1. Ostwind

Obwohl es noch früher Nachmittag war, war die Dämmerung schon vor einigen Stunden hereingebrochen. Schonungslos und unvermittelttauchte sie alles ins Dunkel. In diesen östlich gelegenen Breitengraden gab es keinen sanften Übergang zwischen Tag und Nacht, der die Menschen antrieb, ihre Schritte zu beschleunigen und nach Hause zu eilen. Auch das marode Netz der Straßenlaternen konnte dem anwachsenden Hunger der Dunkelheit nichts entgegenhalten: Jeden Tag brach mehr von der Spanne trüben Tageslichts weg, aber niemand in dieser Stadt schien sonderlich daran interessiert zu sein, die Laternen dem Wandel anzupassen. Lieber stolperte man durch finstere Straßenschluchten und brach sich das Genick in einer Schneeverwehung.

Als Lea an diesem Nachmittag zum ersten Mal von dem Buch aufschaute, das sie mit Anmerkungen versah, blickte sie auf ein schwarzes Fenster, das den Schein ihrer Leselampe reflektierte. Verwirrt blinzelte sie, da dort eben noch die Umrisse des gegenüberliegenden Hochhauses zu sehen gewesen waren. Ein Gähnen unterdrückend, rieb Lea sich den Nacken. Wahrscheinlich war sie die einzige Person in dieser Stadt, die es immer wieder aufs Neue durcheinanderbrachte, mitten im Zentrum, umgeben von breiten Straßen und mehr als zehn Stockwerke hohen Häusern zu sitzen und draußen lediglich einige verwischte Lichtflecke erkennen zu können: Lampen und Kerzen hinter orange-braun gemusterten Vorhängen und gelegentliches Aufflackern von Autoscheinwerfern in der Tiefe der Häuserschluchten.

An diesem Abend verwehrte zudem stetig fallender Schnee die Sicht auf Sterne und Halbmond. Einen Augenblick lang betrachtete Lea das Spiel der bauschigen Flocken, dann öffnete sie das einzige Fenster in ihrem Zimmer einen Spalt und tastete vorsichtig nach dem Haken in der Außenwand. Sofort begannen ihre Finger vor Kälte zu kribbeln, und sie war froh, dass sich der steif gefrorene Knoten des Seils, an dessen Ende ein Stoffbeutel hing, rasch lösen ließ. Sie angelte ein in Wachspapier gewickeltes Stück Käse und eine Plastikflasche mit gefrorener Milch heraus.

So kalt es draußen war, in ihrem Zimmer kochte die Luft. Der Hausmeister, Herrscher über die Zentralheizung und selbst ansässig in einem der unzähligen Wohnlöcher, liebte es offensichtlich schweißtreibend heiß. So kam es, dass Lea in Trägershirt und Pyjamahose auf dem stockig riechenden Fußboden saß und las, während gelegentlich ein Windzug vom undichten Fenster ihre nackte Schulter berührte.

Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass ihre Wangen aufgrund der trockenen Heizungsluft immerzu brannten und sie nachts im festen Glauben aufwachte, in einer Sauna eingeschlafen zu sein.

Als sie ihrer Studienfreundin Maria davon am Telefon berichtet hatte, hatte diese nur trocken erwidert: »Du hast es ja so gewollt. Warum auch Zeit in Paris oder Stockholm vertrödeln, wenn man wildes Neuland erkunden kann. Das waren doch deine Worte, nicht wahr? Als ich dich vor dieser Nummer gewarnt habe, meintest du bloß, dass du Herausforderungen magst. Also nutze sie.«

Mit Mühe hatte Lea eine bissige Bemerkung zurückgehalten, aber dass ihre Freundin keine Spur von Mitleid aufbrachte, hatte ihr unleugbar zu schaffen gemacht. »Diese Stadt und die Menschen bringen mich irgendwie aus dem Konzept«, hatte sie in der Hoffnung angesetzt, Maria doch noch ein paar tröstende Worte entlocken zu können.

