16. Wahre Lügen
Auf dem Weg zu Adams Wagen, der direkt vor dem großen Eingangsportal des Hauses mit weit offen stehender Fahrertür geparkt stand, begegnete ihnen Megan. Adam nahm kurz den Arm von Leas Schulter und tauschte mit Megan einige leise Sätze aus, dann half er Lea beim Einsteigen.
Schweigend fuhren sie in Richtung Innenstadt, bis Adam unvermittelt den Wagen am Straßenrand anhielt und ausstieg. Noch ganz aufgewühlt von der bedrohlichen Auseinandersetzung, deren Zeugin sie soeben geworden war, stieg Lea ebenfalls aus. Es brauchte einen Moment, bis sie erkannte, wohin er sie gebracht hatte: in das lebendigste Viertel der Stadt, an dessen Rand auch ihre eigene Wohnung lag.
Lea mochte dieses kleinteilige Geflecht aus Straßen, in denen zu jeder Tages- und Nachtzeit rastloses Gewusel herrschte. Sie liebte die Buchläden, die noch mit persönlichem Ehrgeiz und einem aus der Mode gekommenen Bewusstsein, dass es die Menschheit zu bilden und in ferne Welten zu entführen galt, betrieben wurden. Sie mochte die kuriose Mischung aus Gemüseständen.Tätowierbuden und Secondhandshops ebenso gern wie die bunte Schar, die plärrende Kleinkinder an der Hand hinter sich herzog oder den Nachmittag beim Durchstöbern von Pappkartons voller Vinylplatten verbrachte. Es war ein klarer, wenn auch kalter Frühlingstag. Einige Cafes hatten Tische und Stühle auf dem Gehweg aufgebaut, und zahlreiche Passanten nutzten die Gelegenheit, um ein paar Sonnenstrahlen einzufangen.
Die Geräuschkulisse aus Geplauder, Autolärm und Musikfetzen beruhigte ihre Nerven. Doch kaum konnte sie einmal befreit ausatmen, da erinnerte sie sich an das Bild, wie Pis sorgfältig lackierte Zehen auf dem Boden auftippten. Lea blieb mitten auf der Straße stehen und reagierte auch nicht, als Adam sie mit einem Mal grob am Ellbogen packte und zur Seite riss.
»Was soll das?«, fragte sie verärgert.
Anstelle einer Antwort deutete Adam lediglich auf einen jungen Kerl auf einem Skateboard, der sie beinahe umgefahren hätte. Der zeigte ihr nun, über die Schulter zurückblickend, einen Vogel.
Lea lachte leise. »Na, so was«, sagte sie und schmiegte sich an Adams Seite, was dieser ohne zurückzuweichen geschehen ließ.
Es war eine gute Idee von ihm gewesen, hier haltzumachen. Denn der Anblick dieser pulsierenden Alltagswelt gab Lea die Möglichkeit, durchzuschnaufen und den sich in Schräglage befindenden Kosmos des Würfelhauses abzuschütteln. In diesem Augenblick wollte Lea nichts lieber, als für den Rest ihres Lebens entlang der belebten Straßen des Viertels zu spazieren und über den Einkauf von Kartoffeln und die anfallende Stromrechnung nachzudenken.
Voller Elan beschleunigte sie ihre Schritte, woraufhin Adam ihr einen besorgten Blick zuwarf, als befürchte er, dass es sich lediglich um ein letztes Aufbäumen vor dem Zusammenbruch handelt. Dann schlenderten sie eine Zeit lang in Gedanken versunken nebeneinander her, gerade so, als wären sie ein natürlicher Bestandteil des Straßenlebens und nicht zwei Flüchtlinge, die für einen kurzen Moment Unterschlupf in der Realität suchten.
An einem Gebäckstand kaufte Adam ein mit Marzipan gefülltes Croissant, in das Lea zaghaft biss, nachdem sie sich auf eine Parkbank gesetzt hatten. Als ihre Geschmacksknospen verzückt auf die überwältigende Süße des Marzipans reagierten, stellte Lea erleichtert fest, dass das Leben sie zurückhatte. Allerdings setzte damit auch das Begreifen ein, was Pi mit seinen Bezichtigungen angedeutet hatte. Die Anschuldigungen, die Adam am liebsten gewaltsam unterdrückt hätte.
