5. Blutrausch
Der Dampf glitt niedrig über die Oberfläche aus flüssigem Gold, kletterte am weißen, leicht nach außen gewölbten Porzellanrand hinauf, um von dort als zartgraue Säule aufzusteigen. Der Duft nach den Berghängen von Darjeeling breitete sich aus, vermischte sich mit dem kräftigen Aroma des im Kamin verglühenden Lorbeerholzes.
Lea entspannte sich, während sie einen Löffel voll Akazienhonig in die Teetasse tauchte. Obgleich das Aroma von Tee und das Kaminfeuer lauter gemütliche Bilder aufsteigen ließen, suchte sie nach einem ganz anderen Duft, den sie für immer mit Schnee und Blut in Verbindung bringen würde. Unbewusst wandte sie ihr Gesicht in Richtung Klavier, wo Adam saß und ein Stück von Gershwin spielte. Prelude Nr. 2 - wie passend. Während die eine Hand spielerisch über die Tasten tanzte, beschrieb die andere eine bedrohliche Melodie. Zwei Seelen in einer Brust. In Adams Brust...
Lea senkte verträumt die Augenlider, aber bevor eine sinnliche Fantasie Gestalt annehmen konnte, erklang ein falscher Ton. Ein grober Schnitzer. Dabei hatte Adam bei den letzten drei Stücken nicht ein Mal danebengegriffen.
Professor Carriere, der gegenüber von Lea im Sessel saß, blickte überrascht von dem Stapel Manuskriptseiten auf, den er bislang leise murmelnd überflogen hatte. Dann fuhr er sich mit der flachen Hand über das kurz geschorene Haar und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Ertappt griff Lea nach der Teetasse und verbarg ihr rot angelaufenes Gesicht hinter den Dampfschwaden. Als wäre sie nicht willensstark genug, um Selbstbeherrschung an den Tag zu legen. Sie hatte sich doch nur etwas treiben lassen wollen, ehe sie sich im Zeichen der allgemeinen Schicklichkeit erneut zusammenriss. Schließlich hatten die letzten Tage ihr ausreichend Gelegenheit geboten, sich im Zügeln ihrer Libido zu üben. Es war ihr auch gar nichts anderes übrig geblieben, denn Adam wich kaum noch von ihrer Seite und das Geständnis seines ausgeprägten Geruchssinns hatte sie nachhaltig beeindruckt.
Trotzdem gab es schwache Momente, besonders wenn sie nicht mit ihnen rechnete. Zum Beispiel wenn die Beine in eine mollige Decke eingewickelt waren, man dem Klavierspiel lauschte und Honig in den Tee tröpfelte. Demnächst gab es wahrscheinlich einen warnenden Klaps auf die Finger, begleitet von einem gezischten »Pfui, Lea!«.
»Professor Carriere, was passiert eigentlich, wenn Ihnen ... sagen wir mal ... eine Hand abgeschlagen wird?« Die Frage platzte regelrecht aus Lea heraus. »Wächst Ihnen dann automatisch eine neue nach, oder müssen Sie das abgetrennte Glied an den Stumpf halten, damit sie wieder zusammenwachsen können? Ich habe mir überlegt, dass der Dämon die im Dreck liegende Hand ja auch zurückschnellen lassen könnte. Eine Art magischer Gummibandtrick, so dass man den Körper eigentlich überhaupt nicht zerreißen kann.«
Der Professor blickte sie über den Rand seiner Brillengläser abwägend an. »Soll das eine ernst gemeinte Frage sein? Oder wollen Sie mich veralbern?«
Rasch bemühte Lea sich um einen ernsthaften und interessierten Gesichtsausdruck. Gleichzeitig lauschte sie dem Klavierspiel, das weiterhin gleichgültig dahinplätscherte. »Ausgesprochen ernst gemeint«, erwiderte sie, wobei sie einen Anflug von Zorn nur schwerlich unterdrücken konnte. »Es kann schließlich nur von Vorteil sein, wenn ich alles über den Dämon weiß, da ich meinem Schicksal ja doch nicht entkommen werde. Sie müssen wissen, Professor Carriere, dass ich unter einer lebhaften Fantasie leide. Das Wissen würde mir die Wartezeit erleichtern, die, wie es aussieht, lang werden wird. Zumindest aus menschlicher Sicht. In Ihrer Zeitrechnung bedeuten einige Jahre vermutlich nicht sonderlich viel.«
»Vielleicht sollten Sie Ihre Fragen lieber mit Adam diskutieren«, warf der Professor ausweichend ein und begann umständlich, den durcheinandergeratenen Papierstapel zu sortieren.
»Das würde ich ja gern. Aber leider weigert der sich, das Thema mit mir zu besprechen. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte: Adam weigert sich grundsätzlich, mit mir zu sprechen. Es ist schon elend schwer, ihm ein zustimmendes Murmeln abzuringen, wenn ich über den andauernden Schneefall klage. Also, wie ist es nun um abgeschlagene Hände, Blutrausch und das ewige Leben bestellt?«
Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte sie sich mehr und mehr auf dem Sofa aufgerichtet. Gemeinsam mit Professor Carriere blickte sie zum Klavier hinüber, aber Adams Finger glitten weiterhin unbeeindruckt über die Tastatur.
Professor Carriere räusperte sich, nachdem er den säuberlich zurechtgezupften Papierhaufen auf einem zierlichen Beistelltisch abelegt hatte. »Nun gut, Lea. Wenn Adam sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlt, werde ich sie selbstverständlich übernehmen. Ich kann Ihren Wissensdurst gut nachvollziehen. Wo wollen wir beginnen? Vielleicht beim zentralen Thema derVerwandlung? Das kommt ja schon bald auf Sie zu.Vorweg sollte ich vielleicht erwähnen, dass unsereins in der Lage ist, den Dämon in jeden beliebigen Menschen eindringen zu lassen. Der Unterschied besteht darin, dass die meisten Körper den Dämon nicht in sich beherbergen können. Sie zerfallen wie ein Haus, das von einem Tornado ergriffen wird. Einen Menschen auf diese Weise zu vernichten ist ein beliebtes Hinrichtungsritual. Lea schüttelte mit entsetztem Gesichtsausdruck den Kopf, besann sich aber augenblicklich eines Besseren, da sie den Redefluss des Professors keineswegs hemmen wollte. Der hagere Mann blickte sie wissend an. Wahrscheinlich wäre aus Professor Carriere niemals solch ein anerkannter Wissenschaftler geworden, wenn er sich vor der Erkenntnis gefürchtet hätte.
