9. Die Spinne

Megan schritt direkt hinter Lea her und raunte ihr leise die Marschroute zu. Auf Außenstehende hätte Megan leicht den Eindruck einer Entführerin machen können, die ihrem Opfer eine verborgene Waffe gegen die Nieren drückte. Dabei verschwendete Lea keinen einzigen Gedanken mehr an eine Flucht. Die seltsame Erregung, die sie beim Ankleiden ergriffen hatte, hielt immer noch an, und sie musste sich eingestehen, dass ihr dieses Spielchen Vergnügen bereitete.

Sie gingen einen langen Flur entlang, dessen Wände mit moderner Kunst geschmückt waren - Lea zweifelte weder an ihrer Echtheit noch an ihrer absoluten Geschmackshoheit -, während vom Ende des Ganges leises Stimmengewirr und Musik erklangen. Der Flur mündete in eine Empore vor einer breiten Marmortreppe, die in eine große, festlich beleuchtete Halle führte. Das Treppenende wiederum ging nahtlos in einen Steg über, der ein quadratisches, in Marmor eingefasstes Wasserbecken überspannte. Im Wasser schwammen Kois ihre Runden.

An die rechte Seite der Halle schloss sich ein Wintergarten an, von dem aus man wahrscheinlich in den Garten gelangen konnte, den Lea von ihrem Ankleidezimmer aus gesehen hatte. Auf der linken Seite gaben die weit aufgezogenen Schiebetüren den Blick auf einen riesigengemauerten Kamin frei. Über die gesamte, atemberaubend große Fläche verteilt standen Sofas, Korbsessel und Stehtische, die zum Verweilen einluden. Im Wintergarten, zwischen all den Palmen und Orchideen, glaubte Lea sogar, ein Himmelbett zu erspähen.

Doch mehr als ihre Umgebung faszinierten sie die unzähligen Gäste, die sich in der Halle tummelten. Hätte einer ihrer Autoren eine solch bunt gemischte Gesellschaft in einem seiner Romane beschrieben, hätte Leas Kommentar sicherlich »Wir wollen mal lieber nicht übertreiben« gelautet. Und nun stand sie hier in einem zitronengelben Kleid, das dafür geschaffen worden war, alle Aufmerksamkeit auf sie zu ziehen, und beobachtete das seltsame Treiben. Da unterhielten sich altehrwürdige Herren mit Punks. Tief dekolletierte Venusfallen prosteten sich mit grauen Pagenköpfen der Bildungsbürger zu, und ganz in Schwarz gewandete Künstlerpersönlichkeiten gingen mit eindeutig Minderjährigen auf Tuchfühlung. Zwischen all diesen merkwürdigen Paaren glitten Kellnerinnen in seidig schwarzen Trikots auf Rollschuhen hindurch, wobei sie Tabletts voller Champagnergläser trugen, und Varietekünstler samt Zigarettenmädchen aus einer längst vergessenen Epoche mischten sich unter die Gesellschaft. Aus dem Kaminzimmer drang die mitreißende Version von Presidenüal.

Ein sicherlich zwei Meter großer, schwarzer Transvestit mit Plateaustiefeln und in einem paillettenbesetzten Turnanzug, der Abba alle Ehre gemacht hätte, zog Leas ganze Aufmerksamkeit auf sich. Sie war von seinem Auftritt derart begeistert, dass sie sich unbedingt jemandem mitteilen musste, selbst wenn es Megan war. Um nicht wie ein kleines Kind mit dem Finger auf das schillernde Paradieswesen zeigen zu müssen, riss sie widerwillig ihren Blick los und wollte ihr über die Schulter etwas zurufen. Doch Megan war nicht mehr da.

Lea stand allein auf der Empore und spürte, wie ihr die Unsicherheit mit heißen Fingern ins Gesicht glitt. Nicht, dass sich bisher jemand aus der Gesellschaft für die einsame Figur auf der Balustrade interessiert hätte. Dafür waren alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber mit einem Mal fühlte sich Lea wie Aschenputtel, deren Prinz vergessen hatte, am Ende der Treppe auf ihren Auftritt zu warten. Wahrscheinlich vergnügte sich Adam bereits bestens, während sie hier oben allein und verlassen herumstand.

Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich ins Ankleidezimmer zurückzuziehen und auf der Chaiselounge liegend auf standesgemäße Rettung zu hoffen. Doch dann dachte sie an ihr Spiegelbild, das ihr verführerisch zugeblinzelt hatte. Heute Nacht war sie eine andere Lea: eine außergewöhnliche Lea auf einem rauschenden Fest. Beschwingt, aber immer noch die Stilettos bedenkend, schwebte sie die Treppe hinunter und steuerte direkt auf den Transvestiten zu, dessen mächtiger Afro sein Haupt umfing wie ein dunkler Heiligenschein.

»Wie ist die Luft da oben?«, fragte Lea.

»Das ist mit Abstand die originellste Anmache, die mir jemals an den Kopf geworfen wurde. Oder sollte ich besser sagen, gegen den Hüftknochen?« Der Transvestit presste die Lippen schmollend aufeinander, so dass das natürliche Kirschrot seines Mundes aufschimmerte und sich mit dem Lila des Lippenstifts biss.

Lea war restlos begeistert. Rasch fischte sie zwei langstielige Champagnergläser von einem Tablett und reichte eines davon diesem wahr gewordenen Glamourtraum, der es mit spitzen Fingern entgegennahm.

»Auf die Großartigkeit«, schlug sie vor, als sie miteinander anstießen.

»Das kannst du laut sagen, Schätzchen«, erwiderte der Zwei-Meter-Riese und winkelte dabei den linken Arm lasziv an. Mit dem Glas tippte er sich kurz gegen die Brust. »Gregor - und worauf haben dich deine Erzeuger getauft, Zitronenfalter?«

»Lea.«

»Na ja, man kann es sich halt nicht aussuchen, nicht wahr? Mordsparty, oder was denkst du? Wenn ich nicht bald betrunken bin, schlafe ich im Stehen ein wie ein Papagei auf der Stange. Ich hätte Geld dafür verlangen sollen, dass ich überhaupt komme. Was hat dich hierher verschlagen? Wohl kaum die Lust auf hemmungslosen Beischlaf, wenn ich mir die Auswahl hier mal so ganz unauffällig anschaue.«

Nun wusste Lea, warum sie sich zu Gregor hingezogen fühlte: Das war Nadine in einem Männerkörper, der in einem Frauenfummel ein wenig albern, ehe sie antwortete: »Ehrlich gesagt, habe ich nicht die geringste Ahnung, was ich hier soll. Mein Prinz hat mich verschleppt, und als Nächstes fand ich mich, in einen Schmetterling verwandelt, auf diesem Fest wieder - mutterseelenallein.«

»Mutterseelenallein ... es bricht mir das Herz. Da ich ein gutes Mädchen bin, darfst du getrost an meiner Seite bleiben. Wenn ich allerdings etwas Geeignetes zum Ficken finde, heißt es aber husch, husch ins Körbchen. Da bin ich rigoros, verstanden?«

Statt einer Antwort schenkte sie LaGregor, wie sie ihre neue Freundin insgeheim nannte, ein strahlendes Lächeln, auf das LaGregor mit einem sorgfältigen Abtasten der Frisur reagierte.

»Vorschlag von meiner Seite, da ich keine verzweifelten Flattermänner ertrage und Happy Ends liebe: Wie sieht dein Superman denn aus? Vielleicht erblicke ich ihn ja von hier oben.«

»Wunderschön und ausgesprochen maskulin«, entgegnete Lea, die ihr leeres Glas erfolgreich losgeworden war und zwei neue erbeutet hatte.

»Klingt nicht, als hinge dein Herzschlag von seiner Anwesenheit ab. Das enttäuscht mich ein wenig, wenn ich ehrlich bin.« LaGregors Stimme troff vor Ironie.

Lea trank ihr zweites Glas mit einem Zug aus und fühlte sich auf den hohen Absätzen mit einem Mal viel sicherer. »Was hältst du davon, wenn wir uns gemächlich und Champagner trinkend durch dieses Gewühl schlagen? Dabei können wir uns gegenseitig Kuriositäten zeigen, bis die Fanfaren ertönen und mein verschollener Prinz plötzlich vor uns steht.«

LaGregor schaute sie mit ihren schwarz-roten Augen prüfend an, dann sagte sie gedehnt: »Bevor ich mich zu Tode langweile ...«

Entspannt lehnte Adam sich mit dem Rücken gegen die Wand und verfolgte die Spur des Zitronenfalters, der kreuz und quer durch die bunte Blumenwiese schwebte und ein vergnügtes Lachen hinter sich herzog.