Maria hingegen hatte sich in ihrer spröden Art unerbittlich gezeigt: »Du hast dich noch nie sonderlich für deine Umwelt interessiert.Von allen Leuten aus dem Literaturfachbereich, die ich kenne, bist du diejenige, die am meisten in der Bücherwelt lebt. Wenn man von dir wahrgenommen werden will, muss man eine Kurzgeschichte über die eigene Person schreiben.«

»Das mag ja sein, aber ...«, hatte Lea stockend entgegnet. »Auch die Leute hier sind so anders. Ich verstehe die Regeln einfach nicht, nach denen hier alles abläuft, von den Sprachproblemen einmal ganz abgesehen. Dass hier alles so seltsam ist, stand in keinem einzigen Reiseführer drin.«

»Du bist es einfach nur nicht gewohnt, dich auf andere einzulassen. Jetzt bist du endlich einmal gezwungen, aus deinem Kopf rauszuschlüpfen und zu sehen, was das Leben sonst noch so zu bieten hat.« An dieser Stelle hatte Lea ein empörtes Schnauben ausgestoßen, doch Maria hatte sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lassen. »Du solltest die Zeit am Ende der Welt als Chance für dich sehen, deine Mitmenschen einmal richtig wahrzunehmen und nicht bloß neben ihnen herzuleben. Das hast du nämlich bislang immer getan, Lea.«

Nach diesem Satz hatte Lea nur noch eine knappe Verabschiedung genuschelt und seitdem nicht mehr mit Maria gesprochen. Die Worte ihrer Freundin hatten sie mehr verletzt, als sie sich eingestehen mochte. Eigentlich war Lea eine junge Frau, die sich gut allein zurechtfand schließlich hatte sie es früh genug lernen müssen. Aber in solch einer beklemmenden Situation einfach abgekanzelt zu werden, das wollte sie dann doch nicht hinnehmen.

Trotz allem mochte Lea das Zimmer, das ihr für die Zeit ihres Auslandsstipendiums zur Verfügung gestellt worden war. Es hatte zwar die Größe einer Besenkammer und jenen seltsamen Charme, der von Verfall ausgeht, dennoch war es ihr Nest in dieser befremdlichen Stadt, die sich ihr nicht erschließen wollte.

Während sie auf einem Käsebrot kaute und die trockenen Krümel mit Tee hinunterspülte, weil die Milch noch nicht aufgetaut war, lauschte sie auf die Geräusche im Haus, die nicht vom Glucksen und Pochen des Heizkörpers übertönt wurden. Das sich ständig zankende Paar über ihr schien noch nicht zu Hause zu sein. Die Wohnung links stand leer, wie so viele andere in diesen heruntergekommenen Betonquartieren. Von rechts drangen Kochgeräusche durch die dünne Wand: Jemand klapperte und schepperte mit Blechgeschirr, während das Radio volkstümliche Lieder trällerte. Draußen lärmte die typische Melange aus Straßenverkehr, Geschwätz und noch mehr Heimatliedern. Es war ein überraschend ruhiger Abend.

Noch einmal überflog Lea ihre Notizen und bemühte sich, die seit Stunden an ihr nagende Nervosität zu unterdrücken. An diesem Abend war sie das erste Mal zu einer Diskussionsrunde bei ihrem Literaturprofessor Etienne Carriere eingeladen - Thema sollte die Blütephase der Romantik sein, Leas Studienschwerpunkt. In den Vorlesungen hatte sie bislang noch nicht so glänzen können, wie sie es sich gewünscht hatte. Doch Carrieres hervorragender Ruf und die in ihren Ohren kaum verständlich klingenden Kommilitonen hatten ihr wachsendes Unbehagen weiter geschürt, so dass Lea eine Zurückhaltung an den Tag legte, die ihr äußerst fremd war. Glücklicherweise war es ihr trotzdem gelungen, mit einigen Anmerkungen die Aufmerksamkeit ihres Professors auf sich zu lenken und deshalb mit einer Einladung bedacht zu werden.

Das Beste wäre, sagte Lea sich nun, die noch verbleibende Zeit irgendwo anders totzuschlagen. Hier, in ihrem zehn Quadratmeter großen Brutkasten, hielt sie es vor Anspannung jedenfalls nicht länger aus. Ob ihre Wangen von Hitze verbrannt oder vom eisigen Wind erfroren wurden, machte nun keinen Unterschied mehr.

Den Parka und den meterlangen Strickschal unter denArm geklemmt, eilte sie einige Minuten später durch den dämmrigen Flur, der, aller Vernunft zum Trotz, mit Teppich ausgelegt worden war. Jahrzehnte voller Schneematsch hatten eine schwarze Schneise in der Mitte des Flurs gebildet, die bei jedem Schritt ein saugendes Geräusch machte. Es stank nach Schimmel und Moos. Lea hätte es nicht sonderlich überrascht, wenn sich in den Ecken Farne neigen würden. Dem Fahrstuhl am Ende des Gangs warf sie einen skeptischen Blick zu und stürmte dann ins fensterlose Treppenhaus. Lieber rannte sie die elf Stockwerke hinab, als sich diesem maroden Ungetüm anzuvertrauen.