»Wenn der Dämon gewillt ist, ein neues Haus oder vielmehr einen Tempel zu beziehen, wird der Pakt mit einem Kuss besiegelt. Ein einzigartiger Akt der Verschmelzung ... Fragen Sie mich bitte nicht, warum er vonnöten ist. Aus irgendeinem Grund liebt der Dämon dieses Verführungsspiel, erst danach okkupiert er seinen neuen Besitz. Er zeigt sich gern in seiner ganzen Pracht. Und welcher Augenblick könnte dafür schon geeigneter sein? Wenn Adam Sie also geküsst hat, meine liebe Lea, bis Sie Wachs in seinen Händen geworden sind, wird ein weiterer Kuss folgen - ein Kuss des Blutes: Adam wird Sie dicht an seine Halsschlagader oder ans Handgelenk heranführen, während der Dämon Sie wie ein Liebhaber umarmt. In dem Augenblick, in dem Sie Adams Blut als das Geschenk eines neuen Lebens annehmen, werden Sie endlich eine der unsrigen sein, Lea. So, wie es das Schicksal für Sie vorgesehen hat.«
Während der Professor seine Rede mit klarer, gleichgültiger Stimme vortrug, hatte Adam die Melodie langsam ausklingen lassen und schlug nun scheinbar gelangweilt einzelne Tasten an. Allerdings verriet ihn seine Körperhaltung: Die Schultern waren ein Stück hochgezogen, sein linker Oberschenkel zuckte im Takt.
»Ich hätte dir eine geschicktere Provokation zugetraut, Etienne«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
»Warum sollte ich mich anstrengen? Schließlich habe ich recht«, entgegnete Professor Carriere gelassen. »Es ist armselig, wie du dich hinter deiner Schweigsamkeit verschanzt. Ehrlich gesagt, bin ich persönlich enttäuscht, dass du so wenig Haltung an den Tag legst.«
»Du würdest es also als ein Zeichen von Stärke ansehen, wenn ich einfach dem Drängen des Dämons nachgeben würde?«, fragte Adam nun deutlich aggressiver, so dass Leas Herz sofort schneller schlug.
Professor Carriere hingegen ignorierte Adams anschwellende Wut. »So weit brauchst du meinetwegen nicht zu gehen«, sagte er ruhig. »Ich fände es schon beeindruckend, wenn du Manns genug wärst, dich mit Lea auf der menschlichsten Ebene überhaupt auseinanderzusetzen: im Gespräch. Auf der einen Seite läufst du ihr wie ein dummer Schuljunge hinterher, andererseits weist du sie beständig zurück. Umgangssprachlich nennt man jemanden, der ein solches Verhalten an den Tag legt, wohl einen Schlappschwanz.«
Mit einem Satz war Adam auf den Beinen und funkelte den Professor zornig an.
Lea blieb fast das Herz stehen, so sehr erschreckte sie Adams ebenso unvermittelte wie raubtierhafte Reaktion. Mit einem Schlag war die eben noch behagliche Atmosphäre im Salon gekippt.Trotzdem riss sie sich zusammen und stellte sich etwas unsicher neben das Sofa.
»So ein alberner Machokram«, sagte sie. »Muss man dich wirklich bei deiner Männlichkeit packen, um dir eine Reaktion abzuringen?«
»Nein, muss man nicht«, knurrte Adam.
»Natürlich nicht! Und warum, bitte schön, fährst du dann so aus der Haut?« Ehe Lea ihrer Wut weiterhin Ausdruck verleihen konnte, wurde die Tür des Salons aufgerissen und schlug mit einem lauten Knall gegen die Wand.
Noch während Leas Kopf in Richtung Tür flog, versperrten ihr Adams breite Schultern den Blick: Mit einem Sprung hatte er sich vor ihr aufgebaut und sie aufs Sofa zurückgedrängt. Leicht vorgebeugt stand er nun da ... lauernd, zum Angriff bereit. Sie wäre nicht überrascht gewesen, wenn ein drohendes Knurren aus seinem Brustkorb aufgestiegen wäre.
Sein Blick folgte einer dunkelhaarigen Frau, die, ohne ein Wort zu verlieren, mit geschmeidigen Bewegungen dicht an der Wand entlang zum Klavier schritt. Dort nahm sie eine Körperhaltung an, als wappne sie sich gegen eine Attacke. Dabei behielt sie Adam fest im Visier. Nur kurz schaute sie Lea an: kühle, berechnende Augen, als studiere sie ein Objekt und keine junge Frau, die sie verwundert beobachtete.
Obwohl sich unter der eng anliegenden Kleidung der Unbekannten ein hagerer, wenn nicht gar knochiger Körper abzeichnete, strahlte er eine enorme Stärke und Zähigkeit aus. Lea hegte keinen Zweifel daran, dass diese Frau genau wusste, wie man seinen Körper als gefährliche Waffe einsetzte.
Doch weitaus mehr faszinierte Lea auf irritierende Weise ihr Gesichtsausdruck: Die Art, wie diese Frau Adam anstarrte, spiegelte Wiedererkennen ... gepaart mit einer unausgesprochenen Herausforderung. Auch wenn sich die Fremde darum bemühte, eine gleichgültige Miene zur Schau zu tragen, so war ihre aggressive Vorfreude nicht zu übersehen. Unwillkürlich dachte Lea an die Nacht, als sie Adam verletzt neben ihrem Bett vorgefunden hatte. Die Söldnerin, von der er gesprochen hatte, die ihn im Kampf schwer verletzt hatte
»Guten Abend wünsche ich allerseits«, unterbrach eine unangenehm nasale Stimme Leas Gedanken. »Eure Haushälterin war so freundlich, uns durch den Hintereingang einzulassen. Manchen Angestellten kann man einfach nicht genug zahlen, wenn es um Loyalität geht. Aber ich dachte mir, Sie wüssten einen dramatischen Auftritt zu schätzen, mein lieber Etienne.«
Im Gegensatz zu Adam hatte Professor Carriere sich keinen Zentimeter bewegt. Allerdings wich das Erstaunen in seinem Gesicht rasch einem Ausdruck von Verärgerung und - wie Lea beunruhigt feststellte - Unsicherheit. Das feine Zucken, das seine Mundwinkel umspielte, alarmierte sie mehr als Adams fiebrige Körperanspannung.