Er hatte schon seit einiger Zeit gut verborgen daraufgewartet, dass Lea endlich auf dem Fest erscheinen würde, und er war nicht enttäuscht worden. Die Art, wie sie verloren oben auf der Empore gestanden hatte, und der plötzliche Ausdruck kindlicher Begeisterung in diesem immer viel zu ernsten Gesicht hatten Adam einen Stich versetzt, und fast wäre er die Treppe hinaufgestiegen, um mit ihr zusammen das Fest zu erkunden. Doch da hatte Lea den Rücken durchgestreckt und war in die feiernde Menge eingetaucht, um sich einer einfach unglaublichen Erscheinung anzuschließen.

Nachdem ein Anflug von Enttäuschung abgeklungen war, musste er wider Willen lächeln. Lea hatte sich in den letzten Jahren verändert. Zwar war sie noch nie die Art von Frau gewesen, die auf Rettung wartete, aber nun erschien sie ihm unerschütterlicher. Auch wenn man es dieser in sich gekehrten, leicht egozentrischen Frau auf den ersten Blick nicht ansah, so verfügte sie doch über eine enorme Stärke. Aber das wusste er nur allzu gut. Schließlich hatte sie sogar die Willenskraft aufgebracht, ihm den Rücken zuzukehren, während ...

Er wurde aus seinen trüben Gedanken gerissen, als sich eine junge Frau nur einen Hauch von ihm entfernt mit der Schulter gegen die Wand fallen ließ. Ihre Wangen waren vom Tanzen gerötet, und der Champagner hatte ihr ein anzügliches Lächeln auf die Lippen gezaubert. Lange Strähnen schokoladenfarbenen Haars fielen ihr über die nackten Schultern. »Hey«, sagte sie und tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Brust.

Einen Moment lang musterte Adam sie noch, dann suchte sein Blick erneut nach Lea. Doch der Dämon ließ sich nicht so leicht ablenken. Seine Gier breitete sich mit einem rasanten Brennen in Adams Gliedern aus und schürte ein Verlangen, das er kaum zu beherrschen vermochte. Solch ein Geschenk, dröhnte der Dämon. Solch eine leichte Beute!

Adam begriff kaum, wie er den Kopf erneut der Frau zuwendete und ihr ein Lächeln schenkte, das sie erregt nach Luft schnappen ließ. »Hey«, sagte er so leise, dass sie sich unweigerlich noch dichter zu ihm beugte.

Vom Dekollete der Partyschönheit stieg der verräterische Duft nach williger Hingabe auf und ließ den Dämon voller Begeisterung aufbrüllen. Doch Adam drehte sich abrupt um und durchmaß den Raum mit großen Schritten. Weder Lärmen noch Locken des Dämons vermochten gegen seine Entscheidung etwas auszurichten. Der Duft dieser Frau, so verführerisch er auch gewesen sein mochte, war nicht der Duft, nach dem Adam sich sehnte.

Zu Leas absoluter Begeisterung hielt LaGregor den Unterhaltungspegel hoch, und sie ließ sich nur allzu gern mitreißen.Was sie sahen, bereitete ihnen beiden ein Heidenspaß, und sie hätte viel dafür gegeben, alles auf Film festhalten zu können. Das Fest war ein einziger Rausch, und sie fühlte sich unbeschreiblich lebendig inmitten all dieser Fremden, die ihren eigenen Passionen nachgingen und den Augenblick genossen. Alle menschlichen Urbedürfnisse schienen parallel zur Aufführung zu kommen: Es wurde geschwätzt und gelästert, geküsst und getanzt. Alles war in Bewegung zum Rhythmus des sich ständig steigernden Beats. Es wurde voller und lauter. Lea bemerkte überrascht, dass sie nicht mehr neben LaGregor herging, sondern -tanzte. Ihre Wangen waren gerötet, ein leichter Schweißfilm bedeckte ihre bloßen Schultern, und ihre Stimme hatte vom vielen Schreien und Lachen einen heiseren Ton angenommen.

Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre vollkommen in dieser überdrehten Stimmung aufgegangen, als Adam so unvermittelt vor ihr auftauchte, dass sie fast die Kontrolle über ihre wankendenAbsätze verloren hätte. Blitzschnell schlang er einenArm um ihre Hüften und zog sie dicht an sich heran, so dass sie nur noch seine Lippen wahrnahm, deren obere Hälfte schmal, die untere voll und weich war. Sie sah die leichten Bartstoppeln, die sich in der kleinen Einkerbung oberhalb des Kinns angesammelt hatten. Sie schaute auf den Kragen des weißen Hemdes, das trotz der Krawatte leicht geöffnet war, und fantasierte darüber, was sich wohl darunter verbergen mochte.

»Hallo, mein Prinz«, hauchte sie.

Prüfend sah Adam sie an. »Hast du dich gut amüsiert?«, fragte er, während er sich Zentimeter um Zentimeter von ihr löste und nur die Hand auf ihrer Hüfte zurückließ.

»LaGregor ist die wunderbarste Freundin, die sich ein Mädchen wünschen kann«, versuchte Lea an das Hochgefühl der letzten Stunden anzuschließen. Doch der Blick, den Adam und LaGregor in der Zwischenzeit austauschten, beraubte sie der Hoffnung auf ein lustiges Zusammensein zu dritt.

Ehe ihr ein rettendes Wort einfiel, beugte sich LaGregor zu ihr herunter und küsste sie auf die Wange: »Wir feiern ein anderes Mal weiter, Schmetterling. Ich werde mir jetzt erst einmal etwas Anständiges zu naschen besorgen, und du huldigst brav deinem Prinzen. Bis bald, mein Schatz.«

Und mit diesen Worten verschwand LaGregor in der feiernden Menge, und Lea blickte dem wogenden Afro hinterher. Für einen kurzen Moment konnte nicht einmal Adams Anwesenheit sie trösten. »Du hast sie verjagt«, klagte sie, der verlorenen Freundin nachschauend.

»Ich möchte, dass du jemanden kennenlernst«, erwiderte Adam trocken, aber sie glaubte, den Hauch eines Lächelns zu sehen.

Adam umfasste ihren Ellbogen und führte sie in den Wintergarten, der die Ausmaße eines großzügig angelegten Regenwaldhauses hatte. Die creme- und lachsfarbenen Blütenkelche der Trompetenbäume wetteiferten mit rankenden Jasmindolden um den betörendsten Duft. In schneeweißer Blüte stehende Orangenbäume standen dicht an dicht mit Drachenpalmen in Terrakottakübeln, und auf bemoosten Zweigen prangten zierliche Orchideen. Ein in den Boden eingelassener Wasserlauf mit verzweigten Armen, der von einem Messingspringbrunnen gespeist wurde, sorgte dafür, dass die Luft mit feinsten Wassertropfen angereichert war.

Im Wintergarten hielten sich deutlich weniger Leute auf als in den beiden anderen Räumen.Außerdem herrschte eine seltsam gedämpfte Atmosphäre, die ausgelassene Musik war hier nur noch als ersticktes Pochen wahrnehmbar. Kleine, leise plaudernde Gruppen bestimmten das Bild, zwischen denen ein stetes Kommen und Gehen herrschte, so als führten sie einen Ritualtanz auf.

Während sie sich leicht benommen von Adam führen ließ, wurde Lea mit einem Mal klar, dass all diese Leute um ein Zentrum zirkulierten. Es war das Bett, das sie von der Empore aus erspäht hatte. Zielstrebig steuerte Adam darauf zu, während die anderen Gäste es in einem Sicherheitsabstand umschwirrten, als gäbe es eine unsichtbare Grenze, die man nicht ungebeten überschritt.

Ehe Adam diesen Bannkreis durchbrechen konnte, griff Lea nach einem weiteren Glas Champagner. Eine Mischung aus Unsicherheit und Beklemmung machte sich in ihr breit und vernichtete die letzten Spuren der Leichtigkeit, die sie an LaGregors Seite genossen hatte. Adam quittierte die Schnelligkeit, mit der sie das edle Getränk hinabstürzte, mit dem Hochziehen einer Augenbraue, enthielt sich aber eines Kommentars. Ungeduldig umschloss er ihren Ellbogen und zog sie ein paar Schritte voran.