Während sie auf dem Croissant herumkaute und vorgab, ein sich innig küssendes Paar in einem Ladeneingang zu beobachten, ließ sie sich den Schlagabtausch zwischen Adam und Pi noch einmal Wort für Wort durch den Kopf gehen. »Wann genau hast du den Plan, mich als Köder zu benutzen, eigentlich aufgegeben?«, fragte sie schließlich.
ObgleichAdam auf diese Frage gewartet haben musste, zuckte er so heftig zusammen, als habe Lea ihm überraschend einen Finger zwischen die Rippen gebohrt. Sein Gesicht verlor schlagartig an Farbe, und um die Augen, die geradeaus ins Leere starrten, legte sich ein verspannter Zug. Er hatte einen Ellbogen auf der Rückenlehne der Bank aufgestützt, und die in der Luft hängende Hand zitterte leicht. Alles deutete daraufhin, dass Adam sich schon länger vor dieser Frage gefürchtet hatte.
Als er beharrlich schwieg, dachte Lea einfach laut weiter nach: »Die Geschichte, dass du mich so über die Maßen auffallend auf Pis Fest eingeführt hast, um allen klarzumachen, dass ich nur dir gehöre, war also doch eine Lüge. Du wolltest, dass ich bemerkt werde. All die Male, die du mich mitgezerrt hast, dienten ausschließlich dazu, jemanden anzulocken ...« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde ihr bewusst, dass Adam sie seit seinem Auftauchen in dieser Stadt kein einziges Mal aufgesucht hatte, nur weil er in ihrer Nähe sein wollte. Es war ihm immer nur darum gegangen, sie vorzuführen, sie für einen unausgesprochenen Zweck zu benutzen. Der Schmerz, den diese Erkenntnis hervorrief, traf sie so unvorbereitet, als hätte ihr jemand einen Elektroschocker an die Schläfe gehalten.
Trotz all der Kämpfe, der Angst und der unglücklichen Vergangenheit hatte Lea stets geglaubt, dass da mehr war, das sie mit Adam verband. Nur wegen dieser Hoffnung hatte sie den ganzen Wahnsinn überhaupt ertragen können. Nun zu erkennen, dass sie für Adam lediglich ein Mittel zum Zweck darstellte, dass er sie schamlos belogen hatte und die erlebte Nähe wahrscheinlich nur ein netter Nebeneffekt für ihn gewesen war, fraß Leas Innerstes auf - als wüte eine alles vernichtende Feuersbrunst in ihr.
Während sie sich, eine Hand breit entfernt von ihm, Stück für Stück auflöste, schüttelte Adam vehement den Kopf. »So war es doch nur zu Anfang. Aber eigentlich nicht einmal da ...«, begann er stockend, und es kostete Lea unendlich viel Kraft, ihm auch wirklich zuzuhören. »Als ich in diese Stadt gekommen bin, habe ich mir eingeredet, dass ich dich nur deshalb suchen würde, weil du mir etwas schuldest und nun der perfekte Zeitpunkt gekommen wäre, diese Schuld einzulösen. Das habe ich dir damals in der Bar auch gesagt, aber wirklich daran geglaubt habe ich schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Doch ich war einfach zu wütend, um mir das einzugestehen. Diese Wut hatte sich im Lauf der Jahre regelrecht verselbstständigt und prägte mein ganzes Denken. Da war kein Platz mehr für irgendetwas anderes.« Immer schneller brachen die erklärenden Worte aus ihm heraus. »Ich habe ja nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich diesen Gefühlen für dich nicht über den Weg traue. Und was damals in Etiennes Haus passiert ist, hat es nicht unbedingt besser gemacht. Ist dir eigentlich jemals bewusst geworden, dass ich Etienne in dieser Nacht gerettet hätte, wenn ich dir nicht wie ein verliebter Idiot hinterhergelaufen wäre? Und als Krönung hast du dich auch noch von mir abgewendet. Lauter falsche Entscheidungen, nur kann ich sie nicht mehr ungeschehen machen.«
»Wäre es dir lieber gewesen, wenn Truss mich zerfetzt hätte?«
»Nein, das wollte ich damit nicht sagen.«
Aus den Augenwinkeln nahm Lea wahr, wie Adam sich mit einer flüchtigen Geste über den Mund wischte. Diese schlichte Bewegung zauberte eine Nähe, zu der Worte nicht in der Lage waren. Wie schafft er das nur immer wieder, fragte sie sich und wusste nicht, ob sie ärgerlich oder betört sein sollte.