Professor Carriere wandte sich in Richtung Tür. »Adalbert, was soll ich sagen: Die Zeit ist nicht gut mit dir umgesprungen! Ich habe dich auf den ersten Blick gar nicht wiedererkannt.« Dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen, als wolle er Zeit schinden. »Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass etwas nicht stimmt, als Adam mir von dem überraschenden Zusammenstoß mit dieser Söldnerin erzählt hat.«
Ein schales Lachen erklang von der Tür. »Ich muss zugeben, dass die gute Truss bei dem Zusammenstoß mit deinem Freund hier ein wenig eigenmächtig, sogar unüberlegt gehandelt hat. Selbst die sorgfältigste Planung gerät in Gefahr, wenn zwei Raubtiere die Chance wittern, sich miteinander zu messen.«
Lea staunte über die Intensität des herablassenden Tons. Im Salon hatte sich eine bedrohliche Atmosphäre ausgebreitet, sie durchzog die Luft mit einer Vorahnung von Gewalt und Zerstörung. Mit einem Mal war Lea dankbar dafür, dass Adam sich schützend vor sie gestellt hatte. Denn in ihr keimte der Verdacht, dass es nicht mehr lange bei einem verbalen Schlagabtausch bleiben würde.
»Aber, ehrlich gesagt, kann ich Truss' Temperamentsausbruch nachvollziehen«, fuhr der Eindringling unterdessen fort. »Schließlich musste ich in den letzten Wochen eine enorme Selbstbeherrschung an den Tag legen, um Sie nicht einfach an einem der öffentlichen Plätze zu stellen, die Sie so sehr lieben. Und nun stehe ich hier - Etienne Carriere vor mir auf dem Präsentierteller.«
Die letzten Worte ließen Lea zusammenzucken, und die Beklemmung schnürte ihr die Atemluft ab.Vorsichtig ließ sie sich auf dem Sofa zur Seite sinken und erhaschte einen Blick auf eine bullige Gestalt im Türrahmen. Das aufgedunsene Gesicht des Mannes, das von einem feinen Netz unzähliger roter Narben übersät war, unterstrich die unterschwellige Gewalttätigkeit, die von seiner massiven Statur ausging. Die geschorene Glatze schimmerte schwach im Kaminlicht, genau wie die altmodischen Messingknöpfe an seinem Lodenmantel.
Im Schatten des Ungetüms verbarg sich eine Figur mit gebeugtem Rücken, die knochigen Hände ineinander verschlungen. Schwarze Murmelaugen hinter Brillengläsern, Hakennase und farbloses Strubbelhaar. Auch wenn die Gestalt klein und schwächlich wirkte, so funkelte etwas Verschlagenes in ihren Augen, das Leas inneres Alarmsystem leuchtend rot aufblinken ließ.
Obgleich dem hünenhaften Wortführer und seinem Schatten etwas Bedrohliches anhaftete, beunruhigte Lea die schweigsame Frau namens Truss am meisten. Deren unverhohlen aggressive Ausstrahlung in Verbindung mit dem Wort »unseresgleichen« verstärkte ihre böse Ahnung, dass Adam hier auf eine gefährliche Kontrahentin gestoßen war.
Adams Rückenmuskulatur zitterte vor Anspannung, doch offensichtlich siegte sein Beschützerinstinkt über die Kampfeslust, obwohl sie den Verdacht nicht abschütteln konnte, dass Adams Zurückhaltung nicht mehr lange andauern würde.
In diesem Moment deutete Truss eine Vorwärtsbewegung an, woraufhin Adam leicht in die Knie ging, als wolle er zum Sprung ansetzen. Dabei strahlte er eine derart erregte Energie ab, dass sich die Härchen auf Leas Unterarm wie elektrisiert aufrichteten. Doch da nahm Truss wieder ihre Ausgangshaltung ein, und ein kühles, wissendes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Es war lediglich ein Test gewesen -und zugleich ein Versprechen auf mehr.
Professor Carriere hüstelte und durchbrach somit die Anspannung. Elegant schlug er die Beine übereinander und zupfte den leichten Stoff seiner Hose am Knie zurecht. Auch auf seinem Gesicht lag nun ein Lächeln, gerade so, als wolle er beweisen, dass diese Provokation ihn nicht aus der Ruhe zu bringen vermochte. Aber Lea stellte nervös fest, dass sich das Lächeln nicht in seinen Augen widerspiegelte.
»Es freut mich, dass du so zufrieden mit dir bist, Adalbert. Schließlich wissen wir beide nur allzu gut, dass das nicht immer so gewesen ist. Was kann ich also für dich tun, damit du für deine Mühen, mir vors Angesicht zu treten, auch entsprechend entlohnt wirst?«
»Sie denken, ich will verhandeln? Wollen Sie mich beleidigen?« Die Stimme des mit Narben übersäten Mannes wogte vor Überheblichkeit. »Ich bin hier, um mir nach all der Zeit des Wartens und Verzweifeins meine Trophäe zu holen: den Kopf einer heruntergekommenen Kreatur, die viel zu lange schon den Boden beschmutzt, auf dem ich wandle. Meinen wortbrüchigen alten Herrn, der mich zur Sterblichkeit verdammt hat, nur weil ihm plötzlich in den Sinn kam, wie ein Mensch leben zu wollen. Ich habe Ihnen ausreichend Zeit geschenkt, damit Sie Ihre Menschlichkeit vervollkommnen können. Nun ist es an der Zeit, Sie zu richten, Etienne.«
In diesem Moment gab Adam ein Geräusch von sich. Ein kehliges Knurren, das Lea zutiefst erschreckte. Animalische Angriffslaute passten mit dem schweigsamen, zurückhaltenden Mann, als den sie ihn bislang kennengelernt hatte, kaum zusammen - trotz all der Gespräche über Blut und Triebe. Auch die klaffenden Wunden, mit denen er sie in jener einen Nacht aufgesucht hatte, waren niemals Anlass gewesen, sie zurückschrecken zu lassen vor dem, was er war. Sie hatte sich bis zu diesem Moment geweigert, darüber nachzudenken, was die Herrschaft des Dämons wirklich bedeutete. Sie hatte immer nur Adam sehen wollen, nicht seine dunkle Hälfte ...
