17. Im Exil

Sie hätte ihm weiterhin verbissen Paroli bieten müssen, warf sich Lea zum tausendsten Mal vor, während sie Megan beim Schlafen beobachtete. Dieser verlogene Mistkerl hatte ihre Erschöpfung schamlos ausgenutzt.

»Hör zu, mein Engel, Megan packt doch nur die Sachen für dich, weil du so erschlagen bist.«

»Megan fährt dich doch nur zu diesem Hotel, auf das Pi niemals kommen wird. Du kennst den Weg nicht und musst dich außerdem um die Katze kümmern.«

»Megan checkt dann nur noch die Details mit dem Hotelier und trägt die Koffer aufs Zimmer.«

Auf das Doppelzimmer, wie sich schließlich herausstellte. Außerdem stellte sich heraus, dass Megan schwerer aus diesem Zimmer zu entfernen war als eine Zecke aus der Leiste. Mit stoischer Gelassenheit befolgte sie den Auftrag, den Adam ihr zugeraunt haben musste, als Lea versucht hatte, Minou mit einem Säckchen Katzenminze unter dem Bett hervorzulocken.

Spätestens als Adam sie kurz beiseitegenommen hatte, nachdem sie Megan Schläge angedroht hatte, wenn sie nicht sofort ihre Finger aus der Wäschelade nehmen würde, hätte ihr klar werden müssen, worauf die Scharade hinauslief.

»Hör auf, Megan anzupflaumen«, hatte Adam sie mit gefährlich beherrschter Stimme angefahren. Dass er sich dermaßen am Riemen riss, hätte zumindest ihren Argwohn wecken müssen. »Megan hat sich für uns schon mehr als nötig aus dem Fenster gelehnt. Dass sie uns jetzt hilft, geschieht nur aus einem starken Gefühl der Loyalität heraus. Danach wird sie sich selbst aus der Schusslinie bringen müssen, denn Pi wird sie nicht in seine Dienste zurücknehmen. Kannst du dir überhaupt vorstellen, was es für Megan bedeutet, nicht länger Dienerin zu sein?«

»Es tut mir wirklich sehr leid für Megan, dass sie so plötzlich zur Freiheit gezwungen wird. Unter Pis Fittichen ist es sicherlich schön kuschelig gewesen.«

Ihr Gespött geflissentlich überhörend, hatte er ein Totschlag-Argument nachgeschoben: »Dass ich dein geheimes Stelldichein mit Pi.«

Nachdem Lea ein leises Knurren zur Antwort gegeben hatte, hatte Adam geseufzt und sie kurzerhand mit diesem speziellen Blick bedacht, der jedes Mal den Boden unter ihren Füßen schmelzen ließ. Normalerweise wäre sie bestrebt gewesen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie konnte diese dämonische Finesse nicht ausstehen. Aber an diesem Abend war sie zu erschöpft gewesen, um Widerstand zu leisten. Und so brach Adams Zauber erst, als Megan sich nicht aus dem Hotelzimmer verdrängen ließ.

»Nein, ich werde bleiben, bis Adam die Gelegenheit findet, sich Ihnen wieder zuzuwenden«, hatte Megan roboterhaft wiederholt, während sie entnervt mit den Augen geblinzelt hatte. Dabei hatte Megan ähnlich derangiert gewirkt wie Lea. Offensichtlich waren die letzten Stunden auch nicht ganz nach ihrem Geschmack gewesen.

Was hatte Adam bloß in dieser Unperson zum Klingen gebracht, dass sie sich einfach nicht abschütteln ließ, Loyalität hin oder her! Lea war ratlos.Warum kroch Megan nicht einfach auf allen vieren zu Pi zurück und winselte um Vergebung, statt immer weiter in Ungnade zu fallen?

Nachdem Lea ihre restliche Energie, das ihr der Tag noch gelassen hatte, in einen Wutanfall investiert hatte, war sie auf dem Bett zusammengebrochen, ohne dass Megan ihren Wachposten aufgegeben hätte. Das gibt Rache, hatte sie sich noch geschworen, dann war sie in einen traumlosen Schlaf gefallen.

Mitten in der Nacht schreckte sie plötzlich mit einem Satz hoch, als hätte ihr jemand direkt ins Ohr geschrien. Die Katze, die zusammengerollt auf ihrer Brust geschlafen hatte, fiel vom Bett und verzog sich beleidigt in eine dunkle Ecke. Als Lea die Nachttischlampe anknipste, fiel der Lichtkegel zwar nicht auf einen wartenden Adam, dafür aber auf eine Schachtel mit Thunfisch-Pizza. Die ist mir jetzt sowieso viel lieber, dachte Lea nachtragend und machte es sich in einem Sessel bequem.

