23. Der Kollektor

Das Rauschen des unterirdischen Flusses hatte Leas Hörgänge vollständig geflutet. Erschöpft hatte sie ihren Kopf auf Adams Brust gebettet, die Augen auf die eigenen Fingerspitzen gerichtet, die über seine nackte Haut streichelten. Nach und nach war ihr Blick verschwommen, und sie hatte sich nicht dagegen gewehrt, in den Schlaf zu gleiten. Darauf vertrauend, dass Adam sie wecken würde, sobald er wieder bei Bewusstsein war. Bis dahin wollte sie nichts mehr von der Welt mitbekommen.

»Es wird gewiss nicht gut ausgehen für die kleine Lea, wenn sie noch länger auf dem kalten Steinboden liegen bleibt. Ist bislang nur ein ungefüllter Kelch, nicht wahr? Das rechte Behältnis für den Beherrscher, aber leer. Schutzlos. Zerbrechlich. Dieser Käfig ist nicht für sie gemacht, aber wo könnte sie wohl sonst untergebracht werden? Eine delikate Frage. Und doch gilt es nichts zu überstürzen.« Die Stimme schien ganz gefangen von den Fragen, die sie sich selbst stellte. Sie war ausdrucksstark und gleichzeitig so sanft wie ein melodiöser Singsang, der sich aufs Schönste mit dem Wasserrauschen verband. Sie erklang aus weiter Ferne, leicht gedämpft, gefolgt vom eigenen Nachhall an den Höhlenwänden.

Einen Augenblick lang ließ Lea sich noch treiben, dann sann sie über die eben gehörten Worte nach. Die Stimme hatte recht, was die Kälte des Steinbodens anbelangte, auf dem sie nun schon so lange lag. Aber warum gegen die eisige Taubheit in den Gliedern ankämpfen, wenn sie bei Adam liegen konnte? Schließlich hatte man ihr die Macht über das eigene Schicksal geraubt, als man sie in diese Höhle geworfen hatte. Ihr Liebster war nur eine leere Hülle, und sie fühlte sich schrecklich allein.

Plötzlich spürte sie ein leichtes Beben unter sich:Adam hatte sich gerührt, seinen Körper in eine andere Position geschoben und dabei einen Arm um sie gelegt. Mit einem Schlag waren alle trüben Gedanken fortgewischt.

Auch jemand anderem waren die ersten Anzeichen, dass Adam wieder zu sich kam, nicht entgangen. »Ja, allmählich wacht unser Tiger auf. Der Kollektor ist sehr gespannt, ob ihm sein neues Zuhause gefallen wird. Ewiges Dämmerlicht, Felsen anstelle eines Dickichts. Ob er sich an die Mauern wird gewöhnen können?«, fragte sich die Stimme verträumt, um dann sogleich mit unverstellter Härte fortzufahren: »Gewiss nicht. Zuerst wird er die Krallen ausfahren und versuchen, die nackten Wände hinaufzuklettern, er wird brüllen und knurren, und irgendwann wird er in dieser Zelle innerlich zerbrechen. Sinnlos hin- und herlaufen wird er, von einem Ende der Höhle zum anderen.

Traurigkeit sang in der Stimme mit, aber auch die Erregung eines Kindes, das etwas Verbotenes tut, obwohl es weiß, dass Tränen und Reue folgen werden. Doch was soll man dagegen tun?, schien sie zu fragen. Manche Dinge folgen nun mal ihrer eigenen Bestimmung.

»Der Kollektor wird es kaum ertragen können, so viel steht fest. Dieser Tiger lässt sich nicht durch einen Gnadenschuss niederstrecken, o nein. Für diesen Tiger gibt es kein Entkommen, nicht aus diesem Käfig. Deshalb wird der Kollektor ihm auch die Ehre erweisen und ihm besonders viel von seiner wertvollen und so schrecklich knapp gewordenen Zeit widmen und ihn beobachten, solange er noch ein echter Tiger ist. Der Kollektor wird zuschauen und den Kern seines einzigartigen Wesens genießen.«

Mit steifen Bewegungen und ein wenig widerwillig löste Lea sich von Adam und blinzelte hinauf in das Scheinwerferlicht.

