18. Schusswechsel

Vor Nadines Stadtbungalow hatte Leas Euphorie einen faden Beigeschmack angenommen, so dass sie lediglich von einem Fuß auf den anderen trat, anstatt die Klingel zu drücken. Durch den Milchglaseinsatz neben der weiß lackierten Haustür schimmerte schwaches Licht, das aus dem am Ende des Ganges liegenden Schlafzimmer sickerte.

Erneut tastete ihre Zunge über ihre blau gefrorenen Lippen, während sich ihre Hände immer tiefer in die Taschen ihres Parkas gruben. Wahrscheinlich würde sie zu guter Letzt mit der Nasenspitze klingeln müssen, so wie sich ihre Hände in den Stoff krallten.

Dabei war die Sorge, dass ihr ein halb nackter Fremder mit einem Weinglas in der Hand die Tür öffnen könnte, noch die geringste. Während der Taxifahrt hatte Lea sich den Kopf darüber zerbrochen, was sie Nadine sagen würde, während sie den Fahrer zum wiederholten Male bat,endlich die Heizung hochzudrehen. Währenddessen hatten sich Kurzfilme in ihre Überlegungen eingeschlichen, in denen Nadine ihr die Hölleheißmachte, weil sie mitten in der Nacht ihr Liebesnest als Überbringer von unausgesprochenen Drohungen schändete.

Nadine konnte ziemlich kompromisslos sein, wenn es um ihre erotischen Vergnügungen ging. Bei der Bank, für die sie arbeitete, hieß es nicht umsonst, sie sei der einzig echte Kerl im Verein. Im Vergleich zu ihr waren die ganzen Anzugträger lediglich Weicheier, wenn es nach Feierabend gepflegt zur Sache ging.

Außerdem hatte Nadine sich ziemlich klar ausgedrückt, ab wann sie Lea eine Audienz gewähren würde. Nun, dachte Lea ein wenig bange, ein Blick durchs Schlafzimmerfenster wird nicht schaden. Wenn der Kerl tatsächlich über ausreichend Stehvermögen verfügen sollte, um sich immer noch in Nadines Bett aalen zu dürfen, würde sie einfach den nächstbesten Fast-Food-Laden aufsuchen und sich mit Kaffee wach halten.

Zu ihrem Glück war Nadine fast krankhaft darauf fixiert, ihren Nachbarn jeglichen Einblick auf ihr Grundstück zu verwehren, so dass das Haus von einer dichten Hecke aus verschiedenen Büschen und Sträuchern umgeben war. Einmal gepflanzt, wucherte das Grünzeug wild vor sich hin, wodurch es in dieser durchgestylten Straßenzeile den Eindruck erweckte, als habe jemand einen Würfel Dickicht ausgeschnitten und zwischen zwei gepflegte Eigenheime gepresst. Gewiss schmiedete der Hass auf Nadine die gesamte Nachbarschaft zusammen, weil sie dank ihres Dschungels niemals den ersten Platz für »Unsere schöne Straße« gewinnen würden. Aber darauf ansprechen würde Nadine bestimmt niemand, schließlich kannte sie von der Hälfte der Anwohner die Hypotheken. Eine Frau, die ihre Persönlichkeit wie einen Skorpionstachel zur Schau trug, wollte man nicht unbedingt zur Feindin haben.

In diesem Moment war Lea ausgesprochen dankbar für Nadines ausgeprägtes Revierdenken, verschaffte ihr der teils immergrüne Urwald doch den nötigen Sichtschutz, als sie zum großen Schlafzimmerfenster auf der Rückseite des Bungalows pirschte. Offensichtlich war Nadine nicht dazu gekommen, die Vorhänge zuzuziehen. Warum sollte sie auch, wenn sie gerade beide Hände voll zu tun hatte? Niemand, außer ein paar Buchsbäumen und Eiben, würde Zeuge der nächtlichen Vergnügungen werden.

Lea hockte sich hinter einen Rhododendron und gestand sich ein, wie albern die ganze Aktion war, als sie plötzlich einen verzerrten Schrei hörte. Okay, dachte sie irritiert, der Kerl ist noch aktiv - also ab zu Kaffee und Croissants. Aber die Gänsehaut auf ihren Unterarmen, die nicht die Kälte hervorgerufen hatte, ließ sie innehalten.