Auf der Straße konnte sie den Schal nicht fix genug um den Hals schlingen, so schnell hatte der Ostwind jeden Millimeter ungeschützte Haut erobert und sie fast zum Umkehren bewegt. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, sich für ein Semester in dieser Eishölle zu bewerben?, fragte sich Lea wie schon unzählige Male zuvor.

Unsicher wich sie vom Verkehr grau gesprenkelten Schneehaufen aus, froh darüber, dass einige Laternen mittlerweile brannten und Teile des Gehsteigs schummerig beschienen. Auch der Schneefall wurde leichter, als Lea fast wieder einmal an der unauffälligen U-Bahn-Station vorbeigelaufen wäre. Nach wie vor war sie sich nicht sicher, ob das Stationsschild geklaut oder gar nicht erst angebracht worden war.

Die Treppe zum Bahnsteig war so vereist, dass Lea gezwungen war, sich mit steifen Fingern am Geländer festzukrallen, während ihre in gefütterten Stiefeln steckenden Füße versuchten, auf dem spiegelglatten Grund Halt zu finden. An ihr hasteten Menschen vorbei, bekleidet mit schweren Mänteln und Fellmützen, und warfen ihr belustigte Blicke zu. Aber daran hatte sich Lea in den letzten Wochen gewöhnt. Im Gegensatz zu ihr tänzelten selbst dick eingemummelte Großmütter elegant über den eisigen Grund.

Einige Minuten später saß Lea im unbeheizten Waggon der U-Bahn und beobachtete drei junge Frauen, die ihr gegenübersaßen und imgleichen Rhythmus Kaugummi kauten. Sie alle trugen weiße Stiefel und kurze Röcke, die Beine nur mit Nylons verhüllt. Über ihre kunstvoll hochgesteckten Frisuren hatten sie keine Wollmützen gezwängt, und die Reißverschlüsse ihrer knappen Jacken standen nachlässig offen.

Ganz versunken in diesen Anblick absoluter Frostresistenz, bemerkte Lea nicht, dass eine der Frauen sie abfällig musterte. Als sie Lea schließlich mit scharfem Ton ansprach, zuckte die schuldbewusst zusammen. Trotz eines zweiwöchigen Intensivkurses verstand Lea nämlich kein einziges Wort. Konzentriert starrte sie der jungen Frau auf die Lippen, was diese offensichtlich noch unhöflicher fand als das Anstarren zuvor. Kurzerhand bewarf sie Lea mit zusammengeknülltem Kaugummipapier.

»Ja, vielen Dank«, sagte Lea und sah zu, dass sie bei der nächsten Haltestelle schleunigst den Waggon verließ, die laut schimpfenden und lachenden Frauen hinter sich lassend.

Sie fand sich an einer verwaisten Station wieder, dessen Namensschild vor lauter Dreck unlesbar geworden war. Außer ihr hatte sich niemand auf den schmalen Bahnsteig verirrt, wenngleich um dieser Zeit viele Menschen unterwegs waren. Da ihre Augen nichts fanden, womit sie sich beschäftigen konnten, kehrten ihre Gedanken zu dem eben Erlebten zurück, so dass Lea verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Sie hatte einfach nicht damit gerechnet, beim Beobachten erwischt zu werden. Normalerweise schenkten ihr ihre Mitmenschen nicht allzu große Aufmerksamkeit, was vor allem ihrer eigenen Haltung geschuldet war: Leas Interesse galt schon immer den Büchern - die konnte man lesen, Menschen hingegen nicht.

Ihre Mutter hatte immer behauptet, Lea besäße eine starke und aufregende Persönlichkeit, müsse das jedoch selbst erst noch entdecken. Aber ihre Kette rauchende Mutter hatte ebenso immer behauptet, dass Lungenkrebs nur andere bekämen. Lea hingegen vertrat die These, dass sie keine Signale aussendete, die ihre Mitmenschen dazu bewogen hätten, ihr einen zweiten Blick zu gönnen. Es war wie einunausgesprochenes Übereinkommen: Ich nehme dich nicht wahr, du nimmst mich nicht wahr. Bislang war sie damit recht gut durchs Leben gekommen, wenn man davon absah, dass sie ihre Bekannten an einer Hand abzählen konnte.

Doch hier in dieser fremden Umgebung stach Lea nun plötzlich hervor, was ihr äußerst unangenehm war. Plötzlich wurde das Einkaufen von Gebäck zu einer Boulevardnummer, weil sie die hiesigen Sitten nicht durchschaute - anstellen oder vordrängeln? Nur auf das Gewünschte zeigen oder doch versuchen, es beim Namen zu nennen, auch wenn sie es nicht richtig aussprechen konnte, und die Verkäuferin deshalb verächtlich an ihr vorbeischaute? Inzwischen war Lea sich sicher, dass sie bestens auf die Beachtung ihrer Person verzichten konnte. Wenn Beachtung einen zur wandelnden Zielscheibe für Kaugummipapier machte, dann zog sie eindeutig ein Schattendasein vor.