Unterdessen sprach Adam weiter: »Aber hier, in dieser Stadt, bietet sich mir endlich die Möglichkeit einer Wiedergutmachung. Ich dachte, es wäre nur fair, dass du - wenn auch unfreiwillig - einen Beitrag dazu leisten würdest. Gleichzeitig konnte ich so auch wieder in deiner Nähe zu sein und mir trotzdem noch selbst in die Augen sehen.«
Obwohl ihr verletzter Stolz sie zu einem Wutausbruch anstacheln wollte, blieb Lea nur ermattet auf der Parkbank sitzen. Sie war einfach zu erschöpft, um Adam niederzubrüllen und anschließend voller Verachtung fortzugehen. Am liebsten hätte sie sich sogar gegen seine Schulter gelehnt und ein wenig geweint. Sie versuchte, aus seinen Erklärungsversuchen schlau zu werden. Aber es war alles zu kompliziert, und sie fühlte sich für diese plötzliche Offenbarung seines Gefühlslebens viel zu ausgebrannt.
Ihr Blick glitt über die Häuserzeile, blieb an Topfpflanzen auf Fensterbänken und verblassten Graffiti hängen und verfing sich dann erneut an dem Liebespaar, das sich immer noch ungestüm küsste. Aus dem seit Kurzem wieder hip gewordenen Plattenladen an der Ecke, dessen Eingangstür sperrangelweit offen stehen blieb, wenn ein Kunde sie nicht mit Gewalt hinter sich zuzerrte, dröhnte ein alter Popsong:
Yeah, it 's so cold
Bevor es Lea gelang, aus reinem Selbstschutz auf Durchzug zu schalten, bohrten sich die Strophen durch ihre Gehörgänge in ihren Kopf. Herrgott, warum war dieses Album nicht längst zu Staub zerfallen? Als würde jemand dafür bezahlt, den richtigen Soundtrack für diese verfahrene Szene zu liefern.
»Ich versteh dich nicht,Adam«, sagte sie schließlich mit matter Stimme. »Wozu dieses ganze Theater? Du hättest mich doch gar nicht erst belügen müssen. Schließlich hatte ich gar keine andere Wahl, als mich deinem Willen zu beugen.«
»Du hörst mir nicht richtig zu, Lea«, antwortete er sanft. »Ich habe in diesem Spiel viele Karten offen auf den Tisch gelegt. Nur dass ich dich benutzt habe, um eine gewisse Aufmerksamkeit zu erregen, habe ich geleugnet. Aber nicht etwa, weil ich befürchtete, dass du dich weigern könntest mitzuspielen. Sondern weil ich mich selbst belogen habe.«
Er hielt inne und strich einige Croissantkrümel von Leas Oberschenkel, doch es fühlte sich eher wie eine zärtliche Berührung an. Damit Adam die Hand dort nicht liegen ließ, überschlug Lea die Beine, und er zog sie zurück, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Aber er presste kurz die Lippen aufeinander, eher er weitersprach. »Ich habe mir eingeredet, dass du ein Werkzeug bist, das ich nur richtig einsetzen muss. Damit mein Plan aufging, musstest du ganz mit unserer Beziehung beschäftigt sein. Davon einmal abgesehen, wärst du weniger überzeugend als meine Gefährtin gewesen, wenn ich dich eingeweiht hätte. Anstatt mich verliebt anzusehen, hättest du eine beleidigte Miene aufgesetzt, und jeder hätte erkannt, dass deine Begleitung erzwungen war.«
»Verliebt angeschaut? Ich bitte dich! Meine Begleitung ist erzwungen«, warf Lea wenig überzeugend ein.