Die Erkenntnis, dass Adam dieser Söldnerin in seiner Lust auf Kampf und Unterwerfung anverwandt war, traf Lea vollkommen unvorbereitet. Zum ersten Mal lud Adams Anblick sie nicht zum Schwärmen ein, sondern machte ihr bewusst, welche Macht in diesem unsterblichen Körper steckte.
»Keine Sorge, Kettenhund, ich habe dich nicht vergessen«, ging Adalbert eine Spur zu belustigt auf Adams Herausforderung ein. »Ich befürchte allerdings, dass die Dinge für dich nicht zum Besten stehen. Es sei denn, du kannst dich zweiteilen ... Aber ich vermute mal, dass du die junge Frau hinter dir nicht kampflos aufgeben wirst, bloß um dich mit mir zu messen? Erstaunlich, dass Etienne jemanden gefunden hat, der seine Perversion teilt. Ihr zwei seid wirklich ein seltsames Gespann: Anstatt dem Dämon zu huldigen, gebt ihr euch mit Sterblichen ab. Gerade so, als wären sie vom selben Rang!«
»So schmerzhaft es für dich sein mag, Adalbert«, unterbrach Professor Carriere Adalberts Redefluss, »ich habe mich damals auch mit dir abgegeben, obwohl du nur ein Mensch bist.«
Ehe Lea den Sinn dieser Worte vollends begreifen konnte, gellte ein Wutschrei durch den Raum, dem einen Sekundenbruchteil später ein atemloses Keuchen in ihrer unmittelbaren Nähe folgte.
Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie sich über die Augen. Etwas Funkelndes war durch die Luft geflogen. Als sie sich Professor Carriere zuwandte, sah sie, dass der kurze Griff eines Wurfmessers schräg in dessen Stirnplatte steckte. Während sie noch fassungslos zuschaute, wie der Professor nach einer kurzen Benommenheit mit den Fingerspitzen die Waffe betastete, griff Adam an.
Im letzten Moment umfasste er die blitzartig vorschnellende Truss, bevor sie sich auf Lea stürzen konnte. Es gelang ihr jedoch, Leas Schläfe mit ihren krallenartigen Fingernägeln zu ritzen. Lea schrie auf und blickte entsetzt in die gierig funkelnden Augen der Söldnerin, die von Adam weggerissen wurde. Gemeinsam stürzten die beiden Kämpfenden über die hohe Sofalehne, wobei Truss ein unmenschliches Fauchen ausstieß.
Diese Furie wollte sich auf mich stürzen!, schoss es Lea ungläubig durch den Kopf. Tatsächlich hatte Truss mit ihrem Angriff bis zu dem Moment gewartet, da Adam von Adalberts Provokation abgelenkt wurde.
Hinter dem Sofa erschallte ein dumpfes Poltern, als die beiden Ringenden auf dem Boden aufschlugen. Sofort gingen sie aufeinander los.
Unschlüssig kam Lea auf die Beine. Sollte sie fliehen, solange Adam diese Verrückte noch in Schach hielt? Doch sogleich meldete sich das schlechte Gewissen: Sie konnte sich doch unmöglich von dem verletzten Professor abwenden und ihn seinen Peinigern überlassen.
Zögerlich machte sie einen Schritt auf Carriere zu, der sich langsam das Messer aus dem Schädel zog. Plötzlich sprang der immer noch lautstark fluchende Adalbert nach vorn. Mit einem waagerecht ausgeführten Streich hieb er eine lange schmale Klinge in Professor Carrieres Hals.
Ehe Adalbert die Klinge herausziehen und erneut zustechen konnte, gelang es dem Professor, ihm einen Tritt gegen das Knie zu verpassen, woraufhin der schwere Mann einknickte und zur Seite fiel. Adalbert stöhnte vor Schmerzen auf und griff sich an sein verletztes Bein.
Mit einem vor Entsetzen kreidebleichen Gesicht blieb Lea vor Carriere stehen und blickte stumm auf die Klinge, die ihm mitten in der Kehle steckte. Seine Augen waren grotesk geweitet, während sie auf den wippenden Griff der Waffe gerichtet waren. Seine Wangen bebten, und er öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen. Stattdessen drang ein Schwall dunklen Blutes heraus, der ihm übers Kinn hinab auf die Brust lief.
Lea erstarrte. Alles an ihr fror bei diesem Anblick ein: Atem, Herzschlag, Gedanken. Sie registrierte nicht einmal, wie der Professor sich die Klinge mit einem satten Schmatzen aus der Kehle riss. Erst als Tropfen der Blutfontäne, die unter Hochdruck aus der Wunde herausschoss, ihre Lippen benetzten, setzten ihre Lebensgeister wieder ein: Sie schrie wie von Sinnen.
Währenddessen hieb Professor Carriere mit der Waffe nach Adalbert, der schwankend wieder auf die Beine gekommen war. Doch im entscheidenden Moment streifte seinen Arm ein zurücktaumelnder Adam, dem Truss gerade einen mächtigen Schlag verpasst hatte. Das Messer flog im hohen Bogen davon und fiel scheppernd auf den Boden.
Adam stieß mit dem Rücken gegen die Wand und glitt daran hinab. Das Haar hing ihm wirr ins Gesicht, die Wange war trotz der rasch anwachsenden Schwellung eingedrückt, und der Nasenrücken wies eine blutige Bruchstelle auf. Als er jedoch den Kopf anhob und seine Gegnerin am anderen Ende des Raums anvisierte, strahlten seine Augen ungebrochenen Kampfeswillen aus. Die Schmerzen schienen nicht zu ihm durchzudringen, genauso wenig wie die Gefahr, in der sie alle sich befanden.