Eine vorbeidonnernde Bahn riss Lea aus ihren Gedanken und brachte sie dazu, ihren Standort auszumachen. Gerade als sie den angelaufenen Stadtplan hinter einer Plexiglastafel entdeckt hatte, begannen die spärlich gesäten Leuchtröhren über ihrem Kopf zu flackern. In einem Anflug von Panik biss Lea sich auf die Unterlippe und rechnete fest damit, gleich von völliger Dunkelheit umgeben zu sein, weil das Stromnetz wieder einmal zusammenbrach. Allein bei der Vorstellung, in dieser U-Bahn-Station, die einer Katakombe glich, nicht die Hand vor Augen zu sehen, hätte Lea schreien können. Doch nach einem weiteren Flackern und Summen beruhigten sich die Leuchtröhren wieder.

Hastig warf Lea einen Blick auf den Stadtplan, um festzustellen, dass sie sich ganz in der Nähe von Professor Carrieres Haus befand. Eigentlich hatte sie vorgehabt, die verbleibendeWartezeit in der Zentralbibliothek zu verbringen. Aber bei der Vorstellung, auch nur einen Augenblick länger in diesem zugigen Tunnel mit den unstet flackernden Lichtern auf die nächste Bahn warten zu müssen, beschloss sie ihren Plan zu ändern. Sie würde ein Stück laufen müssen und dann ... Wie unhöflich konnte es schon sein, eine Stunde zu früh zu einer Verabredung zu erscheinen? Ihr würde bestimmt eine geeignete Ausrede auf dem Fußmarsch dorthin einfallen, tröstete sie sich.

Als sie bei dem fürstlich beleuchteten Stadthaus ihres Gastgebers ankam, war ihr leider noch keine vernünftig klingende Ausrede eingefallen. Ein wenig verloren blieb Lea stehen und versuchte, sich erst einmal zu sammeln.

Nach wie vor raubten die extremen Gegensätze in dieser Stadt ihr den Atem: Fast nahtlos ging das weitläufige Hochhausgetto in den schmalen Streifen altehrwürdiger Bauten über, die vom Bombenhagel der Kriege verschont geblieben waren. Doch schon nach einigen Straßenzügen wurden diese architektonischen Schmuckstücke von einem Gewirr aus Hochstraßen und Industriebaracken eingezäunt. Ein Großteil der Stadt bestand aus verwittertem Beton und vom Frost aufgeplatzten Asphalt. Obwohl die meisten Bauwerke erst einige Jahrzehnte alt waren, sahen sie bereits abbruchreif aus. Während die alten Viertel eine Renaissance erlebten, standen viele der Wohnungen in den Hochhäusern leer, und in den langen Winternächten stachen ihre blinden Fenster besonders unheimlich ins Auge. Die Randgebiete der Stadt wurden lediglich von ein paar verlassenen Hütten und ausgeschlachteten Autowracks am Straßenrand gesäumt. Dahinter begann der Wald. Kein langjährig kultivierter Wald, wie Lea ihn von zu Hause kannte und schätzte und dessen gut ausgebautes Wegenetz zu Spaziergängen am Sonntagnachmittag oder vergnüglichen Fahrradtouren einlud. Nein, dieser Wald hier hatte nicht das Geringste mit einem gepflegten Naherholungsgebiet zu tun.

Auf ihrer Anreise mit dem Zug war Lea durch ihn hindurchgefahren und bei seinem Anblick hatte sie zum ersten Mal diese Verunsicherung verspürt, die sie seitdem nicht mehr losgelassen hatte: eine Armee mächtiger Nadelbäume, die mühelos den Schneemassen standhielten. Im Frühjahr war der Boden ganz gewiss nicht mit kleinen Blumen bedeckt, einfach, weil kein einziger Sonnenstrahl seinen Weg durch das undurchdringliche Nadelgrün fand. Falls man hier so etwas wie Sonnenschein überhaupt kennt, hatte Lea gedacht, während sich ihr angesichts dieses Waldes, der die Stadt von allen Seiten bedrängte, die Kehle zugeschnürt hatte.