Oben auf dem Vorsprung hatte eine Gestalt in einem Regiestuhl Platz genommen und wedelte sich mit einem spanischen Fächer Luft zu, als wolle sie die ruhende Kälte durcheinanderwirbeln. Als die Gestalt sich ihrer Aufmerksamkeit bewusst wurde, ließ sie den Fächer dramatisch mit einem Knall zuschnappen und schlug ihn dann rhythmisch in die mit Handschuhen bekleidete Handinnenfläche. Gebannt verfolgte Lea dieser Bewegung eine Zeit lang, ehe ihr Blick auf das Gesicht der Gestalt fiel.

Obschon es überwiegend im Schatten lag und von überlangen goldfarbenen Haarsträhnen verdeckt wurde, bemerkte sie sogleich, dass etwas nicht stimmte. Ihr Verstand versuchte, die von den Augen gesendeten Informationen umzusetzen, sie zu erfassen, doch er griff immerzu ins Leere. Schließlich tastete er sich an das Gesehene heran, so als könnte eine behutsame Umschreibung des Unmöglichen es irgendwie erträglicher machen: Der Großteil des Gesichts gehörte einem wunderschönen jungen Mann, der eben erst die letzten Schalen von kindlicher Weichheit abgestreift hatte. Die Züge verrieten mädchenhaft bewimperte Augen, einen Schmollmund, anmutig geschwungene Wangenknochen und eine Himmelfahrtsnase ... oder zumindest das, was davon noch übrig geblieben war. Denn eine Ader der Zerstörung hatte das Nasenbein vernichtet sowie die einstige Anmut des Gesichts mit daumendicken Spuren zerfallenden Fleisches ins Gegenteil verkehrt. Als hätte jemand einen Pinsel mit grauer Farbe kreuz und quer über eine Leinwand geführt und damit den makellosen Grund ruiniert. Eine mit Fäulnis und Tod behaftete Marmorstatur, ein für immer verwüstetes Kunstwerk.

Ein Geschöpf Frankensteins, schoss es Lea durch den Kopf. Jemand hatte eine Assemblage aus einem Schönling in der Blüte seines Lebens und eines bei lebendigem Leibe verfaulenden Greises erschaffen. Der Kollektor, wie diese Gestalt sich selbst zu nennen schien, war ein wandelndes Mahnmal für alles Vergängliche.

Als eine goldene Haarsträhne zur Seite glitt und ein totes, eingefallenes Auge offenbarte, zuckte sie angewidert zusammen.Während sie einerseits von der noch offenkundigen Schönheit gebannt war, verursachte ihr andererseits das verrottete Fleisch eine Gänsehaut. Ihr Schauern richtig einschätzend, schürzte die Gestalt die sinnlichen Lippen, deren Konturen vollkommen unversehrt waren und den bizarren Eindruck des Gesichts schmerzlich betonten. Lea wäre nicht überrascht gewesen, wenn plötzlich eine Made aus dem Mund herausgekrochen wäre.

»Braucht sie gar nicht so zu schauen, das alberne Ding«, sagte der Kollektor schnippisch und zeigte mit dem Fächer auf sie. »Hat sie vielleicht noch alles vor sich, wer kann es schon wissen? Blut singt zu Blut, wie wahr - aber manchmal singt es auch eine Lüge. Gierig ist es und zu schön, um immer wahr zu sein. Wer weiß es schon genau?«

»Akinora vielleicht?«

Adams Stimme war heiser und kaum hörbar. Obwohl die Worte ins Schwarze getroffen zu haben schienen, so reagierte Adam - seinem Zustand nach zu urteilen - eher auf ein Stichwort, als dass er wirklich Schlüsse aus den Worten des Kollektors gezogen hätte. Mühsam setzte er sich auf und wäre beinahe vornübergekippt, wenn Lea ihn nicht im letzten Moment gestützt hätte. Als seine Augen sich nach oben verdrehten, schloss er die Lider.

Panisch bohrte Lea ihre Fingernägel in Adams nackte Schultern und flüsterte ihm eindringlich ins Ohr: »Bleib wach. Bleib bei mir.«

Wackelig zog Adam die Knie an und begann am ganzen Leib zu zittern. »Mir ist speiübel«, antwortete er so leise, dass sie Mühe hatte, ihn zu verstehen.