Während sie das kalte Fast Food hinunterschlang, tastete ihr Gedächtnis im Rückwärtslauf die Ereignisse des letzten Tages ab. Als sie bei Pis unausgesprochener Drohung angekommen war, Nadine auf die Finger zu klopfen, sprang ihr Herz dermaßen die Kehle hoch, das es mit einem Stück vom Pizzarand kollidierte. Einen Augenblick lang glaubte Lea, ersticken zu müssen, und nichts anderes hätte sie eigentlich auch verdient, sagte sie sich. Sie war so vollkommen mit ihrem eigenen Drama beschäftigt gewesen, dass sie das Wohlergehen ihrer besten Freundin vergessen hatte. Jene Freundin, die bloß in die Schusslinie geraten war, weil sie ihr hatte helfen wollen.

Nadine! Du hast nur eine einzige Freundin und schaffst es nicht, dich um sie zu kümmern. Du hast diesen kaltschnäuzigen Bastard namens Adam so etwas von verdient ... Echte Menschen mit Gefühlen sollten einen weiten Bogen um dich machen, denn bei dir kann man sich ja nur eine blutige Nase holen. Himmel, wie hatte das nur passieren können? Wäre sie eine Romanfigur, würde sie jetzt jede Leserin hassen. Denn wer wegen eines Kerls einfach die beste Freundin vergaß, hatte mindestens das Fegefeuer verdient.

Nachdem der Schwall an Selbstbeleidigungen allmählich wieder abflaute, wurde Lea klar, dass sie besser handeln als lamentieren sollte.

Das waren die Fakten:

Sie hatte Adam nichts von Pis Drohung gegen Nadine erzählt - Fakt.

Megan würde kaum bereit sein, ihr in dieser Angelegenheit behilflich zu sein - Fakt.

Sie konnte Megans Handy nicht benutzen, um bei Nadine anzurufen - Fakt.

Aber sicherlich den Münzsprecher in der nächsten Eckkneipe ... So ein Anruf ließ sich doch nicht rasch orten, oder? Und wenn, war es auch egal. Schließlich hatte sie nicht vor, noch ein Bier an der Theke zu trinken. Was für ein paranoider Gedanke, der könnte direkt von Adam stammen, dachte Lea griesgrämig. Sie selbst befürchtete nämlich nicht ernsthaft, dass sich einer von Pis Spießgesellen an ihre Fersen geheftet hatte. Bestimmt würde es Pi viel mehr Freude bereiten, seine Wut direkt an Adam auszulassen. Vielleicht hatte er Adam schon längst - mit einer Schleife versehen - dem großen Unbekannten als Opfergabe dargeboten, während sie hier Zeugenschutzprogramm mit Megan spielte.

Anscheinend schien Megan die Lage ähnlich einzuschätzen. Sonst würde sie wohl kaum selig schlafen, sondern mit einem halb geöffneten Auge an der Zimmertür hängen, in den Händen die entsicherte Waffe, die sie in Leas Wäschelade gefunden hatte. Schließlich war die gute Megan ja das Pflichtbewusstsein in Person.

Lautlos schlüpfte Lea in ihre Schuhe, griff sich Mantel und Schal. Ihre Augen flitzten zu der kleinen Automatikwaffe, die Megan nachlässig auf dem Nachttisch hatte liegen lassen. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. Nachdem sie aus Etienne Carrieres Haus geflohen war, hatte die Angst sie fast in den Wahnsinn getrieben. Sie war wie eine Schlinge um den Hals gewesen, die sich von Tag zu Tag mehr zugezogen hatte. Als sie schließlich kaum noch Luft bekommen hatte, hatte Lea sich mit letzter Kraft zum Handeln entschlossen.

Da sie trotz all der Schrecken um sie herum nicht vorgehabt hatte, ein vollkommen neues Leben in fernen Landen zu beginnen, hatte sie sich an Selbstverteidigung versucht: Wing Chun, Boxen ... Bei allem, was ihren Körper in eine Waffe verwandeln sollte, hatte sie allerdings kläglich versagt. Weder legte sie den rechten Biss an den Tag noch besaß sie die notwendigen Instinkte. Dann hatte sie jedoch Schusswaffen für sich entdeckt. Ihr gefiel der Gedanke, dass der Angreifer bei dieser Kunst gar nicht erst die Chance bekam, mit ihr auf Tuchfühlung zu gehen.

Bevor Lea sich versah, hatte sie die Waffe an sich genommen und fand sich einige Minuten später in einem Telefonhäuschen drei Straßen vom Hotel entfernt wieder. Die Straßen waren menschenleer, was um diese Uhrzeit und in einer solchen Gegend auch kaum verwunderlich war. Trotzdem wäre es Lea lieber gewesen, wenn zumindest ein Pärchen vorbeigehuscht wäre oder jemand seinen Hund ausgeführt hätte. Die lichterlosen Wohnblocks, die sich dicht an dicht aneinanderreihten, verstärkten ihre Nervosität auf unangenehme

Weise, als sie mit klammen Fingern Nadines Handynummer wählte. Es klingelte ein paar Mal, und Lea befürchtete schon, gleich die Mailbox dran zu haben, als plötzlich abgehoben wurde.