Der Anblick von Professor Carrieres schönem alten Haus machte einiges von den finsteren Eindrücken der letzten Wochen wieder wett. Die aufwendige Stuckfassade war mit Liebe zum Detail aufgearbeitet worden, die Farben strahlten frisch, und selbst die sichtlich altertümliche Eingangstür aus Holz zeigte keinen einzigen Kratzer im dunkelroten Lack. Das Haus stand frei und war einladend dicht an der Straße gebaut worden: Nur ein zierlicher Schmiedezaun und ein paar vom Schnee bedeckte Rhododendren trennten beide voneinander. Leider konnte Lea keinen Blick in die Räume erhaschen, weil sämtliche Vorhänge zugezogen waren. Aber durch den Stoff drang ein feiner Lichtschein, der sie geradezu einzuladen schien. Auch die nur gedämpft zu hörenden Klänge eines Klavierstücks, die aus dem oberen Stockwerk zu kommen schienen, übten eine magische Anziehungskraft auf sie aus.

Trotzdem trat Lea von einem Fuß auf den anderen, bemüht, das Steifwerden ihrer Zehen zu ignorieren. Immer noch hoffte sie, dass einer ihrer Kommilitonen ebenfalls unhöflich früh auftauchen würde. Gemeinsam wäre die Taktlosigkeit leichter zu ertragen. Ein weiterer beißender Windstoß, der ihr das Haar ins Gesicht trieb, überzeugte sie jedoch davon, dass sich draußen in der Kälte wohl kaum mehr Zeit schinden ließ.

Mit einem Seufzen zog Lea an dem funkelnden Messingstrang neben der Tür, woraufhin ein gedämpftes Glockenläuten im Inneren des Hauses erklang. Nach einer Weile, gerade als Lea ein zweites Mal läuten wollte, öffnete sich die Tür einen Spalt. Eine ältere, in Schwarz gekleidete Frau begrüßte sie in der Landessprache, weshalb Lea davon ausging, eine Hausangestellte vor sich zu haben.

Den kritischen Blick der Frau auf sich spürend, stellte Lea sich vor und gab ein zerknirschtes »Ich bin etwas früh dran« von sich. Einen Augenblick lang befürchtete sie, nicht eingelassen zu werden. Doch die Frau mit dem ausgesprochen missmutigen Gesichtsausdruck trat nach einem Zögern beiseite. Nachdem sie ihr Jacke und Schal abgenommen und Lea ihre durchweichten Stiefel abgestreift hatte, stiegen sie gemeinsam eine mit Orientteppichen ausgelegte Treppe hinauf.

Nur allzu gern hätte Lea den kurzen Gang ausgedehnt, um die reichlich geschmückten Wände und die ausufernden Bücherregale im oberen Stockwerk ausgiebig in Augenschein zu nehmen. Bevor sie sich jedoch versah, hatte die ältere Frau sie in ein Zimmer geschoben und ein paar unverständliche Sätze genuschelt, die Lea beim besten Willen nicht entschlüsseln konnte. Lea wollte gerade noch einen fragenden Blick über die Schulter werfen, da war die Zimmertür bereits wieder geschlossen und sie fand sich allein in einem Salon wieder.

Mit einem Schlag überkam sie das Gefühl, gefangen zu sein, und instinktiv wollte sie nach dem Türknauf greifen. Das ist doch lächerlich, sagte sie sich, aber es gelang ihr nicht, das Unbehagen abzuschütteln. Das Prickeln in ihrem Nacken ignorierend, wandte sie sich von der Tür ab. Mit jedem Schritt, den sie in Richtung Raummitte machte, versank sie mehr in der Schönheit des Salons und der unerklärliche Anflug von Angst verschwand.

Kobaltblaue Vorhänge mit goldenen Längsbahnen schlössen die Nacht aus, und die dunkelroten Seidentapeten schimmerten im Licht eines Kaminfeuers. Genüsslich rieb Lea mit ihren Zehen über den Perserteppich, der einen Großteil des lackierten Holzbodens bedeckte.

Ein Bücherregal aus Kirschholz dominierte den Raum, dessen wertvolle Exponate von Lampen angeleuchtet wurden. Überall standen antike Möbel: zierliche Sofas, die gerade mal Platz für zwei Personen boten, verschnörkelte Stühle und Tische, die mit Silberrahmen, Porzellanfiguren und anderen verspielten Kleinigkeiten beladen waren. In einem mit Blattgold umrahmten Spiegel sah Lea kurz ihr schmales Gesicht aufblitzen, dann schaute sie schnell weg, da ihr der leicht verlorene Ausdruck nicht gefiel.