Bei seinem Anblick wich Lea einige Schritte zurück, bis das Sofa sie zum Halten zwang. Dieser Mann mit dem wilden und gleichzeitig konzentrierten Gesichtsausdruck war ihr vollkommen fremd. Auf seinen Zügen spiegelte sich eine Rohheit, eine Freude an der Gewalt, die in ihr eine bislang unbekannte Furcht weckte. Was für ein Irrsinn! In einem Raum voller Monstren fürchtete sie sich am meisten vor dem Mann, den sie noch vor einigen Augenblicken für die Liebe ihres Lebens gehalten hatte.
Mit ungeahnter Schnelligkeit rappelte sich Adam auf und stürmte auf Lea zu. Entsetzt streckte sie die Arme vor, doch er durchbrach ihre Abwehr mühelos und riss sie mit sich zur Seite.
Einen Sekundenbruchteil später flog Truss wie ein Schatten an ihnen vorbei und landete beinahe lautlos auf dem Boden, nur ein leises Lachen auf den Lippen.
»Lass mich los!«, schrie Lea und versuchte, sich panisch aus Adams Umarmung zu befreien, doch der knurrte sie zornig an. Kurzerhand drehte er sie um die eigene Achse und presste ihren Rücken fest gegen seine Brust. Die Leichtigkeit, mit der er sie bezwang, war erschreckend.
Lea setzte bereits zur Gegenwehr an, als sie einen mächtigen Schlag verspürte, der ihren Körper wie ein Erdbeben durchfuhr. Erst einen Moment später begriff sie, dass nicht sie, sondern Adam getroffen worden war. Sie hatte lediglich den Aufprall zu spüren bekommen. Für einen Augenblick wich die Spannung aus Adams Körper, so dass er das Gleichgewicht verlor und zusammen mit ihr auf das Sofa fiel.
Bei dem Sturz stieß Leas Schienbein hart gegen die Holzumrahmung. Der Schmerz durchfuhr ihren Körper und ließ die unbezähmbare Furcht mit einem Schlag in Vergessenheit geraten. Wie sie anschließend unsanft in den Polstern landete, nahm sie schon gar nicht mehr wahr. Selbst Adams Gewicht, als er auf sie fiel, war für einige Atemzüge lang nichts imVergleich zu dem unerträglichen Pochen in ihrem Bein.
Adams Körper zuckte merklich zusammen, dann noch einmal. Es dauerte eine Zeit, bis Lea verstand, dass jemand heftig auf seinen Rücken einschlug. Truss setzte ihren Angriff fort. Im nächsten Augenblick wurde Adam von ihr fortgezerrt, und sie schnappte gierig nach Luft.
Mühsam rappelte Lea sich auf und zog die Beine an, während ihre Arme schützend den Oberkörper umschlangen. Entgegen ihrer Instinkte schloss sie die Augen und verbarg ihr Gesicht hinter den Knien. Schmerz und Entsetzen hatten sie in eine Ecke gedrängt, ihr den Lebensmut geraubt. Es war ihr gleichgültig, dass die Welt sich von einem Augenblick zum anderen in eine Hölle der Gewalt verwandelt hatte.
Um sie herum tobte der Kampfeslärm, schmerzverzerrtes Keuchen, Flüche und kehliges Gebrüll. Sie hörte unzählige Schritte, das Krachen umstürzender Möbel sowie das Geräusch reißenden Stoffes. Nein, nein, nein! Lea schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie wollte das alles nicht hören. Die Hölle hatte sich aufgetan, aber sie hatte damit nichts zu schaffen.
Plötzlich erklang ein unmenschlich hoher Schmerzensschrei und kündete von ungläubigem Entsetzen. Ihm folgte das Geräusch von zersplitterndem Glas, das Lea dazu brachte, zu den Fenstern in ihrem Rücken zu schauen. So konnte sie gerade noch sehen, wie Adam ihr einen von Gewalt trunkenen Blick zuwarf, den Blick eines Jägers, bevor er seine Beute niederstreckte. Von Truss war nichts zu sehen, Adamstand inmitten der Überreste des Salons vor einem aus den Angeln gerissenen Fenster, in dem der zerfetzte Vorhang wie eine vom Kriegstreiben zerstörte Fahne hing.
All das Grauen und die Gefahr hatten etwas in Adam geweckt, und dieses Etwas schenkte Lea nun ein erschreckend sinnliches Lächeln. Zu ihrem Entsetzen spürte sie, wie ein Teil von ihr zurücklächelte. Zum ersten Mal, seit sie diesen Mann getroffen hatte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass er ging und den Dämon in seinem Inneren mitnahm.
Adam blinzelte ihr zu und sprang dann katzengleich zum eingeschlagenen Fenster hinaus, der Fährte seiner Beute folgend.
Ein spitzer und gleichzeitig überraschter Schrei riss Lea endgültig aus ihrer Benommenheit. Professor Carriere war es gelungen, Adalbert in einem Zweikampf einen so heftigen Stoß zu verpassen, dass der massige Mann gegen die gemauerte Umrahmung des Kamins geprallt war. Ein weiterer Stoß sorgte dafür, dass Adalbert in das Feuer stürzte. Dabei fing sein Mantel Feuer. Adalbert brüllte, wälzte sich aus dem Kamin heraus und ließ seine Waffe fallen, um mit der Hand nach den Flammen zu schlagen.
»Maiberg!«, rief er wutentbrannt. »Mach, dass du herkommst, und hilf mir, du elender Feigling.«
Zu Leas Erleichterung blieb Maiberg im Türrahmen stehen, scheinbar unschlüssig, ob er es wirklich wagen sollte, seinem Herrn zu Hilfe zu eilen.
Der Professor nutzte die Auszeit, indem er sich gegen die Wand lehnte und verzweifelt Luft in die Lungen sog. Sein Gesicht war grau und blutleer, und er bebte am ganzen Körper vor Erschöpfung. Er wirkte auf einmal unendlich einsam.