Zum ersten Mal, seit Adam das Zimmer in Pis Haus betreten hatte, schenkte er ihr wieder einen direkten Blick. Das dunkle Grün in seinen Augen funkelte auf und verursachte ein Prickeln mitten in Leas Solarplexus, das sich wie ein Lavastrom in Richtung Dekollete ausbreitete. Augenblicklich schlich sich ein wissendes Lächeln auf Adams weiterhin von Anspannung gezeichnetes Gesicht. »Findest du es nicht ein wenig dick aufgetragen, mich als Lügner hinzustellen, während du selbst gerade dabei bist, mir Märchen aufzutischen?«
Ein Schatten legte sich über das grüne Funkeln, als Lea schweigend abwinkte, anstatt sich auf ein Wortgefecht einzulassen. Im Gegensatz zu ihrem Körper hatte sie einfach keine Energie mehr für solche Neckereien übrig, selbst wenn sie Adam damit ein Lächeln zu entlocken vermochte.
Adam kniff sich ins Nasenbein und massierte dann mit der Hand die untere Gesichtshälfte. Abschließend strich er sich über Augenlider und Stirn und seufzte tief. »Das Irrsinnige an der Lügengeschichte besteht darin, dass ich mir selbst strenge Grenzen setzen wollte, um dich auf Distanz halten zu können. Du hast nämlich so eine Art an dir, geschlossene Türen einzurennen: Du tust immer so, als könntest du kein Wässerchen trüben, und dann läuft doch alles nach deiner Nase. Allerdings muss ich zugeben, dass es bei diesem albernen Spielchen in erster Linie um meinen verletzten Stolz ging. Aber das wurde mir erst klar, als es für eine Kehrtwende fast schon zu spät war.Trotzdem habe ich sie eingeleitet, bei unserem Opernbesuch ... Erinnerst du dich an diesen Akinora?« Adam machte eine Pause. Ich habe dir nach dem Fest bei Pi erzählt, dass einige von unseresgleichen verschwinden. So wie es aussieht, ist jemand an bestimmten Exemplaren unserer Spezies interessiert. An solchen, die irgendwie aus der Gruppe herausstechen. Und was sticht mehr heraus als jemand, der dem Drängen des Dämons widersteht? Jemand, der sich weigert, die menschliche Existenz einer Frau zu vernichten, obwohl der Dämon sie erobern will? Kurzum: Wir haben die gewünschte Aufmerksamkeit erregt.«
Fast schon gewaltsam rieb Lea sich die Schläfen, um die letzten Reserven an Aufmerksamkeit aus sich herauszuholen. Zwar wäre sie lieber beim Thema Adams Gefühlswelt geblieben, damit er mit weiteren Liebesgeständnissen ihre wunde Seele streicheln konnte, aber sie begriff auch die Dringlichkeit dieser Erläuterung: Ihretwegen hatte er sich mit dem unberechenbaren Pi angelegt, während dort draußen ein Unbekannter unterwegs war, der gerade ein unschönes Interesse an Adam entdeckt hatte. Trotzdem begriff Lea immer noch nicht, wie Adams Trauer um Etienne und die Verschollenen miteinander zusammenhingen. »Du hast also Adalbert gesucht und bist letztendlich bei Akinora gelandet?«, versuchte sie sich an einer Erklärung.