In einer Ecke entdeckte Lea schließlich das Klavier, dessen Klang sie bis auf die Straße gehört hatte und dessen Deckel immer noch einladend aufgeklappt war. Gerade als sie mit dem Gedanken spielte, sich die Notenblätter anzuschauen, gingen die Lichter aus. Stromausfall Nummer vier an diesem Tag, dachte Lea und fügte ihn in ihre gedankliche Strichliste ein.Wie konnte ein Land nur funktionieren, wenn ständig alles ausgeknipst wurde?

Das Feuer im Kamin verbreitete wohlige Wärme und schwaches Licht. In den letzten Wochen hatte Lea schon in deutlich unangenehmeren Situationen im Dunkeln gesessen, so dass sie sich nach einem kurzen Schrecken gleich wieder entspannte. Das hier war doch sehr viel angenehmer als der zugige Tunnel - Herausforderungen musste man sich eben stellen.

Lea überlegte, zu einem der Sofas am Kamin zu gehen, als plötzlich in der gegenüberliegenden Ecke des Raums eine Kerze aufflackerte. Sofort kehrte das beklemmende Gefühl zurück, in eine Falle getappt zu sein. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Lea einen Mann an, der ein Streichholz ausblies und dann mit einem Kerzenleuchter in der Hand auf sie zutrat. Als das Licht auf ihn fiel, wich das Unbehagen augenblicklich einer ganz anderen Art der Gebanntheit: Dieser Mann war atemberaubend schön. Eine hohe, schlanke Gestalt mit einem fast schon unwirklich klassisch geschnittenen Gesicht und weich in Stirn und Nacken fallendem Haar. Er blieb ein Stück vor ihr stehen, und Lea erkannte, dass sein Haar die Farbe von dunklem Honig hatte.

Aber da war noch etwas anderes, das die Schönheit des Mannes vergessen machte. Etwas, das Lea berührte und sich ihrem gierig greifenden Verstand entzog, wie ein vom Wind zugetragener Klang. Ein Gefühl, als ob jemand die richtigen Zeilen ausspricht, und obwohl man sie nicht versteht, man doch weiß, dass sie wahr sind. Dieser Mann war wie ein geheimes Wort, das nur für Lea bestimmt war.

Vollkommen fasziniert starrte Lea ihn an und hätte fast dem Bedürfnis nachgegeben, ihn zu berühren - da bemerkte sie sein spöttisches Lächeln. Damit war der Bann gebrochen, und sie richtete verlegen den Blick zu Boden. Da hatte sie minutenlang das Interieur des Salons begutachtet, ohne die Anwesenheit eines anderen Menschen zu bemerken, und kaum hatte dieser auf sich aufmerksam gemacht, fraß sie ihn mit Blicken auf.

»Hoffentlich gefällt Ihnen auch, was Sie sehen?«, fragte der Mann glücklicherweise in einer Sprache, die Lea geläufig war. Dadurch entging ihrauch die Zweideutigkeit seiner Frage nicht. Zu allem Übel fügte sich seine Stimme in das Gesamtbild ein: wohlklingend und mit einer unterschwellig rauchigen Note. Lea war immer noch so verzaubert, dass sie sich nur ein zustimmendes Seufzen abringen konnte.

»Etienne hat sich bei der Instandsetzung des Hauses die größte Mühe gegeben. Ich kann Ihren hingerissenen Gesichtsausdruck also gut nachvollziehen«, erklärte er und stellte den Kerzenleuchter auf dem Klavier ab.Während er sich auf dem Schemel davor niederließ, deutete er Lea an, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Mit steifen Bewegungen kam sie der Aufforderung nach, obwohl sie befürchtete, in seiner unmittelbaren Nähe die Beherrschung zu verlieren und ihm auf den Schoß zu springen. Dass sie gemeinsam im Schein des Kerzenlichtes saßen, erschien ihr fast unwirklich.

»Ich vermute, Sie sind nicht von hier?«, fragte er in einem Ton, als gingen sie einem lockeren Small Talk auf einer Cocktailparty nach.

»Nein«, erwiderte Lea mit unangenehm hoher Stimme. »Ich bin von woanders.«

Nach diesem Höhepunkt der Unterhaltungskunst breitete sich ein Schweigen aus, das Lea ihr Unvermögen vor Augen führte. Bislang hatte sie es nie gestört, nicht zu den großen Verführerinnen ihres Geschlechts zu zählen. Aber gegenüber einem schlicht umwerfenden Mann dermaßen kläglich zu versagen war mehr, als sie verkraftete.

