30. Dunkle Fluten
Tatsächlich neigte sich die Decke der Höhle an einigen Stellen gefährlich tief herunter, so dass sie ausweichen und einen Umweg in Kauf nehmen mussten. Einen Teil der Strecke verbrachten sie auf dem Bauch robbend, wobei Felsvorsprünge ihr Haar streiften, sich ins Fleisch bohrten und Haut abschürften. All das geschah in vollkommener Finsternis.
Immer wieder streckte Lea die Hand aus, um Adam nicht zu verlieren. Sie konzentrierte sich so sehr auf den Klang seiner Atmung, der ihr zum Leitfaden geworden war, dass sie die lebensgefährliche Lage mehr und mehr verdrängte. Kein Gedanke hatte mehr Platz in ihrem Kopf neben den leichten Schallwellen, wenn Adams Brust sich hob und senkte.
Sie weigerte sich, darüber nachzudenken, ob es Etienne Carriere jemals gelingen würde, sich aus dem Unterwasserkäfig zu befreien.Gelegentlich taten sich Löcher im Boden oder vielmehr in der Decke auf, aber sie verdrängte jede Überlegung, ob dort unten vielleicht noch jemand lauerte oder sich ebenfalls auf den Weg gemacht hatte. Auch für den Gedanken, wie sie überhaupt hinausgelangen sollten -denn nirgends war Raum zu fliehen. Sie wollte noch nicht einmal wissen, ob Adam sich wirklich in der absoluten Finsternis orientieren konnte.
Rückblickend konnte Lea nicht sagen, wie lange sie sich robbend ihren Weg gebahnt hatten. Aber als Dämmerlicht in ihre Augen stach, waren zumindest zwei Fragen beantwortet: Adam war ein hervorragender Spurensucher. Und sie verließen den Zwischenraum dort, wo sie das Kabinett betreten hatten, nämlich an der Wegscheide der beiden Tunnel. Adam kletterte als Erster durch das eingebrochene Mauerwerk hindurch, dann half er Lea beim Abstieg.
Den kleinen Schrei, als ihre Füße bis über die Knöchel im eiskalten Wasser versanken, konnte Lea nicht rechtzeitig unterdrücken. Mit einem Schlag machten sich ihre angeschlagenen Nerven wieder bemerkbar, und sie verspürte einen derart schmerzhaften Stich zwischen den Schulterblättern, dass sie fast ein weiteres Mal aufgeschrien hätte.
»Ich kenne den Weg zur Garage nicht.« Noch während sie sprach, ärgerte sie sich über den jammernden Tonfall in ihrer Stimme. Was half es denn schon, jetzt in Selbstmitleid zu versinken? Der Weg war versperrt, und es ergab keinen Sinn, im Labyrinth der Gänge herumzulaufen und darauf zu warten, dass das Wasser sie verschlang.
Zu ihrer Überraschung ging Adam nicht annähernd so hart mit ihr ins Gericht wie sie selbst. Schweigend schlang er die Arme um sie, und sie genoss seine tröstende Wärme. Nach einer Weile erklang seine Stimme dicht an ihrer Schläfe: »So, wie es aussieht, brauchen wir uns zumindest keine Gedanken um die Kreaturen zu machen, die dort in den Wunderkammern lauern: Jemand hat die Zugangstür von außen verbarrikadiert und das Display zerschlagen. Uns bleibt also nur noch der Senkschacht als Fluchtweg.«
Lea löste sich ein Stück von Adam und schaute ihm prüfend ins Gesicht. Zu ihrer Erleichterung konnte sie keine Spur von Wut oder Rachegelüsten darin entdecken, nur Traurigkeit. Fast beiläufig stellte sie fest, dass er - trotz all der Anstrengungen der letzten Stunden wunderschön aussah. Nur ein paar Blessuren um die Augen herum und die aufgeplatzte Unterlippe verrieten noch die Auseinandersetzung mit Etienne Carriere.
Die Absurdität, dass das Leben der Schönheit ihres Liebsten einfach keinen Schaden zufügen konnte, zauberte Lea ein befreiendes Lächeln ins Gesicht. Doch im nächsten Augenblick entdeckte sie noch etwas anderes: Die Kraftprobe, die er in der Zelle des Professorsausgestanden hatte, lag wie ein unsichtbarer Film auf seinem Gesicht. Die Ereignisse mochten seinem Äußeren nichts anhaben können, aber sie begriff, dass sie sich in Adams Kern einbrannten. Dieses Wissen reichte ihr.