Adam nickte. »So kann man das sagen. Ich weiß, dass es dir schwerfällt, die Verbindung zu erkennen - und es hat mich auch einige Anstrengungen gekostet, Pi davon zu überzeugen -, aber es ist die richtige Spur. Ich sollte ganz bestimmt nicht stolz daraufsein, doch ich bin ein guter Jäger. Akinora ist der Schlüssel zu dem Unbekannten, unter dessen Schatten sich Adalbert verkrochen hat. Der Weg, der mich hierher geführt hat, ist zu verworren, um ihn dir jetzt nachzuzeichnen. Nur so viel: Wahrscheinlich wäre ich bei meiner Suche schon bedeutend weiter, wenn ich dich Akinora wie geplant auf einem Silbertablett präsentiert hätte. Deshalb hat Pija auch so gereizt reagiert.«
Während er nach Worten suchte, mit denen sich die komplizierten Zusammenhänge schildern ließen, gab er vor, Leas Kragen zurechtzupfen zu wollen. Doch die Fingerspitzen glitten wie beiläufig zwischen Stoff und Haut und verharrten schließlich an ihrem Puls, der sofort wild zu pochen begann. Eine erregende Berührung, über deren Wirkung Adam sich nicht im Geringsten bewusst zu sein schien. Einen Augenblick später ließ er die Hand wieder sinken. Lea schaute ihr sehnsüchtig nach.
»Es treibt Pi schlicht in den Wahnsinn, nicht zu wissen, wer sich hinter dem Geheimnis verbirgt«, sagte Adam geschäftig. Aber seine Stimme verriet, dass er noch nicht wieder ganz bei der Sache war. Seine Aufmerksamkeit war auf die eigenen Fingerspitzen gerichtet, die er langsam aneinanderrieb. »Dass jemand in der Lage ist, an Pi vorbei seine eigenen Pläne durchzusetzen, hat eine Urangst heraufbeschworen. Dabei hat sich unser Freund doch unschlagbar gewähnt.«
Für einen kurzen Moment schlich sich ein Lächeln auf Adams Gesicht - offensichtlich gefiel ihm die Vorstellung eines verwundbaren Pis nach dem heutigen Erlebnis ausgesprochen gut.
»Und je schwieriger sich die Suche nach dem großen Unbekannten gestaltet, desto nervöser wird Pi. Nachdem er mich zuerst spaßeshalber bei meiner Suche unterstützt hat, ist es jetzt sein neues Steckenpferd geworden, und jede Verzögerung lässt ihn Gift und Galle spucken. Aber ich werde das Rätsel auf meine Art lösen, ohne dich Akinora als Versuchskaninchen anzubieten.«
»Was will dieser Mensch denn von mir?«
Zu Leas Bestürzung verzog Adam das Gesicht zu einem kalten Lächeln, das in Verbindung mit seinem schönen Gesicht fast übermenschlich wirkte. »Dein Blut natürlich«, sagte er trocken, während der Ausdruck in seinen Augen preisgab, wie sehr ihm dieses Geständnis zu schaffen machte. »Nur wenige Menschen sind in der Lage, den Dämon in sich zu tragen. Du bist auserwählt, aber noch nicht einverleibt - welch ein Glücksfall für einen Genforscher und seinenAuftraggeber. FürAkinora bist du die Fleisch gewordene Antwort auf die Frage nachder Unsterblichkeit, Lea. Unsterblichkeit als Forscher und als Mensch, dafür würde Akinora mehr begehen als nur schlichten Verrat.«
Während die Sonne langsam unterging und die sich zwischen den Häuserschluchten ausbreitende Kühle die Menschen zurück in ihre Wohnungen trieb, erfuhr Lea, dass der ursprüngliche Plan vorgesehen hatte, Akinora einen Deal vorzuschlagen: Etwas von ihrem Blut gegen einen Fingerzeig in Richtung seines namenlosen Sponsors. Aber dann hatte Adam sich zu einem Rückzieher entschlossen, da ihm das Risiko nur schwer abschätzbar erschien.Warum sollte sich Akinora mit einer Phiole von Leas Blut zufriedengeben, wenn sein Mentor so einflussreich und wohlhabend war, dass es nicht einmal Pi gelang, ihn trotz seiner vielfältigen Kontakte zu orten?