Sterbenselend kauerte sie auf dem Sofa, während sich Minuten zu gefühlten Stunden ausdehnten. Die Augen auf das Flammenspiel im Kamin gerichtet, aber die Ohren gespitzt, damit ihr nur nicht die leiseste Bewegung dieses Mannes entging. Die Situation war so verwirrend, dass es sie nicht überrascht hätte, wenn er sich als eine Art Fata Morgana entpuppte.Wenn sie jetzt zum Klavier hinüberschauen würde, dann läge auf dem Schemel sicherlich nur eine Spur Engelstaub, versuchte sie sich aufzumuntern. Sie wagte es jedoch nicht, den Blick vom Feuer abzuwenden.

In dem Moment, als mit einem Mal alle Lichter wieder aufleuchteten, ging die Zimmertür schwungvoll auf, und Professor Carriere trat mit einer kleinen Studentenschar ein, die sich staunend im Salon umsah. Eine von ihnen war Jazna, mit der Lea sich schon öfter nach den Vorlesungen unterhalten hatte. Sie hatte Jazna ein Kompliment über deren langes Haar gemacht, wodurch das Eis schnell gebrochen war. Sie hatten sich sogar zum Kaffeetrinken und Plaudern über Uni-Angelegenheiten getroffen. Doch nun streifte der Blick der jungen Frau sie nur flüchtig, sie fand nicht mal die Zeit für ein kurzes Nicken, da ihre ganze Aufmerksamkeit dem Mann beim Klavier zuflog. Sieh an, dachte Lea. Offensichtlich übt er nicht nur auf mich eine solche anziehende Wirkung aus.

Lea kam jedoch nicht mehr dazu, sich weitere Gedanken zu machen, denn Professor Carriere schritt gut gelaunt und mit weit vorgestreckter Hand auf sie zu.Wie in Zeitlupe erhob sie sich, wobei die aufgeregten Stimmen der Gruppe ihr regelrecht in den Ohren dröhnten.

»Meine Liebe«, sagte Professor Carriere mit der für ihn typischen singenden Stimme und gab ihr die Hand. »Sind diese ständigen Stromausfälle nicht skurril?« Wie immer ließ seine elegante Erscheinung Lea kurz vor Ehrfurcht erstarren und löste damit den Zauber auf. Die Welt der Universität und des Studiums hatte sie wieder.

Trotz seiner ansehnlichen Körpergröße war Professor Carriere von eher zierlicher Statur, und seine Bewegungen zeichneten sich durch eine seltsame Mischung aus Anmut und Zähigkeit aus, die Lea bisher nur bei passionierten Tänzern beobachtet hatte. Dazu passten auch das graue, kurz geschorene Haar, das asketische Gesicht und der zurückhaltende Kleidungsstil.

Professor Carriere, der eine ausgesprochen höfliche und angenehme Person war, wurde von allen mit Respekt behandelt. Seine Freundlichkeit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es mit einem hochgebildeten und willensstarken Mann zu tun hatte. Lea kannte jede seiner Publikationen und wusste nur zu gut, dass Professor Carriere ein brillanter Literaturwissenschaftler war. Der Mann war mehr als leidenschaftlich bei dem, was er tat - sowohl als Wissenschaftler als auch als Dozent. Letztendlich war er der ausschlaggebende Grund gewesen, warum Lea sich für diese eher untypische Universitätsstadt entschieden hatte.

Lea schätzte Professor Carrieres Freundlichkeit und Fachwissen, aber da war noch mehr, was sie faszinierte: Normalerweise hielt sie Distanz zu ihren Dozenten, doch Professor Carriere brachte jedem einzelnen seiner Studenten solch ein persönliches Interesse entgegen, dass man sich ihm unmöglich entziehen konnte. Deshalb rang sich Lea nun zu einem Lächeln durch, als sie ihn ebenfalls begrüßte.

»Hat Adam sich gut um Sie gekümmert?«, fragte Professor Carriere und deutete in Richtung des schweigsamen Mannes, der Leas Welt soeben auf den Kopf gestellt hatte. Als Leas halbherziges Lächeln ins Rutschen geriet, nickte er wissend. »Wohl eher nicht, wie ich ihn kenne. Du hättest der jungen Dame wenigstens etwas auf dem Klavier vorspielen können, wenn du Konversation für überflüssig hältst«, sagte er, dem jungen Mann zugewandt, der sich immer noch nicht bewegt hatte. »Sie müssen wissen, Adam ist ein schrecklicher Mensch, meine liebe Lea. Ein Zyniker der schlimmsten Sorte. Er passt hervorragend zum hiesigen Wetter. Wahrscheinlich strapaziert er meine Gastfreundschaft deshalb schon seit einer halben Ewigkeit.«

Etwas in Professor Carrieres Ton ließ darauf schließen, dass seine Kritik gegenüber Adam nicht ernst gemeint war. Daher war es auch nicht weiter verwunderlich, als vom Klavier her nur ein leises Lachen drang, das dafür sorgte, dass Leas Magen einen formvollendeten Looping vollführte.