Dieser Anblick reichte aus, um Lea wachzurütteln. Das Adrenalin jagte durch ihren Körper, so dass sich die Muskeln in Armen und Beinen anspannten. Im nächsten Augenblick fand sie sich neben dem Professor wieder.
»Halt dich bloß fern!«, fauchte Lea.
Kurz erwiderte Maiberg ihren Blick mit wild blinzelnden Augen, und sie glaubte, eine verschlagene Drohung in ihnen zu erkennen.
Lea schlang den Arm um die Hüfte des Professors, um ihn dazu zu bringen, dass Gewicht auf sie zu verlagern. Aber Carrieres Körper versteifte sich unwillig. Er versuchte sogar, ihr den Arm, der um ihre Schultern lag, zu entziehen.
»Mach, dass du hier rauskommst, Kind!«, sagte er mit einer beängstigend tonlosen Stimme. Dann stieß er sich von Lea ab und ließ sich in einen Sessel fallen. Doch ihm fehlte die Kraft, sich aufrecht zu halten. Langsam rutschte er von den Polstern hinab und blieb stöhnend auf dem Boden sitzen.
Bestürzt erkannte Lea, dass dem Professor ein Unterarm fehlte. Der Arm unterhalb des Ellbogens endete in einem dunkel verfärbten Hemdfetzen. Ihr Blick streifte suchend über den Boden, als sie bemerkte, dass Adalbert mittlerweile allein beim Kamin stand und seine vom Feuer verbrannten Hände begutachtete, während Maiberg wieder zur Tür schlich. Er hielt etwas an sich gedrückt, eine Beute, die er in Sicherheit bringen wollte.
Wut stieg in Lea auf, als sie den gekrümmten Rücken dieses Handlangers betrachtete. Maiberg hatte erst den sicheren Hafen verlassen, als er keine Gefahr mehr zu befürchten hatte. Und nun schaffte er etwas beiseite, das ihm gewiss nicht zustand. Das Tückische und Hinterhältige, das dieser Kreatur anhaftete, schürte in ihr das Verlangen, ihn zu stellen. Entschlossen setzte sie ihm nach, dass Kurzschwert fest umklammernd und zum Angriff ausgerichtet.
Im dunklen Flur hantierte Maiberg an einem großen fassartigen Metallzylinder, aus dem eine Spur von Nebel aufstieg. Unter die Achsel geklemmt hielt er etwas, das verdächtig nach Professor Carrieres abgeschlagenem Unterarm aussah.
Lea blieb wie angewurzelt stehen.
Als Maiberg sie bemerkte, tunkte er blitzschnell den abgetrennten Unterarm in das Fass und schleuderte mit seiner Hilfe einen Schweif von Tropfen in ihre Richtung. Intuitiv riss Lea den Schwertarm hoch, um abzuwehren, was auch immer da angeflogen kam. Zu ihrem Glück zielte Maiberg schlecht, so dass nur einige feine Tropfen ihren Weg in Leas Haare und auf Wange und Ohr fanden.
Augenblicklich setzte das Brennen ein, als hätte ein Funkenregen ihre Haut gestreift. Panisch wischte sie sich mit dem Ärmel über diebeißenden Flecken, wodurch sie jedoch nur die Fläche vergrößerte. Der Geruch verätzter Haut stieg ihr in die Nase und rief Übelkeit hervor.
»Rauchende Salzsäure!«, rief Maiberg triumphierend. »Falls du Drecksstück mir zu nahe kommen solltest, sorge ich dafür, dass dein ganzer Kopf im Fass landet.Versprochen!«
Mit diesen Worten drohte er Lea noch einmal mit dem tropfenden, bereits rot verätzten und mit Blasen übersäten Unterarm von Professor Carriere, so dass Lea einige Schritte rückwärts in die Dunkelheit taumelte.
Unschlüssig stand sie da, hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, Maiberg zu stellen, und der zurückkehrenden Furcht. Plötzlich tauchte der Professor wankend in der Tür auf. Erschöpft blickte er sie an, doch ehe er etwas sagen konnte, ertönte aus der Eingangshalle im unteren Geschoss das Bersten von zersplitterndem Holz. Unnatürliches Kreischen und das Geräusch brechender Knochen ließen ihn sichtbar zusammenfahren.
»Wie es sich anhört, sind unsere Kampfhunde zurück«, sagte Maiberg kichernd, als der Kampfeslärm davon zeugte, dass die beiden Gegner keinerlei Rücksicht mehr auf ihre Umgebung nahmen.
Bei dem Gedanken an einen Adam, der vor Mordlust vollkommen die Kontrolle über sich verloren hatte, zog sich Leas Magen krampfend zusammen.
»Sie sehen mächtig ramponiert aus, mein lieber Etienne«, äffte Maiberg den Ton seines Herrn Adalbert nach, von dem selbst keine Spur zu sehen war. »Warum bereiten Sie Ihrem Elend nicht ein Ende und springen in dieses Fass? Ich werde Sie gut verstaut darin mitnehmen, das verspreche ich Ihnen. Wäre nicht das erste Mal, dass ich einen von den Ihrigen in ein Fass stopfe. Jawohl! Das sollten Sie sich einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen, bevor Sie mir zu nahe kommen.«
»Ich sagte doch: Mach, dass du wegkommst, Mädchen«, wandte Professor Carriere sich mit rot unterlaufenen Augen an Lea, als sie -all ihren Mut zusammennehmend - mit ausgerichtetem Schwert auf Maiberg zuschritt. »Im Gegensatz zu Adam und mir bist du sterblich.«
»Oh, das sind Sie auch, mein Lieber«, mischte sich Maiberg mit wachsender Zuversicht ein. »Oder glauben Sie etwa, dass der Dämon sich dem Säurebad langfristig widersetzen kann? Ich kann Ihnen aus Erfahrung verraten, dass es sich nicht so verhält.«
Ehe Lea reagieren konnte, wiederholte Maiberg seinen Trick mit dem Säureregen, nur dass er Professor Carrieres Gesicht genau traf. Mit einem Ächzen fuhr sich der geschundene Mann über die Augen.Trotz des fahlen Lichts konnte Lea erkennen, wie sich ein dichtes Geflecht aus roten Flecken rasch auf der Haut auszubreiten begann. Dabei bemerkte sie nicht, wie ein irre grinsender Adalbert neben ihr auftauchte und ihr das nur noch lose umklammerte Schwert aus der Hand riss. Sie konnte zu keiner Abwehr ansetzen, denn er hieb längst mit dem Schwertgriff hart gegen ihre Schläfe. Augenblicklich riss der Schmerz ihr den Boden unter den Füßen weg, und während sie das Bewusstsein verlor, gellte ihr der eigene trockene Schmerzensschrei in den Ohren.