Der Schrei war hier draußen nur schwach zu hören gewesen, mehr ein spitzes Aufkeuchen. Was weißt du schon über Lustschreie?, zog sie sich selbst auf. Du bist die Frau, deren Liebster sich mit Stolz geschwellter Brust rühmt, sich ihr zu verweigern. Trotzdem gelang es ihr nicht, ihren jähen Stimmungswandel zu ignorieren. Obwohl die kalte Nachtluft sie weiterhin bibbern ließ, pulsierten ihre Fingerspitzen und zwischen ihren Schulterblättern bildete sich ein glühendes Dreieck.

Sie atmete tief ein und kroch auf alle vieren zum Sims unter dem Fenster.Vorsichtig hob sie den Kopf so weit an, dass sie über den Fensterrand sehen konnte. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie versteinern. Es war, als befinde sich Lea in einer Luftblase, in der Zeit und Raum eingefroren waren, während der Rest der Welt dank einer Zeitmaschine einen magischen Schritt nach vorn machte.

Ein dunkles Paar Augen auf der anderen Seite der Scheibe brachte die Luftblase schließlich zum Platzen. Sie war entdeckt worden. Denn ohne es zu bemerken, hatte Lea sich aufgerichtet und stand nun inmitten des Lichtpegels. Das dunkle Augenpaar war direkt auf sie gerichtet und in ihm schwang eine freudige Erregung, die so gar nicht zu dem blutverschmierten Lächeln passen wollte, das Macavity ihr zuwarf.

Mit einer ungeahnt zielsicheren Bewegung fischte Lea die Waffe aus der Seitentasche, ehe sie den Mantel abstreifte. Obwohl ihre Gedanken rasten, nahm sie sich die Zeit, die kalte Glätte des Laufs zu registrieren, dann legte sie beide Hände um den Schaft. Während sie die Arme ausstreckte und zielte, machte sie einige Schritte nach hinten.

Macavitys Blick hielt sie weiterhin gefangen, und die Mischung aus ungezügelter Neugierde und dem Fehlen jeglicher Angst oder Scham, die ihr aus seinen Augen entgegenfunkelte, hätte Lea normalerweise sofort in die Flucht geschlagen. Doch der Teil ihres Ichs, der für ieeliche Art von Gefühlsreeune zuständie war. hine weiterhin schockeefroren in der Zeitblase fest.

Lea beobachtete, wie Macavity die Mundwinkel zu einem Grinsen hochzog und die Zunge genießerisch über die Oberlippe fahren ließ. Aber sie sah auch, wie sich seine Muskeln in Schultern und Oberarmen anspannten. Bevor er zum Sprung ansetzen konnte, krümmte sich Leas Zeigefinger um den Abzug.

Zuerst spürte sie nur den Rückstoß der Waffe in den Unterarmen, den sie gekonnt in ihr zurückgesetztes Standbein umleitete. Dann dröhnte der Schuss in den ungeschützten Ohren, gefolgt vom Klirren des berstenden Fensterglases. Lea atmete tief ein und zwang sich, die Luft einen Moment länger als nötig in den Lungen zu halten.

Macavity war nicht mehr zu sehen. Nur das erleuchtete Schlafzimmer.

Kurz kniff Lea die Augen zusammen und entspannte die Armmuskulatur, dann richtete sie die Waffe erneut aus. Zielstrebig ging sie auf dasFenster zu und verschaffte sich einen Überblick: Mitten im Raum stand das große Futonbett, auf dem Nadine ausgestreckt lag. In ihren offenen Haaren hatten sich unzählige Glassplitter verfangen und in der nackten Schulter hatte eine einzelne Scherbe die Haut geritzt. Doch im Vergleich zum Rest des Körpers sah die Schulter relativ unversehrt aus.

Nadine schob mühsam den Kopf in den Nacken und starrte mit leeren Augen auf das zerstörte Fenster. Dabei bemerkte sie Lea, und nach einigen, unendlich langen Sekunden erkannte sie sie auch. Verzweifelt versuchte Nadine, ein Stöhnen auszustoßen, doch der Knebel in ihrem Mund dämpfte das Geräusch.

Lea nickte ihr kurz zu, dann suchte sie den Bereich vor dem Bett ab. An der gegenüberliegenden Wand befand sich auf der Höhe, wo eben noch Macavitys Kopf zu sehen gewesen war, ein dunkler Fleck. Darunter lag Macavity auf der Seite und sah merkwürdig verdreht aus. Er lag mit dem Rücken zu ihr, so dass sie nicht erkennen konnte, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Aber sie hatte ihn nicht nur getroffen, sondern regelrecht von den Füßen gerissen. Während Lea noch die Blutlache beobachtete, die sich unter seinem Kopf ausbreitete, zuckte sein nackter Körper, bis er endlich reglos liegen blieb.