Die Gruppe hatte in einem Halbkreis Stühle vor dem Kamin aufgestellt, und die Diskussion war im vollen Gange. Von allen Richtungen aus versuchte das Kolloquium, sich dem Begriff der Romantik zu nähern, aber viel mehr noch bemühte sich jeder einzelne Student, sich vor Professor Carriere zu profilieren. Genau wie Lea hatten sich die anderen bestens auf diesen Abend vorbereitet, der von Carriere selbst als »lockere Runde« bezeichnet wurde. Allerdings war klar, dass jeder, der heute Abend nicht intellektuell glänzen würde, mit keiner weiteren Einladung zu rechnen brauchte.

Lea hatte sich längst damit abgefunden, dieses schöne Haus nie wieder zu betreten. Seit der Begegnung mit Adam gelang es ihr kaum, einen Beitrag zu der anspruchsvollen Debatte beizusteuern. Unverändert war sie von der Anziehungskraft in Anspruch genommen. So kam es, dass - anstatt ihr umfassendes Wissen über die Epoche der Romantik unter Beweis zu stellen - sie vollauf damit beschäftigt war, das Atmen nicht zu vergessen. Nur weil in dieser Runde ein höflicher Umgangston herrschte, war sie noch nicht wegen mangelnder Beteiligung des Raumes verwiesen worden.

Gelegentlich traf sie ein fragender Blick von Jazna, die sich Adams Zauber offensichtlich wieder hatte entziehen können, sobald es um ihre Universitätskarriere ging. Mit den Lippen formte Jazna die Worte »Was ist los?«, doch Lea konnte nur stumm den Kopf schütteln. Sie wusste es ja selbst nicht.

Irgendwo in der Tiefe des Raumes zog Adam seine Kreise. Gelegentlich glaubte Lea, ein Rascheln der Vorhänge zu hören, so, als beobachtete er das erneut eingesetzte Schneetreiben. Professor Carriere hatte ihn eingeladen, sich zu ihnen zu setzen, aber er hatte nur ein gleichgültiges »vielleicht später« erwidert. Dass er trotzdem nicht das Zimmer verließ, trieb Lea schier in den Wahnsinn. Und wenn sie sich nicht allzu sehr täuschte, erging es Carriere ähnlich: Immer wieder suchte sein Blick den Salon ab, und sein Gesicht zeigte eine Spur von Irritation.

»Die Frage nach der Seele ist sicherlich von großer Bedeutung, oder was denken Sie?« Professor Carriere hatte das Wort direkt an Lea gerichtet.

Erschrocken suchte sie in ihrem Gedächtnis nach einer passenden Entgegnung. »In der Romantik führt der geheimnisvolle Weg ins Innere«, begann sie, während sie noch ihre Gedanken sortierte. »Die Malerei zeigt das sehr schön: Der Künstler erspürt das Werk in sich. So sagt es jedenfalls Caspar David Friedrich, dessen Gemälde Der Mönch am Meer das vielleicht bekannteste Bild der Romantik ist.«

Ehe Lea fortfahren konnte, wurde sie von Boris unterbrochen, dessen stets angriffslustiger Unterton suggerieren sollte, dass Lea falsch-und er auf jeden Fall richtiglag. Denn Boris lag immer richtig. »Ich halte nicht viel von dieser Vermischung der Künste, wenn es um Begrifflichkeit geht«, sagte er einen Tick zu laut und unterstrich seine Aussage mit großzügigen Gesten. »Die Literatur lässt sich nicht mit der Malerei erklären. Wozu denn definieren wollen, wenn man alles mit allem erklären kann?«

Lea wollte ihm schon widersprechen, da ertönte hinter ihr Adams voll klingende Stimme: »Jemandem, der sich für den Geist der Romantik interessiert, sollte es eigentlich schwerfallen, glasklare Grenzen zu ziehen. Der Mönch am Meer ist doch ein wunderbares Beispiel. Man könnte sogar behaupten, dass er fast alles in sich trägt, was die Romantik ausmacht.«

Verwirrt drehte Lea sich um und sah Adam unvermittelt in die Augen. Sie waren schmal geschnitten, Katzenaugen, von dichten Wimpern umkränzt, die Iris von einem dunklen Grün. Wie ein von Bäumen beschatteter See, dachte sie entrückt, während ihre universitär geschulte Zunge fragte: »Warum nur fast?«

Adam schaute sie unverwandt an, während das belustigte Lächeln schlagartig aus seinem Gesicht verschwand. »Weil es die dunkle Begierde lediglich andeutet.«