Eine Gruppe junger Frauen in aufsehenerregenden Kleidern zerstreute sich, als sie Adam ansichtig wurden. Lea erkannte sofort, dass das androgyne, in schwarze, hautenge Sachen gekleidete Wesen die Sonne dieses Universums war. Auf den ersten Blick erweckte es den Eindruck, lediglich ein Kind zu sein, das schon bald von den ersten Einbrüchen der Erwachsenenwelt heimgesucht werden würde. Doch die glatten, ungewöhnlich ausgewogenen Gesichtszüge spiegelten pure Macht wider, die keinen Zweifel daran aufkommen ließen, dass Vorsicht angebracht war. Der Herrscher dieses Festes döste scheinbar müßig inmitten seines Hofstaates, während seine erschreckend schmalen Finger das Fell eines Windhundes durchkämmten.

»Männlein oder Weiblein?«, fragte Lea verwirrt.

»Sag du es mir«, entgegnete Adam mit einem geheimnisvollen Lächeln.

Erschrocken stellte Lea fest, dass dieser Abend die Züge eines Traums annahm, und sie war sich nicht sicher, mit welcher Art Traum sie es zu tun hatte. Auf diesen Augenblick zielte die ganze Vorbereitung des Abends also ab, hierfür hatte Adam sie auf dieses Fest gebracht und Megan sie so großartig zurechtgemacht: Sie sollte diesem unwirklichen Wesen vorgestellt werden. Die Art, wie Adam sie ins Herz des Festes geführt hatte, war perfekt inszeniert gewesen. Er hatte sie in das passende Kostüm gesteckt und ihr genug Zeit zugestanden, sich von dem mitreißenden Sog einfangen zu lassen. Nun stand der große Auftritt bevor. Ihre »Einführung«, wie Megan vor einer halben Ewigkeit gesagt hatte.

Plötzlich verspürte sie das trotzige Bedürfnis, Adam einen Strich durch die Rechnung zu machen. Mit einer fließenden Bewegung baute sie sich vor ihm auf und überließ sich ganz dem Willen ihres Körpers, der schon seit Stunden auf sein Recht pochte, Adam nahe zu sein. Mit geschlossenen Augen blieb sie vor ihm stehen, die Arme entspannt herabhängend, während all ihre Sinne nur noch ihn umkreisten. Sie ließ sich treiben, gab sich ganz diesem Ziehen hin, das jedes Mal Besitz von ihr ergriff, wenn er sie berührte oder sein Geruch sie umfing. Allerdings widerstand sie dem unerträglichen Drang, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren.

Zunächst blieb Adam nur widerwillig stehen, aber schon einen Atemzug später spürte Lea, wie seine Hände fordernd um ihre Taille wanderten. Kaum hatte er sie dicht an sich herangezogen, da stellte sie sich auf die Zehenspitzen, so dass ihr Gesicht unmittelbar vor seinem war. Sein heftig ausgestoßener Atem fühlte sich auf ihren empfindsamen Wangen wie eine prickelnde Explosion an.

Ihre Gedanken verschmolzen mit dem unterschwelligen Rhythmus der fernen Musik. Das Fest, die Gäste, das wartende Himmelbett zwischen all den Palmen und seltenen Pflanzen, all das war vergessen. Hinter ihren geschlossenen Lidern verdichtete sich ein sinnliches Bild und sendete Flammenzungen über ihre Haut, so dass Lea überwältigt die Augen aufschlug. Der Intensität, mit der die Sehnsucht sich einen Weg bahnte, haftete etwas Schockierendes an.

Ein Blick auf Adams aufgewühltes Gesicht genügte, um zu erkennen, dass er sich dem leidenschaftlichen Drängen ebenfalls nicht entziehen konnte.

Unwillkürlich dachte sie an den Moment, als sie den ungeschminkten Ausdruck von Begehren zum ersten Mal auf seinem Gesicht entdeckt hatte: in der Nacht, in der Adam sich einen brutalen Kampf mit Truss auf den nächtlichen Straßen geliefert hatte. Damals hatte Lea ihn das erste Mal berührt, als er blutverschmiert vor ihr gestanden hatte. Doch sie war zu verwirrt gewesen, um die Bedeutung seiner Reaktion zu ermessen. Zu schnell war dieser sinnliche Augenblick von den folgenden verwirrenden Eindrücken überlagert worden.