Sich an den Händen haltend, beschritten sie den dämmerigen Felsentunnel. Dabei stieg das Wasser bei jedem Schritt. Sie waren noch nicht weit gekommen, als ein erneutes dumpfes Beben das Erdreich erzittern ließ. Unvermittelt blieben sie stehen, da die spärliche Beleuchtung plötzlich ganz ausfiel. Ein Nachbeben setzte ein und ließ Gesteinsbrocken von der Decke regnen. Wie durch ein Wunder wurde keiner von ihnen ernstlich verletzt. Es gesellten sich lediglich einige frische Abschürfungen und blaue Flecke zu den anderen dazu. Bei Adam mehr, weil er sich im letzten Augenblick noch schützend über Lea gebeugt hatte.
Als endlich die Notbeleuchtung ansprang, sagte er unnötigerweise: »Das ist gar nicht gut.« Denn sie hatte dasselbe gespürt: den Triumphschrei freigesetzter Macht. Was auch immer aus der Sammlung des Kollektors noch in der Lage war zu atmen, nun konnte es sich frei bewegen. Plötzlich wünschte sich Lea, dass die Eingangstür nicht nur verrammelt, sondern zusätzlich noch von einer Steinlawine verschüttet worden wäre.
»Wie kannst du dem Dämon nur widerstehen?«, fragte sie Adam, der immer noch beschützend die Arme um sie gelegt hatte. Er lächelte. Dieses schiefe Lächeln, das nur ihr allein gehörte.
»Das Angebot des Dämons war nicht so gut wie deins.«
»Mein Angebot?«, erwiderte sie unsicher.
»Mhm.« Er unterband ihren Versuch, ein wenig Abstand zwischen sie zu bringen, indem er sie noch fester an sich zog. »Das Angebot vorhin in der Höhle, als du dich so verführerisch unter mir gewunden hast ... Ich habe mich seit meiner Verwandlung noch nie so menschlich gefühlt. Sieht ganz so aus, als wäre ich der Erste, der dem Dämon gegenüber einen Sündenfall begangen hat. Besteht nicht die größte Sünde darin, sich von seiner Gottheit abzuwenden?« Er lachte leise und ließ eine Hand verspielt über ihren Rücken wandern. »Vielleicht sollte ich dich fortan Eva nennen ...«
Augenblicklich spannte sich jeder einzelne Muskel in Leas Körper an. »Der Senkschacht«, sagte sie heiser, auch wenn es ihr schwerfiel, den Zauber des Augenblicks brechen zu müssen.
Adam lockerte den Griff. »Keine Ahnung, wie wir den hinaufkommen sollen. Keine Ahnung, ob wir es überhaupt bis dahin schaffen.«
Lea verpasste ihm einen leichten Klaps gegen die Brust. »Wenn hier jemand die Hoffnung aufgeben darf, dann ja wohl ich! Schließlich kommen meine Lungen im Gegensatz zu deinen nicht ohne Sauerstoff aus.Wenn dir also an meinen Verführungskünsten gelegen ist, dann solltest du dich ernsthaft zusammenreißen.«
Adam lachte. »Na, dann«, sagte er und nahm erneut ihre Hand. »Hier unten riecht es nach Salz und Algen. Vielleicht finden wir ja doch ein Weg nach draußen.«
Solange es ihnen möglich war, stolperten sie eng nebeneinander durch den halb verschütteten Tunnel.
Adam hatte die Stimmen schon lange vor Lea gehört. Plötzlich hatte sich der Druck seiner Hand verstärkt, aber er hatte nichts gesagt und war einfach weiter vorangegangen. Inzwischen erschwerte das Wasser ihnen jeden einzelnen Schritt. Eiskalt umspielte es ihre Knie und stieg beängstigend schnell an - obwohl sich der Tunnel nach oben neigte. Vereinzelte Felsbrocken unter der dunklen Wasserflut drohten zu Stolperfallen zu werden, doch bislang war es Adam, der immer einen halben Schritt vorausging, gelungen, Lea sicher zu führen.
Zuerst hatte sie lediglich ein Zischen vernommen, das die Wände vor ihnen verzerrt zurückwarfen. Dann hallten ihr einzelne Wortfragmente entgegen. Irgendwo im Tunnel diskutierten zwei Personen miteinander. Oder vielmehr ereiferte sich die eine, während die andere knappe Entgegnungen von sich gab.