Mit einem Mal stockte Adams Redefluss, und Lea spürte deutlich, dass es da noch etwas gab, das sich nicht so leicht in Worte fassen ließ wie der Plan, sie als Lockvogel zu missbrauchen. Abwartend betrachtete sie Adam, der erneut die kleine Furche zwischen Stirn und Nase massierte, als wolle er eine böse Erinnerung vertreiben. Seinem verhärmten Gesicht war es deutlich anzumerken, dass ihm das nicht gelingen wollte. Dann atmete er tief ein, als wolle er sich für die Endrunde wappnen. Lea spürte, wie sie im Gegenzug automatisch die Luft anhielt, ängstlich darauf bedacht,Adam nur durch nichts von dem abzulenken, was er gleich sagen würde.
»Als ich in der Oper das gierige Funkeln in Akinoras Augen gesehen habe, ist mir plötzlich bewusst geworden, dass ich diesen Schritt unmöglich tun kann. Dich als Einsatz zu benutzen wäre ein völliger Ausverkauf dessen gewesen, was du für mich bist - und dazu bin ich nicht bereit. Als ich diese Entscheidung getroffen habe, hätte ich mich zuerst selbst ohrfeigen können. Denn was bedeutete schon dieser eine Schritt nach all den anderen, die ich bislang ohne Skrupel getan hatte? Aber ganz gleich, was mir durch den Kopf ging, ein unbekannter Teil von mir hatte längst die Steuerung übernommen.«
»Und welcher Teil von dir ist das wohl?«, fragte Lea und merkte augenblicklich, wie ihr Gesicht rot anlief. So neugierig hatte sie eigentlich nicht sein wollen.
Ungeachtet Adams anzüglichem Grinsen spiegelte sich in seinen Augen weiterhin Kummer. »Wie es scheint, hat Etiennes Liebe zum Menschsein doch tiefere Wurzeln in mir geschlagen, als geahnt. Ich würde es mal so formulieren: Deine Nähe infiziert mich immer mehr mit dem Virus Mensch.«
»Und das quält dich?«
»Ja.«
Nun war es an Lea, anzüglich zu lächeln. »Deshalb reagierst du auch immer so mürrisch, wenn es darum geht, dass du plötzlich schlafen kannst.«
»Themenwechsel«, murrte er, wie erwartet. »Wir haben ein Problem, weil ich Akinora auf deine Fährte gebracht habe ...«
»Warum ist dir die Sache mit dem Schlaf so peinlich?«, bohrte Lea beharrlich weiter und zupfte Adam am Ärmel, weil dieser einfach nur stur geradeaus blickte.
»... und Pi wird nach unserer heutigen Unterhaltung sicherlich auch nicht die Füße stillhalten ...«
»Du machst ein Gesicht, als hätte ich meinen Finger auf eine Wunde gelegt. Zu schlafen und zu träumen ist doch etwas ganz Wunderbares.« Lea bemühte sich um einen unschuldigen Gesichtsausdruck, als Adam sie wütend anfunkelte. Du kannst ruhig knurren, dachte sie sich. Dass du mich nicht beißen wirst, habe ich längst begriffen.
Nachdem es Adam nicht gelungen war, Lea niederzustarren, fuhr er fort. »Ja, genauso wunderbar wie die Liebe. Und auf die bin ich ja schon immer ganz besonders scharf gewesen. Aber ehe wir beide jetzt anfangen, uns gegenseitig Kosenamen zu geben und Liebesschwüre in dieParkbank zu ritzen, sollten wir uns besser überlegen, wie wir dich aus der Schusslinie bekommen. Akinora ist hier das kleinere Übel, denn bislang kennt er lediglich deinen Vornamen und weiß, dass du mit Literatur zu tun hast.«
Bei dem Gedanken an die unangenehme Unterhaltung mit dem Asiaten schüttelte es Lea kurz.Warum hatte sie diesem Menschen unbedingt ihren Titel auf die Nase binden müssen? Ansonsten wäre sie jetzt nichts weiter als ein Gesicht oder, besser gesagt, ein mit genetischen Informationen angereicherter Zellhaufen, an den er unbedingt herankommen wollte.