Die Erkenntnis, dass sie einander nach wie vor begehrten, und die Gewissheit, dass dies kein Spiel war, trafen sie wie ein Schwall kalten Wassers. Sie befreite sich aus Adams Umarmung und schaute ihm ins Gesicht, ehe er Gelegenheit fand, sich zu fangen und die alte Maske der Gleichgültigkeit aufzusetzen. Ein wilder Glanz lag auf den halb geschlossenen Augen, und die leicht geöffneten Lippen zitterten. Lea zögerte.Was sah sie: Dämon oder Mann?

Sie war sich nicht sicher.

Adam reagierte auf ihren unvermittelten Rückzug mit einem kaum unterdrückten Knurren. Einen Moment lang glaubte sie, dass er sich auf sie stürzen würde, aber da hatte er sich schon wieder unter Kontrolle. Das teilnahmslose Gesicht, das Lea so vertraut war, wurde erneut zur Schutzmauer, hinter der Adam seine eigenen Wünsche und die des Dämons verbarg. Doch die Mauer hatte Risse erhalten, das Funkeln in seinen Augen verriet ihn.

Trotz des Schreckens und der widerstreitenden Gefühle schenkte sie ihm ein kühnes Lächeln. Sie hatte einen Sieg über seine Unnahbarkeit errungen, von dem sie nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Wenn es ihr gelang, Adams Gefühle zu wecken, dann war sie nicht länger der willenlose Spielball, zu dem er sie in der Bar herabgesetzt hatte. Adams Mundwinkel zuckten leicht nach oben, als gönne er ihr diesen kleinen Sieg durchaus.

Beide waren derartig ineinander vertieft, dass sie vor Schreck zusammenfuhren, als eine angenehm weiche Stimme sie in die Gegenwart zurückholte: »Was für eine beeindruckende Vorstellung.«

Während Lea wie versteinert stehen blieb, schlich sich ein Lächeln auf Adams Gesicht, das nichts anderes bedeuten konnte als »Mögen die Spiele beginnen«. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und führte sie zu dem großen Bett. Dort stellte er sich dicht hinter sie, umfasste sanft ihre Oberarme und vergrub kurz das Gesicht in ihrem offenen Haar.

Verwirrt überlegte Lea, was diese zärtliche Geste zu bedeuten hatte. Ein Judaskuss, ehe er sie den Raubtieren vorwarf? Aber Adams immer noch erregter Körper, den sie in ihrem Rücken spürte, führte diesen Gedanken ad absurdum.

»Pi, das hier ist meine unberechenbare Lea. Wie du siehst, ist sie so mühsam zu bezwingen wie eh und je«, sagte Adam. Lea glaubte, so etwas wie Besitzerstolz aus seiner Stimme herauszuhören.

Die schmale Gestalt, die Adam mit dem seltsamen Namen Pi angesprochen hatte, machte eine einladende Bewegung, der Lea gehorsam Folge leistete. Ein leichtes Schaudern unterdrückend, glitt sie auf den Platz, den ihr ein Mitglied des Hofstaates frei gemacht hatte. Der Junge mit der schneeweißen Haut blinzelte sie unter dem hellblonden Wimpernkranz an und schmiegte sich an eine spärlich bekleidete Frau, die eine Zigarette zwischen den feisten Fingern hielt und Rauchringe in die Luft blies. Adam blieb am Fuß des Bettes stehen.

Nur eine Armlänge von Pi entfernt, ließ Lea seine unverhohlene Musterung über sich ergehen. Es waren große, schön geschwungene Augen, die sie maßen, doch dem Glanz darin war nichts Kindliches zu eigen. Vielmehr entdeckte sie eine unermessliche Gier darin, gepaart mit Machtwillen. Selbst der zarte, fast unreife Körper strahlte auf unerklärliche Weise die gleiche Gefahr aus wie ein Truck, der mit Höchstgeschwindigkeit direkt auf einen zuhielt.