Mit der Schuhsohle trat Lea einige hervorstehende Glasreste aus dem Fensterrahmen und kletterte dann vorsichtig über den Sims in Nadines Schlafzimmer. Als sie auf dem Parkettboden aufkam, zielte sie mit der Waffe erneut auf Macavitys Kopf. Sie spielte mit dem Gedanken, ihm das ganze Magazin in den Schädel zu jagen, konnte sich aber gerade noch zusammenreißen.

Für eine Flucht sah Nadine zu schwer verletzt aus. Lea würde Zeit schinden müssen, um einen Notruf zu tätigen. Bis sie den Klang der Sirene hörte, würde sie Macavity jedes Mal eine Kugel verpassen, sobald er versuchen sollte, sich wieder aufzurichten.

Sie überprüfte noch einmal, dass der zusammengekrümmte Macavity leblos dalag. Dann setzte sie sich neben Nadine aufs Bett, wobei sie die Waffe weiterhin mit einem Arm ausgerichtet hielt. Mit der freien Hand löste sie den Knebel, was nicht weiter schwer war. Offensichtlich war es Macavity lediglich darum gegangen, Nadines Schreie zu dämpfen. Sie vollends zu ersticken hätte ihn ja auch um seinen Spaß gebracht.

»Fuck!«, krächzte Nadine. Die Stimme klang verschnupft, was vermutlich an der gebrochenen Nase lag, aus der unentwegt ein dünner Faden Blut lief. Mühsam drehte Nadine den Kopf zur Seite und spuckte einen dunklen Schwall auf die Laken. Mit Gewalt riss Lea ihre Augen von der Lache weg, die wie frisch lackiert glänzte, bevor sie in den Stoff einsickerte.

Obgleich Macavity sich nicht rührte, verpasste Lea ihm einen Schuss, der in den Hals eindrang und die Haut wie einen Krater ausspringen ließ. Mit einem Keuchen schlössen sich seine Hände instinktiv um die Wunde und er drehte sich um.

Kurz gönnte Lea sich den Anblick seines schmerzverzerrten Gesichts. Am liebsten hätte sie es mit einer Taschenlampe ausgeleuchtet, damit sie auch die kleinste Regung wahrnehmen konnte. Vielleicht würde sie das den Schnitt vergessen lassen, der sich um Nadines Hals schlängelte. Kein gefährlich tiefer Schnitt und abseits der Schlagader, sondern verspielt und sadistisch. Hier hatte sich jemand amüsieren wollen und Wert daraufgelegt, dass das Spielzeug nicht gleich zu Anfang den Geist aufgab.

Mit einem groben Zerren versuchte Lea, Nadines hinter dem Kopf zusammengebundene Hände zu befreien. Als Nadine gepeinigt aufschluchzte, legte sie schließlich die Waffe beiseite und bemühte sich, vorsichtig, aber schnell den Knoten zu lösen. Ein schwieriges Unterfangen, denn Nadine hatte in ihrer Pein so sehr an den Fesseln gezerrt, dass die Verbundstelle wie verschmolzen war. Zudem hatte die aufgescheuerte Haut einen glitschigen Film auf der Oberfläche der Nylonkordel hinterlassen.

Leas Fingernägel glitten immer wieder an der Kordel ab und rissen schmerzhaft ein, dennoch bemerkte sie die Ansammlung frischer Brandmale über Nadines linker Brust, die sich zu dem Buchstaben M zusammensetzten. Wie gern wäre sie augenblicklich zu dem stöhnenden Mann gesprungen und hätte ihn mit bloßen Händen in Stücke gerissen. Doch Nadine, der die Befreiungsprozedur zu lange dauerte, zerrte erneut an den Fesseln, so dass Lea ihre Bemühungen verdoppelte.

In dieser Zeit gelang es Macavity, den Oberkörper an der Wand aufzurichten. Stark hin und her schwankend, hielt er mit einer Hand die Schusswunde am Hals umklammert. Zwischen seinen Finger sickerte Blut hindurch - allerdings nicht annähernd genug Blut, um ihn für längere Zeit außer Gefecht zu setzen. Mit dem freien Arm und den angezogenen Beinen versuchte er, das Gleichgewicht zu halten. Er bot einen groteskenAnblick: Fast hätte man glauben können, einen betrunkenen Mann vor sich zu haben, der gestolpert war und sich verletzt hatte.