»Du solltest die Stadt verlassen, bis ich hier alles geklärt habe und Pi wieder besänftigt ist.«
»Augenblick mal«, unterbrach Lea Adams übereifrige Planung. »Nachdem du mich in diesen Schlamassel reingezogen hast, willst du mich jetzt einfach abschieben? Ich weiß, dass du dazu neigst, das Kommando an dich zu reißen. Aber zufällig führe ich ein eigenständiges Leben, das nicht in dem Moment abgeschaltet wird, wenn du die Bühne verlässt.«
»Der Verlag kommt auch ein paar Wochen ohne dich aus«, erwiderte Adam ungerührt. »Dir steht doch sicherlich noch der gesamte Resturlaub der letzten Jahre zur Verfügung.«
Zu diesem Punkt schwieg Lea sich lieber aus. »Ich lasse mich doch von dir nicht auf den Verlag reduzieren. Du weißt rein gar nichts über mein Privatleben, weil wir beide, seit wir uns kennen, nicht einen normalen Satz miteinander gewechselt haben ...«
»Du kannst die Katze mitnehmen, wenn du willst«, bot Adam mit unergründlichem Gesichtsausdruck an. Nicht die leiseste Spur von Außenbezirk und überlegst dir in Ruhe, wo du hinmöchtest. Am besten an einen Ort, wo du noch nie gewesen bist und der dich auch nicht im Geringsten interessiert. Solche Spuren sind am schwersten zu verfolgen. Megan wird genug Bargeld für eine längere Reise dabeihaben.«
Bei diesem Satz erwachte Lea wieder aus ihrer Lethargie. »Megan?«, echote sie ungläubig. »Du willst mich nicht nur ins Exil, sondern wohl auch in den Wahnsinn treiben! Das kannst du dir abschminken, mein Lieber. Ich sehe ein, dass ich mich eine Zeit lang zurückziehen sollte.Aber bevor ich Megan als meinen Schutzengel akzeptiere, schlitze ich mir lieber die Pulsadern auf und biete Akinora demütig meinen Gencode an.«
»Megan wartet bereits in deiner Wohnung auf dich«, entgegnete Adam so gelassen, als hätte Lea eben keinen Widerspruch eingelegt.
»Dieser kleine romantische Ausflug war also nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver, damit Megan genug Zeit hat, meine Sachen nach Dingen zu durchwühlen, die ihrer Einschätzung nach für unseren Roadtrip notwendig sind?«
»Genau.«
»Du bist so ein elender Lügner«, zischte sie und ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie ihre Zähne in seinen Unterarm versenkt, der immer noch locker zwischen ihnen hing. Stattdessen bemühte sie sich, all die drängende Entrüstung in ihre Stimme zu legen. »Adam, ich weiß, du kannst deine Ohren perfekt auf Durchzug stellen, aber ich sage es dir jetzt trotzdem noch einmal: Vergiss es!«
Er funkelte sie zornig an, aber Lea dachte gar nicht daran, auch nur einen Zoll nachzugeben. So starrten sie sich eine Weile an, bis Adam schließlich den Bann brach, indem er laut durch die Nase schnaubte. Dann stand er auf und machte eine altmodische Verbeugung vor Lea.
»Bedeutet das, dass du nachgibst?«, fragte sie ungläubig.
»Weißt du, Lea, ich würde alles tun, damit du jetzt endlich die Klappe hältst und ohne weiteren Widerstand mit mir kommst«, antwortete er und setzte dabei ein würdevolles Gesicht auf. In seinen Augen blitzte es jedoch listig - nur war Lea zu abgekämpft, um über ihre Beobachtung weiter nachzusinnen.
Nachdem er sich ihrem Willen gebeugt hatte, war es ihr eigentlich ganz recht, sich einfach von ihm den Arm um die Hüfte legen zu lassen und zum Auto zurückzukehren. Schweigend genoss sie seine Nähe und seinen verführerischen Duft, der seinen Weg durch die klare Frühlingsluft in ihre Nase fand.