Am liebsten hätte sie ihn an sich gerissen und mit Küssen bedeckt, so erleichtert war sie, ihn wieder bei sich zu haben. Schließlich war einangeschlagener Adam tausend Mal besser als ein bewusstloser. Das bisschen Übelkeit würde sicher rasch verfliegen! »Das wundert mich gar nicht nach den vielen Ampullen Beruhigungsmittel, die Adalbert dir verpasst hat«, sagte sie gedankenlos, während sie ihm den Nacken streichelte.

Bei dem Namen Adalbert riss Adam ruckartig den Kopf hoch, was er jedoch sofort bereute. Mit schmerzverzerrtem Gesicht tastete er vorsichtig den Hinterkopf ab, als vermute er, dort auf einen faustdicken Krater zu stoßen.

»Wo, zum Teufel, sind wir hier?«

»So wie es aussieht, hast du tatsächlich den großen Unbekannten gefunden - nur anders als geplant. Wenn du mich fragst, sitzt dort oben der geheimnisvolle Sponsor von Akinora«, sagte sie. Zärtlich legte sie ihm einen Arm um die gebeugten Schultern, zog ihn aber augenblicklich zurück, als Adam geräuschvoll zu würgen begann.

Die Zeit verstrich, doch Adam ging es nicht besser.

»Adam, hör mir zu. Schatz, bitte! Wir sitzen in einer verfluchten Höhle fest, und dort oben führt ein grotesker Zombie Selbstgespräche. Ich weiß, es geht dir im Moment nicht gut, doch du solltest dich jetzt wirklich zusammenreißen, okay?«, versuchte sie, ihn zu motivieren.

Er warf ihr lediglich einen beredten Blick zu, bevor es ihn erneut würgte.

Hilflos kauerte sie an seiner Seite, außerstande ihm zu helfen. Gerade als sie ihm anbieten wollte, die rosafarbene Narbe an ihrem Hals, die von Macavitys Biss erzählte, erneut zu öffnen, ließ die Übelkeit nach. Adam blinzelte die Tränen aus den Augen und leckte sich die geschwollenen Lippen. Lea schenkte ihm ein unsicheres Lächeln, das er schwach erwiderte.

»Hallo, dort unten, wie wäre es mit ein wenig Aufmerksamkeit? Schließlich hat der Kollektor hier etwas Leckeres für unser liebes Lea-Kätzchen.« Die Gestalt deutete mit der behandschuhten Hand auf ein geschnürtes Bündel. Dabei beugte sie sich gefährlich weit über den Vorsprung, um das Geschehen auf dem Grund der Höhle besser beobachten zu können.

Sie fühlte sich wie eine elende Verräterin, dennoch klebte Leas Blick an dem Bündel. Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass sie seit dem Frühstück am See nichts mehr gegessen hatte. Was auch immer es zum Inhalt haben mochte, es würde sich in ihrem Magen gewiss gut anfühlen. Blieb nur zu hoffen, dass der Kollektor von ihr als Gegenleistung kein Schnurren erwartete. Denn sie wollte nur ungern den spärlichen Rest von Würde, der ihr in diesem Käfig geblieben war, in Adams Anwesenheit einbüßen. »Ich hoffe, es sind keine Fischköpfe«, sagte sie deshalb betont gleichmütig.

»Kein Interesse an diesem Angebot? Wie schade«, sagte der Kollektor heuchlerisch. Er hatte sich kerzengerade aufgesetzt und betrachtete die Szenerie vor ihm in der Tiefe wie ein römischer Kaiser, der sich noch nicht genug auf Kosten der Todgeweihten amüsiert hatte.

»Was für ein Spiel soll das denn sein?«, fragte Adam unvermittelt mit gepresster Stimme und unterbrach damit den Schlagabtausch. Offensichtlich hatte er gerade erst festgestellt, dass er keinen einzigen Faden am Leib trug. In all der Aufregung war Lea dieser Umstand schon ganz normal vorgekommen.

»Braucht er sich nicht zu beklagen, schließlich trägt er doch ein Fell.« Der Mund des Kollektors verzog sich zu einem Lächeln, dabei betastete er ängstlich mit den Fingern einen morschen Wangenknochen.