Langsam, als gehöre sein Kopf einer Marionette, an deren Faden gezogen wurde, hob Macavity das Gesicht an und suchte Leas Blick. Direkt unter seinem linken Wangenknochen klaffte ein schwarzes Loch, dort, wo Leas erster Schuss ihn getroffen hatte. Kein schlechter Treffer, dachte Lea, während sie unablässig mit dem verfluchten Knoten kämpfte. Die verletzte Gesichtshälfte sah seltsam verzerrt aus, und das Gewebe um die Wunde wirkte aufgeworfen und verbrannt. Trotzdem konnte sie deutlich erkennen, dass das Blut inzwischen geronnen war. Der Dämon war also schon fleißig bei der Arbeit.

Macavity öffnete den Mund, es kam jedoch nur ein Schwall Blut hervor. Ein genervter Ausdruck legte sich aufsein Gesicht.

Endlich gelang es Lea, den Knoten zu lösen, und die blutverklebten Fesseln fielen aufs Bett. Nadine stöhnte auf, als Lea ihr half, die Arme nach vorn zu nehmen.Von der gegenüberliegenden Wand drang ein Gurgeln herüber, das in Leas Ohren verdächtig nach einem Lachen klang. Mit versteinertem Gesicht griff sie erneut zur Waffe, malte in Gedanken eine Zielscheibe auf Macavitys dunkel behaarten Oberkörper und schoss.

Der Schuss dröhnte nicht mehr annähernd so laut in ihren Ohren wie die beiden Vorgänger. Wahrscheinlich würde sie in den nächsten Tagenweder von Minous gelangweiltem Miauen noch von Adams Wutausbruch belästigt werden. Über alle Geräusche, die unter dem Pegel eines Presslufthammers lagen, würde sich ein monotones Piepsen legen.

Nadine gelang es, einen Arm über ihre geschundene Brust zu legen und die zitternden Schenkel anzuwinkeln. Dann zog sie eine Ecke des zerwühlten Lakens über ihren Körper. Dafür war Lea ausgesprochen dankbar, denn nun wurde ihr Blick nicht länger von der Bissspur angezogen, die entlang der Aorta unter der linken Brust über die Bauchdecke hinweg in Richtung Schoß verlief. Um die Male hatten sich dunkle Blutergüsse gebildet, so dass man fast den Eindruck gewinnen konnte, eine Blumengirlande in allen erdenklichen Violetttönen schlängele sich über Nadines Körper. Lea hatte es sorgsam vermieden, der Girlande bis an ihr Ende zu folgen. Ihr Bedarf an grausamen Details, die Nadines Körper hatte ertragen müssen, war absolut gedeckt. Sie verspürte nur noch den dringenden Wunsch, es Macavity heimzuzahlen.

Mit ein paar Schritten stand sie vor ihm. Während sie noch überlegte, wo ihn der nächste Schuss treffen sollte, rückte Macavity von der Wand ab und ließ sich flach auf den Rücken fallen. Er streckte alle viere von sich und stierte Lea herausfordernd an, während die Wunde in seinem Unterbauch wild pulsierte, als führe sie ein Eigenleben. EinenAugenblick lang war Lea versucht,Ausschau nach der Bettdecke zu halten und sie ihm über die Lendengegend zu werfen. Unübersehbar machte die ganze Angelegenheit Macavity einen Heidenspaß.

»Du schießt zu rasch hintereinander weg«, erklärte er mit einer unnatürlich rauen Stimme. Doch Lea wusste genau, dass in ein paar Minuten nicht die geringste Brüchigkeit mehr zu bemerken sein würde. Die Wunden verheilten erschütternd schnell. »Du hast nur noch drei Kugeln.«

»Mehr brauche ich auch nicht«, gab Lea eine Spur zu selbstsicher zurück. »Ich zerschieß dir einfach das Herz, und während du ausblutest, hole ich mir ein Küchenmesser und schneide dir den Kopf ab. Wollte schon immer mal sehen, wie der Scheißdämon das wieder zusammenflickt.«

»Ist eine Riesensauerei. Wetten, dass du anfängst zu kotzen, ehe du mir auch nur die Kehle durchgeschnitten hast? Mit einem Küchenmesser! Du hast ja vielleicht eine Ahnung, du blöde Kuh!«

