedämpft, flüsternd, wie aus großer Tiefe sickerten die Geräusche an ihr Ohr. Versteckte, eingesperrte Stimmen, sie schwirrten durcheinander, lockten: Komm näher, komm spielen, schau, was ich hier für dich habe. Komm lass dich ertasten, verführen, opfern! Wie tausend gierige Finger berührten die Stimmen Lea, während sie einander aufwiegelten und gleichzeitig zu übertönen versuchten. Ein ohrenbetäubendes Durcheinander, das doch nur einem einzigen Sinnen entsprang: dem unbändigen Wunsch des Dämons nach Blut, das so nah und doch so unerreichbar war, dass der Wunsch in Wahnsinn umschlug.
Lea war kurz davor, »Seid endlich still!« zu brüllen, ganz gleich, wie lächerlich der Versuch auch sein mochte. Aber vielleicht wäre dadurch etwas von dem Druck verschwunden, den Erdreich und Gestein, die sich über ihren Köpfen auftürmten, auf sie ausübten. Die Stimmen verstärkten das übermächtige Gefühl, gefangen zu sein, ins Unerträgliche. Pressten ihr die Luft aus den Lungen. Sie begann zu keuchen, hörte, wie sich das Geräusch, mit dem die Luft immer schneller ihren Lungen entfloh, mit dem Stimmengewirr vermischte.
Plötzlich hielt Adalbert an, packte sie an den Schultern und schüttelte sie brutal durch. Einen Augenblick glaubte Lea, die Besinnung zu verlieren, dann stellte sie überrascht fest, dass um sie herum Stille herrschte.
»Das machen sie gern mit Neulingen«, erklärte Adalbert. Dann befreite er ihre Handgelenke von der Plastikschnur.
Neben ihnen ließ Randolf mit einem Ächzen, als drohe etwas in ihm zu zerreißen, Adams Körper zu Boden gleiten. Adalbert gab Lea einen kleinen Schubs, und plötzlich verwandelte sich der Boden unter ihren Füßen in schwankende Planken.
»Gut festhalten!«, krächzte Maiberg vergnügt.
Instinktiv streckte Lea die Arme aus, bekam einen Handlauf zu fassen und krallte sich an ihm fest. Es folgte ein Moment der Schwerelosigkeit. Ein Fall in die Tiefe, dann rammten die Planken unter ihren Füßen festen Grund. Ein weiterer Schubs gegen ihren
Rücken ließ sie taumeln und unsanft auf allen vieren landen. Unter der einen Hand fühlte sie Geröll, unter der anderen nackte Haut -Adams Brust. Hilflos schluchzend hielt sie sich an ihm fest.
»Willkommen im Raubtierkäfig«, erklang Adalberts Stimme aus einiger Entfernung, irgendwo weit über ihr. Die nasale Stimme warf ein flüchtiges Echo.
Mit einer fahrigen Bewegung zog Lea sich den Sack vom Kopf und strich sich das Haar aus den Augen. Ungläubig schaute sie sich um: Man hatte sie in einer Felsenlandschaft ausgesetzt. In einer riesigen Höhle, berichtigte sie sich, während ihr Blick nach oben zu einer unregelmäßig gewölbten Decke wanderte. Das war also ihr Ziel gewesen: eine in sich geschlossene, steinerne Welt tief im Herzen der Erde.
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In unerreichbarer Höhe waren einige Scheinwerfer angebracht, denen es jedoch nur unzureichend gelingen wollte, die Tiefen der Höhle auszuleuchten. Außerdem schwankten die Strahler sanft an dem Gestänge, an denen sie aufgehängt waren. Das Ergebnis bestand in einer für das Auge verwirrenden Mischung aus Dämmerlicht und schwarzen Stellen, die für Sekundenbruchteile an Konturen gewannen und dann gleich wieder verschwanden.
Unsicher betrachtete sie die Höhle, deren ganzes Ausmaß sie nur erahnen konnte: Schatten und große Felsbrocken versperrten die Sicht. Der Boden war durchsetzt mit Rillen und Geröll. Die kühle Luft stand unbeweglich still und unterstrich mit ihrer Schwere die Abgeschiedenheit dieses Käfigs.Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die leicht nach innen gewölbten Wände, die jeden Augenblick einem immensen Druck nachzugeben und in tausend Stücke zu zerbersten drohten. Dieser verstörende Eindruck und ihr Gespür für Gefahren flüsterten Lea ununterbrochen zu, zu fliehen. Dieser Ort war nicht dafür gedacht, von Menschen betreten zu werden. Hier unten sollte eigentlich ewige Dunkelheit herrschen. Die Vision einer Unterwasserwelt zog vor ihrem inneren Auge vorbei, unterstrichen von dem Geruch von Salz.
Lea schüttelte die Ahnung wie eine lästige Berührung ab, dann fand sie den Auslöser: Als hätte jemand eine Ader in den Steinbodengesprengt, schlängelte sich ein Wasserlauf mitten durch die Höhle und verschwand dann in der Felswand. In die Öffnung im Gestein war ein Eisengitter eingelassen. Aber selbst wenn es diese rostigen Stangen nicht gegeben hätte, hätte der zügig fließende Bach keine Fluchtmöglichkeit für Lea dargestellt. Ohne auch nur eine Fingerspitze eingetaucht zu haben, wusste sie, dass das Wasser eisig kalt war. Selbst Adam könnte nicht in diese Dunkelheit eintauchen. Denn wer mochte schon wissen, wohin das Wasser führte? Wie musste es sein, plötzlich gefangen an eine Verengung des Unterwassertunnels zu stoßen und sich nicht wieder gegen den reißenden Strom zurückbewegen zu können?
Unwillkürlich schauderte sie.
Direkt vor ihr schoss eine spiegelglatte, in sich gekrümmte Felswand etwa fünf Meter in die Höhe und endete in einem überstehenden schlichtem Bretterboden und einem Handlauf, der mehr schlecht als recht Halt bot. Außerdem entdeckte sie Adalbert, der ihr eine flüchtige Kusshand zuwarf, ehe er sich zum Gehen abwandte.
»Mach bloß, dass du wegkommst«, flüsterte sie und schlang die Arme um ihren Körper. In Wirklichkeit wäre es ihr in diesem Moment unendlich viel lieber gewesen, wenn Adalbert sie mit seinem dünkelhaften Gehabe in den Wahnsinn getrieben hätte, anstatt sie mit dem besinnungslosen Adam in dieser riesigen Grabkammer zurückzulassen.
Gab es hier unten tatsächlich ein Raubtier, wie Adalbert angedeutet hatte? Kauerte es hinter einem Felsen oder im schwarzen, rasch dahinfließenden Wasser? Hatte man sie den ganzen Weg hierher getrieben, nur um sie an ein Ungeheuer zu verfüttern?
Lea registrierte, wie ihre Atmung sich erneut zu überschlagen begann, wie der Sauerstoff, kaum dass er die Lungenflügel erreicht hatte, zwanghaft wieder hinausgepresst wurde. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, und kalter Schweiß breitete sich auf ihrer Haut aus. Kraftlos ließ sie sich neben Adam sinken und schmiegte sich an seine Seite. Mit ihrem Gesicht an seinem klammerte sie sich verzweifelt an seiner gleichmäßigen Atmung fest und wärmte sich an der Hitze, die sein Körper abstrahlte. Dann begann sie, leise zu weinen.