Zuerst blickte Adam irritiert drein, dann genervt. Mit einer geschmeidigen Bewegung, die noch vor einigen Minuten unmöglich gewesen wäre, kam er auf die Beine, legte den Kopf in den Nacken und stierte die Gestalt abwartend an.

Der Kollektor ließ den Fächer wieder aufschnappen.

Immer schön fächeln, dachte Lea gehässig. Vielleicht kühlt sich die Luft dadurch noch weiter ab, und bei diesem Zustand ist die konservierende Wirkung von Kälte sicherlich nicht das Verkehrteste. Trotz ihrer Abneigung befürchtete sie, dass sich der Kollektor erheben und fortgehen könnte. Ganz gleich, wie erniedrigend es auch sein mochte, seinen neugierigen Blicken ausgeliefert zu sein, so war das gewiss besser, als ohne jegliche Antworten in dieser Höhle festzusitzen.

Nachdem der Kollektor eine Weile seinen Gedanken nachgehangen hatte - wobei er jegliches Mimikspiel auf ein Minimum reduzierte -, sagte er schließlich: »Normalerweise beschränkt sich der Kollektor auf das Beobachten von Objekten. Die Situation hier ist demnach recht befremdlich, nicht wahr? Was soll der Kollektor nur von seiner Person halten, wenn er plötzlich anfängt, mit den Objekten zu sprechen, ha! Verrückt, vollkommen verrückt!« Er stieß ein freudloses Lachen aus und lauschte einenAugenblick lang dem Echo, das dem Lachenfolgte. »Aber was nutzt all die Aufregung, denn es ist längst entschieden. Das Blut ist hier, der Forscher fort, die Zeit fliegt uns davon. Nein, es ist nicht zu leugnen: Wir steuern auf ein Finale zu!«

Lea erkannte nun, worin die Verbindung zwischen dem Kollektor und dem Genforscher Akinora bestand. Wonach sich der Kollektor so dringlich sehnte, verriet sein von einer missglückten Verwandlung entstelltes Gesicht: Der Dämon hatte seinen Tempel nicht vollständig bezogen, deshalb lag der menschlich gebliebene Teil des Kollektors im Sterben.Wie lange sich dieser einst makellos schöne Mann wohl der ewigen Jugend sicher gewähnt hatte, ehe ihm der Betrug des Dämons bewusst geworden war? Nur einen Augenblick oder ein halbes Leben lang?

Kein Wunder, dass Adalbert in dem Höhlenlabyrinth des Kollektors ein Zuhause gefunden hatte: Die beiden Außenseiter verband wahre Seelenverwandtschaft, denn beide waren sie erfüllt von der Sehnsucht nach dem Dämon und der Wut darüber, dass er sie abwies. Nun, was die Sehnsüchte des Handlangers Maiberg anbelangte, der sich stets in Adalberts Schatten verbarg, so wollte Lea das lieber nicht so genau wissen.

Während sie langsam neben Adam trat, ließ sie sich die Worte des Kollektors durch den Kopf gehen. Akinora musste seinem Geldgeber gegenüber etwas angedeutet haben. Vielleicht dass er den Schlüssel, um den Dämon erfolgreich in einen Körper einkehren zu lassen, so gut wie in den Händen hielt. Doch dann waren Akinora und mit ihm die Lösung des drängenden Problems plötzlich verschwunden, und der Kollektor hatte seine Meute von der Leine gelassen, um sich zumindest einen Teil der Beute zu sichern.

Interessante Objekte für seine Sammlung ... das waren Adam und seinesgleichen also für den Kollektor. Lauter faszinierende Einzelstücke, denn - so viel hatte selbst sie mittlerweile begriffen - ein jeder von ihnen stand für eine einzigartige Eigenschaft. Der Kollektor schnappte sich mit einem Kescher die schönsten Exemplare aus dem Nachtfalterschwarm und sperrte sie in dieses Höhlenlabyrinth ein, wo er sie jederzeit ausgiebig betrachten konnte. Das erklärte auch das Konzert aus verschiedenen Dämonenstimmen, die sie auf dem Weg in ihr Gefängnis eingekreist hatte: Die Sammlung des Kollektors war offensichtlich recht umfangreich.