Während Lea beleidigt schluckte, krächzte Nadine aus dem Hintergrund: »Wir schneiden dem Wichser was ganz anderes ab und schauen dann dabei zu, wie er versucht, es wieder aus der Toilette herauszufischen.«

»Zu schade, dass ich nicht mehr dazu gekommen bin, ein Präsent in dieser großkotzigen Schlampe zu hinterlassen«, sagte Macavity gehässig. »So eine missglückte Verwandlung ist eine spannende Sache.«

»Lass die perverse Sau nicht quatschen, knall sie endlich ab!« Nadine hatte sich leicht aufgerichtet und starrte Macavity mit hasserfülltem Blick an.

Lea war trotz allem erleichtert, denn wenn ihre Freundin noch ausreichend Kraft fand, sie zu einem Lynchmord aufzufordern, dann dürftezumindest ihre Persönlichkeit nicht gebrochen worden sein. Selbst nach diesem Überfall legte Nadine mehr Biss an den Tag als sie.

Hin- und hergerissen zielte sie auf das Herz, zögerte aber. Macavity hatte recht: Drei Schuss waren nicht viel bei einem Gegner, der immer wieder aufstand. Und außer dieser Waffe hatte sie ihm nichts entgegenzusetzen. Gehetzt schaute Lea sich im Zimmer um. Sollte sie dem unsterblichen Bastard vor ihren Füßen einen Kopfschuss verpassen und ihm dann mit Nadines Fesseln die Hände auf dem Rücken zusammenbinden? Allerdings bezweifelte sie, dass ein einfacher Knoten Macavity lang genug bezwingen würde, bis endlich Hilfe kam.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, feixte Macavity: »Was die Polizei wohl denken wird, wenn sie mich hier aus sämtlichen Löchern blutend vorfindet? Die gehen bestimmt erst einmal auf die Amokläuferin mit der Waffe los. Und bevor irgendwer den Durchblick hat, hat Pi im Hintergrund längst die entscheidenden Fäden gezogen, und du wanderst als arme Irre in eine Gummizelle ab, während deine Freundin ganz unerwartet von inneren Blutungen dahingerafft wird. Du solltest dich verpissen, Süße, solange du noch die Gelegenheit dazu hast.«

Am Ende mit ihrer Geduld jagte Lea ihm Kugel Nummer vier in den Oberschenkel. Dabei hatte sie eindeutig höher gezielt.

Mit einem dumpfen Stöhnen umfasste Macavity die sprudelnde Wunde. »Verdammte Scheiße, ich laufe ja regelrecht aus!«

Ganz so ernst schien die Lage doch nicht zu sein, denn in das schmerzdurchwirkte Fluchen stahl sich ein Lachen, das Leas Furcht zurückkehren ließ. Augenblicklich begannen ihre Unterarme zu zittern, als könnten die überanstrengten Muskeln die Waffe keine Sekunde länger halten. Ihr wurde bewusst, dass ihre Zunge wie festgewachsen am Gaumen klebte und sich weigerte, die dringend benötigte Luft vorbeizulassen. Plötzlich reichte der ganze Sauerstoff des Raumes nicht mehr aus, um Leas Lungen das zu geben, wonach sie sich so brennend sehnten.

Himmel, nur noch ein paar Minuten durchhalten, spornte sie sich an. Sie glaubte das schwache Signal einer Sirene zu hören, aber vielleicht spielte ihr das Piepsen im Ohr auch einen Streich. Gerade als Macavity die Hände von der Wunde nahm, deren Blutung allmählich versiegte, zerrte Nadine mit einem Wutschrei Lea die Waffe aus den zitternden Händen.

»Ich knall das Dreckschwein ab! Du wirst nie wieder deine Scheißfresse aufreißen und zubeißen, du verdammter Bastard!«

Nadine feuerte ab, ehe Lea reagieren konnte. Der unerwartete Rückstoß riss ihr die Waffe aus der Hand, die mit einem Krachen aufs Parkett schlug und unter den Futon schlitterte. Hastig schwenkte Lea den Kopf in Macavitys Richtung, bloß um festzustellen, dass Nadines Kugel lediglich eine Schneise in dessen schwarzes Haar geschlagen und die Kopfhaut angeritzt hatte.