Lea vertraute ihrem Instinkt, der ihr riet, sich möglichst zurückhaltend zu benehmen. Deshalb ließ sie es auch ohne Murren zu, als dieselben Finger, die zuvor noch den weißen Windhund liebkost hatten, über ihren Hals streichelten. Dann führte Pi mit einer genießerischen Geste die Finger unter seine Nase und verzog das Gesicht zu einem wissenden Lächeln.

»Lecker«, sagte das schmächtige Geschöpf kaum hörbar. Trotzdem kicherte der Hofstaat im Chor, so dass es Lea eiskalt den Rücken herunterlief. In diesem Moment begriff sie, wem sie dort gegenübersaß. Ein prüfender Blick in Pis zeitloses Gesicht verriet Lea, dass sie einen Dämon vor sich hatte.

Der Gedanke, lediglich eine Armlänge von einer unberechenbaren Kreatur entfernt zu sitzen, ließ sie hysterisch kichern, was Pi mit einem äußerst interessierten Miene bedachte.Während Leas eben noch schockgefrorene Glieder anfingen zu kribbeln und anschließend zu zittern, flüsterte ihr eine unbekannte Stimme zu, dass es besser wäre, ihren Widerstand endlich aufzugeben. Warum sich nicht von dieser hilflosen und verletzlichen Hülle abnabeln und in Sicherheit bringen, solange es Gelegenheit dazu gab? Nach all den Jahren der Furcht war sie noch nie so erschöpft gewesen wie in diesem Augenblick. Sollte der Dämon doch seinen verdammten Tempel haben!

Doch bevor Lea sich ganz und gar selbst aufgeben konnte, geriet die Oberfläche des Bettes in Bewegung: Adam hatte sich hinter sie gesetzt und mit der flachen Hand ihre vor Angst geweiteten Augen geschlossen, die an Pis mysteriösem Lächeln gebannt hängen geblieben waren. Mit einer kräftigen Bewegung zog er sie wie ein kleines Kind auf seinen Schoß, wobei sich ihre Wange gegen seine Brust schmiegte. Mit beiden Armen hielt er sie umfangen und streichelte beruhigend ihren Rücken.

Adams körperliche Nähe und das rhythmische Streicheln befreiten Lea langsam von dem Bann.Während sie sich mehr und mehr entspannte, zwang sie sich, die Worte der geflüsterten Unterhaltung zwischen Adam und Pi zu begreifen.

»Wirklich, das war ein äußerst gelungener Auftritt.« Pis Kompliment klang zynisch. »Kein Gast, der es mit eigenen Augen gesehen hat, würde jemals vermuten, dass sie nur dein Schoßhündchen, ein albernes Spielzeug, ist. Man könnte schwören, dass da echte Leidenschaft mit im Spiel ist... Obwohl ich zugeben muss, dass ich einen Moment lang befürchte habe, du würdest sie zerreißen, anstatt sie nur in den Armen zu halten. Du solltest mehr Zeit mit der süßen Lea verbringen, das würde deinen Jagdtrieb vielleicht etwas eindämmen.«

»Das halte ich für keine gute Idee«, erwiderte Adam gereizt.

»Wie auch immer - du solltest dich jetzt besser mit ihr zurückziehen. Ihre Starre löst sich langsam, wenn ich mich nicht irre. Wenn ihr fort seid, können die Gäste außerdem besser über euch tratschen. Und das ist es doch, was du willst, nicht wahr?«

Adam hob Lea hoch und setzte sie erst ein paar Schritte vom Himmelbett entfernt wieder ab. Als Lea einen Blick über die Schulter zurückwarf, hatte sich der Ring der Gäste wieder geschlossen, und das Himmelbett dahinter war verschwunden. Das Herzstück des Festes war für sie plötzlich unsichtbar geworden.

Sie schwankte, doch Adam legte ihr einen Arm um die Schultern und bahnte ihnen mit entschlossenem Gesichtsausdruck einen Weg durch die Menschenmenge. Sie ließen die Feier hinter sich, hasteten durch einen dämmrigen Gang, der zu einem Fuhrpark führte. Wortlos half Adam ihr auf den Beifahrersitz eines englischen Wagens, und kaum war das Tor weit genug geöffnet, schoss das Auto los.