Während Lea bei der Vorstellung von unzähligen Höhlenkerkern und ihren halb wahnsinnigen Insassen erschauerte, hielt Adam den Blick unverwandt auf die Gestalt geheftet. Die senkrechte Falte zwischen seinen Augen grub sich mit jedem Augenblick tiefer ein. »Wie hat Megan dich gefunden?«, durchbrach er schließlich die Stille.

Ein zufriedener Ausdruck breitete sich auf dem entstellten Gesicht des Kollektors aus. Dann stieß er ein glockenhelles Lachen aus, das fremd durch die Höhle hallte. »Ja, man kann sagen, dass sie iemand auf die richtige Spur gesetzt hat. Ein schlauer Jäger, der genau

wusste, was er tat. Die Sklavin Megan brauchte also nichts weiter zu tun, als den einmal beschrittenen Weg zu Ende zu gehen. Es war einegroße Überraschung, als sie plötzlich an die Tür des Kollektors klopfte. Nun, zumindest führte sie eine hervorragende Visitenkarte mit sich: blutgetränkt, mit einem Tiger darauf, wenn er versteht?«

Einen Moment lang zögerte der Kollektor, dann stieß er mit der Schuhspitze gegen das Bündel, so dass es mit einem dumpfen Knall auf dem Grund der Höhle aufschlug. Ohne zu zögern, hob Adam es auf und überreichte es Lea. Es enthielt neben einigen Nahrungsmitteln, wie Früchteriegeln, Keksen und einer eingeschweißten Lammfleisch-Salami, auch eine Isomatte und einige Kleidungsstücke.

Während Adam in eine dunkle Pyjamahose und ein Longsleeve schlüpfte, versuchte Lea krampfhaft, eine eigene Theorie über den Hintergrund ihrer Entführung aufzustellen, doch ihr knurrender Magen machte ihr einen Strich durch die Rechnung: ohne Brennstoff keine Leistung. Punkt. Sie riss eine Packung auf und stopfte sich eine Handvoll Haferkekse in den Mund.

»Die Sklavin Megan möchte sehr gern zu ihrer alten Herrin zurückkehren, der wundersamen Netzspinnerin Pi«, sagte der Kollektor mit einer Anmut, als rezitiere er ein Gedicht. »Pi ist ein reizvolles Gesamtkunstwerk: ein Ort, eine Strategie - wunderbar zu beobachten. Dazu muss eins gesagt werden: Der Kollektor ist bei seinen Forschungen äußerst bedacht, weshalb er ein Objekt nur dann aus seinem natürlichen Umfeld entfernt, wenn seine Einzigartigkeit dadurch nicht beschädigt wird. Ansonsten begnügt er sich damit, es aus der Ferne zu beobachten - eine anspruchsvolle, aber reizvolle Aufgabe.«

»Deshalb sperren Sie Adam wohl auch in dieses unterirdische Wildgehege ein.« Lea ignorierte den irritierten Blick, den Adam ihr von der Seite zuwarf. Stattdessen wandte sie sich voll dem Kollektor zu. Gleichzeitig hoffte sie, dass die Kekskrümel an ihrem Kinn ihren mutigen Auftritt nicht schmälerten. »Sie haben doch eben selbst gesagt, dass er hier unten zugrunde gehen wird. Einen natürlichen Jäger einzukerkern muss demnach gegen Ihre Vorsätze verstoßen.«

Der Kollektor nickte bedächtig. Offensichtlich hatte er gegen einen Disput unter Liebhabern nichts einzuwenden. »Normalerweise hätte der Kollektor ja auch keinerlei Interesse daran gehabt, wenn sich nicht dieses spektakuläre Gesamtgebilde ergeben hätte! So stellt es sich aber nun einmal dar. Natürlich würde er das Raubtier nur zu gern beim Jagen beobachten ...«

»Könnten wir uns wieder Megan zuwenden?«, unterbrach Adam die sich entspinnende Diskussion gereizt. Der ständige Vergleich mit einem Raubtier schien ihn peinlich zu berühren. Die geröteten Wangen und der unstete Blick verliehen diesem sonst so beherrschten Mann einen Hauch von Unschuld, der Lea berührte. »Megan hat uns beide also ans Messer geliefert, weil sie die Gunst von Pi zurückkaufen will. Das verstehe ich doch richtig?«