Lea kam wieder zu sich, als man sie auf den Rücken drehte. Sie schlug die Augen auf, aber alles war verschwommen. Jemand berührte sie, schickte sich an, ihr Gesicht zu streicheln. Voller Panik schlug sie wild um sich. Daraufhin wurde sie hart auf den Boden gedrückt, so dass ihr Schädel zu explodieren drohte. Sie registrierte einen Griff in ihrem Haar, und im nächsten Augenblick fürchtete sie, dass ihr sämtliche Haare samt Wurzeln ausgerissen würden. Doch der Griff lockerte sich sofort, als sie jede Gegenwehr einstellte.
»Du solltest dich jetzt besser einkriegen, verdammt!«, sagte Adam dicht an ihrem Ohr. Dabei klang seine Stimme wenig besänftigend. Es schwang eine aggressive Erregung mit, die Leas Angst schürte. In diesem Moment traute sie Adam alles zu. Und so ließ sie jeden einzelnen Muskel erschlaffen, um ihn nicht weiter herauszufordern.
Ihre Schultern umfassend, drehte Adam sie zu sich um und starrte sie eindringlich an. Lea musste sich zusammenreißen, um sich nicht wie ein kleines Mädchen zu winden. Sie schluckte mehrmals hintereinander, der Druck in ihrer Kehle ließ jedoch nicht nach. Adam erschien ihr mit einem Mal unerträglich fremd, sie fand keine Spur des Mannes wieder, der voller Konzentration Klavier gespielt hatte. Stattdessen blickte sie einem Dämon ins blutüberströmte Antlitz.
Eine klaffende Platzwunde zog sich von Adams Schläfe bis zu seinem Ohr. In einer Wange steckten Glassplitter, die allerdings wie von Geisterhand aus den sich schließenden Wunden rieselten. In seinem leicht geöffneten Mund glaubte sie, einige zersplitterte Zähne aufschimmern zu sehen. Ein beißender Geruch stieg von seinen zerfetzten Kleidern auf.
Aus dem Salon erklang ein Poltern, und Lea begriff, dass Adalbert und sein Gehilfe den verletzten Professor Carriere erneut durch den Raum jagten.
Adam leckte sich nachdenklich über die aufgesprungenen Lippen, während sich der Ausdruck auf seinem Gesicht unmerklich veränderte: Da mischte sich Besorgnis und Angriffslust mit einem dunklen Vergnügen. Was immer auch Adam mit den beiden Eindringlingen im Raum zu tun gedachte, er würde es nicht nur der Verteidigung halber tun. Es würde ihm eine tiefe Befriedigung verschaffen und ein Lächeln auf sein Gesicht zaubern. Es ist der Dämon in ihm, verstand Lea. Für ihn ist dieses Schlachtfest wahrscheinlich Gottesdienst und Festmahl zugleich. Und so, wie Adam sie gerade eben angestarrt hatte, war sie sich nicht mehr sicher, ob sich der Dämon mit nur zwei Opfern zufriedengeben würde.
Adam nahm eine lauernde Position ein, alle Muskeln und Sinne bis zum Zerreißen gespannt. Der Lärm und Adalberts siegessichere Stimme zerrten an seiner Geduld, als er Lea vom Boden hochzog und anherrschte: »Geh auf dein Zimmer und bleib dort. Truss ist irgendwo im Keller damit beschäftigt, sich wieder zusammenzusetzen. Ich habe also nur wenig Zeit, um mit diesen beiden Spinnern fertig zu werden und dann der verfluchten Söldnerin ein Ende zu bereiten. Los, geh jetzt!«
Obwohl Leas Beine ihr kaum gehorchten, taumelte sie an der Wand entlang in Richtung ihres Zimmers. Angst ließ sie Übelkeit und Schmerzen vergessen. Adam hatte sich von ihr abgewandt und wankte deutlich angeschlagen zum Salon, in dem Adalberts Jubelschreie
Kaum hatte Adam ihr den Rücken zugedreht, da machte Lea eine Kehrtwende und lief die Treppe hinunter. Das Herz pochte ihr bis zum Hals und ihre Zunge rieb unablässig gegen den Gaumen. Keine Sekunde länger würde sie in diesem Haus mit seinen verfluchten Gestalten bleiben. Nichts würde sie dazu bringen, in einem Zimmer darauf zu warten, dass Adam sie aufsuchte, die Mordlust noch lebendig in seinen Augen funkelnd. Sie würde auf die Straße laufen und losrennen - fort von diesem Wahnsinn, fort von dieser Orgie der Gewalt. Wie um sie anzutreiben, erschallte von oben Adalberts gepeinigtes Schreien, und Lea wäre vor Hast beinahe über die letzten Treppenstufen gestürzt.
In der Eingangshalle bot sich ihr der Anblick totaler Verwüstung. Die edle Seidentapete wies meterlange Kratzspuren auf, als hätte jemand versucht, sich daran festzuhalten, während er weggezerrt wurde. Das mit kostbarem Porzellan gefüllte Büffet war umgestoßen und zerborsten. Die Kristallvasen, die Lea immer so bewundert hatte, bildeten nun einen glitzernden Scherbenteppich. Als habe ein Tornado gewütet und nichts an seinem angestammten Platz gelassen.
Vorsichtig tastete sie sich ihren Weg um alle Hindernisse herum, um bei der aus den Angeln gerissenen Eingangstür noch einmal stehen zu bleiben und zurückzuschauen. Ein Fehler, wie sie sogleich erkannte. Denn in diesem Moment schwang die angelehnte Kellertür am Ende des Flurs auf, und eine vollkommen zerschundene Truss kroch schlangenartig aus dem Keller. Die Hälfte ihrer Haare waren vom Schädel gerissen worden, das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Obwohl sie Lea aus den verschwollenen Augen kaum erkennen konnte, richtete sie den Blick auf sie, und Lea sah, wie ihre Nasenflügel, ein zerschlagener Haufen Knorpel, bebten.