Dicht neben sich registrierte Lea eine Bewegung: Nadine wollte sich auf Macavity stürzen. Im letzten Augenblick fasste sie die Freundin um die Taille und zog sie zurück. Trotz ihres geschwächten Zustands wehrte sich Nadine wie von Sinnen, und Lea musste ihre ganze Kraft aufbieten, um die tobende Frau wieder auf das Bett zu drängen.

»Hände weg, ich bring ihn um!«, schrie Nadine und schlug blindwütig nach Leas Gesicht und Armen. Doch schließlich gab sie nach und blieb vor Erschöpfung ausgestreckt auf dem Rücken liegen.

Gerade als Lea nach der Waffe greifen wollte, spürte sie einen gnadenlosen Griff in ihrem Haar. Ohne ein Wort zu verlieren, zerrte sie ein humpelnder Macavity hinter sich her. Alles ging so schnell, dass sie nicht einmal die Chance bekam, sich zu wehren. Macavitys Schwung zog sie einfach mit sich durch den Raum, und der beißende Schmerz, als er ihr das Haar strähnenweise ausriss, jagte Blitze hinter ihre zugekniffenen Augenlider.

Im nächsten Augenblick verpasste Macavity ihr einen brutalen Stoß, und sie flog kopfüber durch den Fensterrahmen. Dabei zerschnitt eine der übrig gebliebenen Scherben, die wie gläserne Klippen aus dem Holz hervorstachen, ihre Hose und streifte den Hüftknochen. Doch der Schmerz erreichte Leas Gehirn nicht - er wurde vom Aufprall ihrer Schulter auf die steinerne Terrasse überlagert.

Betäubt blieb sie auf dem Rücken liegen. Ehe die Bewusstlosigkeit sie umfing, tauchte vor ihr eine verschwommene Dämonenfratze auf. Dann wurde sie unter den Armen gepackt und hochgezerrt. Lea schrie vor Pein auf: Macavity hatte den von der ausgerenkten Schulter leblos baumelnden Arm gegriffen und zog sie quer durch das Gestrüpp des Gartens. Wie von Sinnen setzte Lea einen quälenden Schritt vor den anderen, unfähig, ihm den verletzten Arm zu entreißen.

Als sie auf den beleuchteten Gehweg traten, erkannte sie am Ende der Straße, die noch im morgendlichen Dunst lag, den Schemen eines Joggers. Wie würde der Mann wohl reagieren, wenn er einen blutverschmierten nackten Kerl sah, der eine halb ohnmächtige Frau hinter sich herschleifte? Sobald er einen Blick auf Macavitys Gesicht werfen würde, in dem sich eine Mischung aus Größenwahn und Zerstörungsfreude spiegelte, würde er wahrscheinlich das Letzte aus seinen Beinen herausholen. Erst zu Hause, wenn alle Türen gesichert und er mit dem Baseballschläger seines Sohnes bewaffnet wäre, würde er einen Anruf bei der Polizei tätigen. Bis dahin wäre Macavity mit ihr längst über alle Berge verschwunden. Doch bevor der Schatten des Läufers im Morgengrauen feste Konturen annehmen konnte, verschwand er in einem der Hauseingänge. Ein enttäuschtes Seufzen entfloh Leas Lippen, und sie hasste sich für diese Schwäche.

Macavity schenkt ihr ein bösartiges Lächeln, das sie endgültig aus der Benommenheit riss. Dann umfasste er ihren Nacken und drückte ihr einen Kuss auf. Er presste seinen Mund so hart auf ihren, dass Leas Unterlippe aufplatzte. Auch Macavity entging dies nicht.

Angewidert drehte Lea den Kopf zur Seite. Die Bewegung ließ erneut das dumpfe Pochen in ihrer Schulter aufbranden. Nebel breitete sich hinter ihrer Stirn aus, während sie zurückzuweichen versuchte.Vergebens.

Macavity grinste. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so zimperlich bist. Wie sehen denn die Spielchen aus, die Adam mit dir veranstaltet?«

»Leck mich«, entgegnete sie mit letzter Kraft.

»Hab ich doch schon«, sagte Macavity gelangweilt. Dann renkte er ihr ohne Zögern die ausgekugelte Schulter ein.

Einen Augenblick lang glaubte sie, in Flammen zu stehen, so glühend war der Schmerz. Doch nach all den Schrecken dieser Nacht hatte ihr Körper nun eine Grenze überschritten und schaltete aufs Notprogramm um: Lea brach zusammen. Ihr letzter Gedanke galt dem Sirenengeheul in weiter Ferne. Zumindest Nadine war in Sicherheit.