»Nadine?«, rief Lea erleichtert.

»Is' gerade ungünstig«, antwortete Nadine. Obwohl sie ausgesprochen leise redete, konnte Lea das Nuscheln in ihrer Stimme heraushören. Nadine war eindeutig angetrunken. Wie wunderbar! Wenn sie um zwei Uhr morgens betrunken ans Handy ging, dann war wohl alles okay.

»Hör mir zu, ich muss unbedingt mit dir über Pi sprechen«, sagte Lea, wobei sie Probleme hatte, ein erleichtertes Lachen zu unterdrücken.Sie fühlte sich, als hätte sie eben das letzte Weihnachtsgeschenk ausgepackt, das zu ihrer Überraschung den größten ihrer Herzenswünsche enthielt.

»Ja, das kannst du auch, Süße«, erwiderte Nadine kurz angebunden. »Aber bitte erst morgen.«

Ehe Nadine auflegen konnte, brüllte Lea ein »Warte!« in den Hörer. Ein scharfes Einatmen zeigte ihr, dass ihre Freundin vor Schreck ein wenig nüchterner geworden war.

»Lea, jetzt hör mir mal zu: Diese Gruselgeschichten können bis morgen warten«, sagte Nadine gereizt. »Ich habe einen absolut leckeren Fisch an der Angel, der gerade unsere Rechnung an der Bar begleicht. Danach werde ich den Kerl auf der Rückbank des Taxis besteigen und anschließend noch einmal bei mir zu Hause. Und wenn er morgen beim Aufwachen immer noch da sein sollte, gibt es eine Zugabe. Nachdem ich geduscht und gefrühstückt habe, darfst du anrufen und mich mit diesem Mist heimsuchen, okay?« Mit diesen Worten legte Nadine auf.

Entgeistert starrte Lea noch eine Zeit lang den piependen Hörer in ihrer Hand an, schließlich hängte sie ihn ein. Sie setzte sich auf den Bordstein, zog die Knie unters Kinn und dachte nach.

Wenn Nadine gerade dabei war, ihre sexuellen Bedürfnisse zu zelebrieren, dann spürte sie wohl kaum Pis Würgegriff um den Hals. Lea konnte also getrost das Morgengrauen abwarten und dann mit Megan sprechen, die wiederum mit Adam reden würde, der daraufhin ... ja, was würde Adam daraufhin unternehmen? Eigenhändig Nadines Koffer packen und sie im Hotelzimmer nebenan einquartieren? Unwillkürlich zwängte sich Lea das Bild der beiden auf, wie sie sich, zwei aufgepeitschten Kampfhähnen gleich, in ihrer Küche gegenübergestandenhatten. Wahrscheinlich würde es Lea harte Überzeugungsarbeit kosten, ehe Adam sich als Nadines Retter die Hände an ihr schmutzig machen würde. Und die Hände würde er gewiss einsetzen müssen, allein schon, um Nadine den Mund zuzuhalten, wenn sie ihn zum Teufel wünschte.

Während Lea widerwillig Adam von der Liste möglicher Retter strich, bemerkte sie kaum, wie die Kälte sich durch ihre Kleidung schon eine halbe Ewigkeit gedankenverloren am Straßenrand hockte. Mühsam kam sie wieder auf die Beine und hopste einige Male auf und ab, bis der Motor ihrer inneren Energiequelle ansprang.

Trotz der anhaltenden Dunkelheit glaubte sie, dass der Morgen bereits angebrochen war. Mittlerweile dürfte aus Nadines Liebhaber kaum noch etwas Nennenswertes herauszuholen sein, so dass Nadine sicherlich nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn Lea ihr bei einem zugegeben sehr frühen - Frühstück Gesellschaft leisten würde.

Kurz entschlossen warf Lea einige Münzen in den Apparat und rief bei der Taxizentrale an. Warum Adam eine Aufgabe aufhalsen, die sie selbst liebend gern übernahm? Ihr schlechtes Gewissen Nadine gegenüber quälte sie, außerdem sehnte sie sich geradezu schmerzhaft danach, mit ihrer Freundin zu reden.Vielleicht würde Nadine ihr sogar Absolution erteilen, indem sie einfach mit der Schulter zuckte und Lea zwischen einigen Zigarettenzügen versicherte, dass sie ihre Pi-Recherche unverzüglich einstellen würde und damit alle Probleme aus der Welt wären.

Als das Taxi schließlich mit Lea auf der Rückbank losfuhr und um die nächste Ecke bog, glaubte sie im Rückfenster einen Schemen erblickt zu haben, der verdächtig nach einer abgehetzten Megan aussah. Das kann nicht sein, sagte sich Lea mit einem bösen Lächeln auf den Lippen. Megan würde es niemals wagen, die Katze unbeaufsichtigt zurückzulassen. Sie war doch so loyal.