Sie wird mich jagen, schoss es Lea durch den Kopf. Im Augenblick mag sie nur ein Haufen Fleisch und Knochen sein, aber sie wird sich rasch wieder erholen. Vielleicht setzt sich gerade in diesem Augenblick ihre Wirbelsäule neu zusammen oder die gebrochene Kniescheibe.
Wie um ihre Befürchtungen zu bestätigen, stemmte sich Truss auf alle viere und kroch schwerfällig auf Lea zu. Mehr Beweise benötigte Lea nicht. Völlig von Sinnen stürzte sie aus der Villa und rannte um ihr Leben.
Lea konnte nicht sagen, wie lange sie schon gelaufen war. Dem Brennen in ihrer Lunge und der Schwere ihrer Beine nach hätte sie die Stadt längst hinter sich gelassen haben müssen. Stattdessen umgaben sie immer noch restaurierte Villen. Erschrocken stellte sie fest, dass sie mehr taumelte als lief.
In der frischen Schneeschicht, die Gehwege und Straßen bedeckten, waren weit und breit keine Spuren außer Leas Fußabdrücken zu entdecken. Kein Mensch war in dieser dunklen Nacht auf der Straße unterwegs. Wahrscheinlich saßen alle wodkaselig vereint vorm Fernseher und genossen einen Volksmusikabend.
Sie hatte nicht die geringste Idee, wie sie sich in Sicherheit bringen konnte. Sollte sie an eine der Türen klopfen, bis jemand öffnete? Aber wer würde sie einlassen, wo sie doch kaum in der Lage war, einen Satz in dieser fremdartigen Sprache zustande zu bringen? Außerdem kümmerten sich die Menschen in dieser Gegend nicht um fremde Angelegenheiten. Adam und Truss hatten in ihrem Kampfrausch das halbe Haus zerstört, und trotzdem hatte offenbar niemand die Polizei gerufen. Und selbst wenn sie in eins der Häuser eingelassen werden würde, welchen Schutz konnte ihr eine Holztür vor der drohenden Gefahr bieten? Sie musste fort, nur Distanz brachte Sicherheit.
Vor dem schmiedeeisernen Tor eines hinter hohen Mauern verdeckten Anwesens blieb Lea kurz stehen, um nach Luft zu schnappen. Bevor sie sich versah, knickten ihre Beine ein, und sie fand sich hilflos, von Seitenstichen gepeinigt, im Schnee kauernd wieder. Nach einer Weile rappelte sie sich auf, eine Hand gegen die schmerzenden Rippen gepresst, und wankte erneut die Straße entlang. Als sie endlich eine Kreuzung mit einer größeren Querstraße erreichte, stiegen ihr Tränen in die Augen. Auch wenn bei Nacht und durch den Schnee alles gleich aussah, wusste sie nun ungefähr, wo sie sich befand: Sie hatte lediglich ein paar hundert Meter Abstand zwischen Professor Carrieres Haus und ihren entkräfteten Körper gebracht. Nicht annähernd weit genug.
Plötzlich tauchten die Lichter eines Wagens vor ihr auf, der leicht schlingernd auf der verschneiten Straße auf sie zukam. Augenblicklich keimte Hoffnung in Lea auf und gab ihr einen Energieschub, den sie eben noch für unmöglich gehalten hätte. Sie sprintete los.
In diesem Moment fühlte sie, wie etwas sie von hinten zu greifen versuchte und sie um Haaresbreite verfehlte. Sie hörte ein frustriertes Keuchen, gefolgt von einem Knirschen, das ihren Körper mit einer Gänsehaut überzog. Doch es scherte sie nicht, was hinter ihr in der dunklen Gasse geschah. Sie hatte nur noch Augen für das herannahende Auto.
Mehr fallend als rennend, erreichte sie endlich die breite Querstraße, wedelte wie wild mit den Armen und stürmte schreiend auf den Wagen zu. Die Bremsen des alten VW wurden voll durchgetreten, er drehte sich um die eigene Achse und kam rumpelnd kurz vor ihr zum Stehen. Die Fahrertür ging auf, und der Oberkörper eines dick vermummten Mannes tauchte auf. In dem rot glänzenden Gesicht prangte unter einem Schnauzbart ein gut gelauntes Lächeln. Er rief Lea etwas zu, das sie nicht verstand, aber das war ihr herzlich egal. Sie riss die hintere Tür auf und blickte auf eine Rückbank, die mit drei stämmigen Männern restlos überfüllt war. Eine Wolke aus Alkohol und Zwiebeln schlug ihr entgegen, begleitet von Lachen.
Lea zögerte einen Moment.
Dann hörte sie jemanden ihren Namen rufen.
Adam rief ihren Namen.
Mit einem Satz sprang Lea auf den Schoß von einem der Männer und zog die Tür hinter sich zu. Das sofort einsetzende Gegröle ignorierend, schrie sie dem Fahrer etwas zu, dass hoffentlich »Beeilung« hieß.
Der Fahrer lehnte immer noch zur Tür hinaus, aber mit einem Mal verging ihm das Lachen. Lea wollte gar nicht wissen, was er wohl gesehen hatte, sondern brüllte ihn einfach weiter an. Mit ungeahnter Schnelligkeit zog der Mann die Tür zu, legte einen Gang ein und trat so heftig aufs Gas, dass die Räder im Schnee durchdrehten. Es kostete ihn sichtlich Beherrschung, den Fuß ein wenig zurückzunehmen und die Kupplung langsam kommen zu lassen. Dann endlich fuhr der Wagen an, beschleunigte zu Leas Erleichterung zunehmend und ließ die dunkle Seitengasse zurück.
Regungslos starrte Lea auf den Hinterkopf des Fahrers und zwang sich dazu, keinen letzten Blick zurück in die Dunkelheit zu werfen. Es war ihr gleich, dass dort draußen irgendwo ihr Name gerufen wurde. Sie war entkommen.