Der Kollektor nickte. »Ein einfaches und einträgliches Geschäft: Die Sklavin Megan möchte sich zum Mittler aufschwingen und der Spinne die Nachricht überbringen, dass der Kollektor sie nicht seiner Sammlung einzuverleiben vorhat. Diese Nachricht wäre allem Anschein nach eine wahre Wohltat für die arg strapazierten Nerven ihrer Herrin. So zumindest hat sich das unsere gemeinsame Freundin Megan so gedacht ...«

»Wartet Megan noch auf deine Erlaubnis, aufzubrechen?«

Erneut nickte der Kollektor. Sein lebendiges Auge funkelte, und Lea drängte sich der Verdacht auf, dass der Wunsch des Kollektors, Adam bei der Jagd zu beobachten, nun doch noch erfüllt wurde.

Adam zupfte sich nachdenklich an der Unterlippe, aber sie hatte den Eindruck, dass er nur vortäuschte, sich die Situation gründlich vor Augen führen zu müssen. Wahrscheinlicher war es, dass sowohl Adam als auch der Kollektor längst wussten, wohin diese Unterhaltung führen würde. Beide tasteten sich vorsichtig an den Kern der Sache heran, um ihr Gegenüber besser abschätzen zu können.

»Ich würde einmal behaupten, dass sich die gute Megan da in eine ungünstige Situation manövriert hat«, sagte Adam, als denke er lediglich laut nach. »Schließlich ist sie mit dem Beweis an dich herangetreten, dass Verrat kein Hindernis für sie ist, wenn sie etwas unbedingt erreichen will.Von einer verlässlichen Partnerin erwartet man kaum, dass sie einen ans Messer liefert, sobald man sie aus dem Dienst entlässt. Der Gedanke, dass Megan sehr weit gehen würde, um wieder in Pis Gunst zu steigen, liegt nahe. Außerdem hast du Lea und mich bereits deiner Sammlung einverleibt. So gesehen, verfügt Megan über keinen besonders großen Verhandlungsspielraum.«

»Das hat sich der Kollektor auch gesagt und stattdessen einen vertrauenswürdigen Mittelsmann auf den Plan gerufen. Ein alter Freund der Familie, der im Bankgewerbe tätig ist und ebenfalls mit Pi Geschäfte tätigt«, erklärte der Kollektor. Er spielte ein wenig mit dem Fächer herum, ganz so, als säßen sie zu dritt bei einer netten Teerunde und palaverten über den letzten Kurztrip ans Meer und nicht über die Zukunft einer Frau, die über sich selbst mit ihren Machtspielen das Todesurteil verhängt hatte.

»Denn um das Blut zum Singen zu bringen«, fuhr der Kollektor fort, »hätte es des Forschers bedurft. Mit ihm als Anreiz hätte man vielleicht einen schönen Handel zustande bringen können ... Nur leider hat die Spinne nichts mehr vom Forscher übrig gelassen, das für einen Handel getaugt hätte. Sehr ärgerlich. Nun hat der Kollektor das Blut, einen Tiger und eineVerräterin. Ein Stück fügt sich nicht sonderlich gut in die Sammlung, wenn er verstehen will.«

Adam ging ein paar Schritte auf und ab, dann wandte er sich erneut dem Kollektor zu. »Das Problem mit Megan würde ich liebend gern für dich lösen. Falls du Zweifel haben solltest, ob es richtig wäre, sie mir zum Fraß vorzuwerfen, hätte ich sogar noch etwas Interessantes draufzulegen, um dir die Entscheidung zu erleichtern.«

Mit einer steifen Bewegung, als sorge er sich um die Belastbarkeit seiner Hüftknochen, schlug der Kollektor die Beine übereinander.

»Was bietet er?«

»Ein hübsches Objekt - das unabhängig von seiner natürlichen Umgebung ist«, erwiderte Adam kalt lächelnd. »Eine der Unsrigen, für die im Laufe der Jahrhunderte die Vergangenheit mit der Gegenwart verschmolzen ist. Dekaden voller Erinnerungen wirbeln in ihrem Geist ziellos durcheinander wie Metallsplitter in einem magnetischen Sturm. Ihr Name ist Agatha.«