»Ein Elend, dass diesem Elektroschocker der Saft ausgegangen ist.« Lea bemühte sich inständig um einen mutigen Tonfall. Adam blickte ihr prüfend ins Gesicht, ehe er zustimmend nickte. Trotzdem glaubte sie ein Zögern zu erkennen, als durchschaue er ihre tapfere Fassade. Nun, sie würde auf keinen Fall zurückbleiben, bis er die Angelegenheit im Alleingang gelöst hätte. Wer zurückblieb, würde sich ruck, zuck in eine Wasserleiche verwandeln. Ausgerechnet die hatte sie immer schon am fürchterlichsten gefunden.
»Er trägt so viel Last nicht«, hörten sie Randolfs melancholische Stimme erläutern, während sie einen steilen Abhang hinaufkletterten.
Das Wasser hatten sie auf den letzten Metern hinter sich gelassen. Aber der Weg hinter ihnen bot keine Rückzugsgelegenheit mehr. Über ihren Köpfen schien der Abhang in ein Plateau überzugehen. Licht leuchtete ihnen entgegen, künstlich und kalt.
»Vielleicht sollten wir versuchen zu verhandeln«, flüsterte Lea kaum hörbar. Adam runzelte die Stirn, als wäre ihm eine direktere Lösung lieber. Doch sie legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Unterarm, und sie tauschten einen Blick aus: Sie würden noch einen Augenblick verharren und versuchen, sich ein besseres Bild von der Lage dort oben zu machen.
»Alles nur zum Trotz. Nur zum Trotz, jawohl!«, klagte die singende Stimme des Kollektors. »Und dabei muss es rasch gehen, hinauf ins Licht. Glaubt er denn, der Kollektor wolle in aller Ewigkeit gemeinsam mit den Objekten durch die Dunkelheit schweben? Wohl kaum. Hinaufgeht's, gemäß der Losung. Und nun aber hurtig!«
»Kein Problem«, erwiderte Randolf. »Wollen zuerst Sie oder das Objekt befördert werden?«
»Er will einfach nicht begreifen! So ein herrliches Stück ohne Aufsicht dort oben, was für eine idiotische Vorstellung. Und das, nachdem der Kollektor fast seine ganze Sammlung eingebüßt hat. Solch ein schwerer Schlag, und er sträubt sich hier so widerborstig. Trotz, jawohl!«
»Wir können ruhig hier stehen bleiben und diskutieren, bis uns das Wasser eingeholt hat. Für mich führt sowieso kein Weg mehr nach draußen.«
»Ihm ist schwindelig«, ließ der Kollektor mit bebender Stimme verlauten. Es folgten ein Ächzen und ein Geräusch, als wäre jemand unsanft auf den Boden aufgeschlagen.
Adam nahm diese Worte als Startzeichen und überwand die letzte Distanz so behände, dass Leas Augen ihm kaum zu folgen vermochten. Abgehängt!, dachte sie und setzte ihm sogleich nach.
Als sie sich über die Kante stemmte, musste Adam gerade von Randolf mit aller Kraft zurückgestoßen worden sein. Der Riese machte zwar einen angeschlagenen Eindruck - den linken Arm hielt er fest an den Körper gepresst und auch sein Stand wirkte unsicher -, dennoch ging er in eine Abwehrhaltung über. Nur sein Gesicht blieb seltsam ausdruckslos, als kümmere ihn der bevorstehende Kampf nicht länger.
Adam fing sich sofort wieder und begann Randolf zu umkreisen. Anstatt sich ausschließlich auf seinen Gegner zu konzentrieren, flog Adams Blick immer wieder zu dem Stahlkäfig hinüber, der einladend an einem Aufzugsseil baumelte, das in einen engen, dunklen Schacht führte.
Leas Augen hingegen blieben an Agatha hängen, die, lediglich mit einem transparenten Camisole und einem mit Rüschen besetzten Höschen bekleidet, die Wände abtastete. Es war ihr ein einziges Rätsel, wie dieses verhuschte Geschöpf auf den kompliziert geschnürten Wedges halten konnte - und das auch noch auf unebenem Grund. Wie gewohnt, kümmerte sich Agatha herzlich wenig um ihre Umgebung. Eigentlich gehörte sie mit ihrem entrückten Gesichtsausdruck in das Ambiente einer dieser Science-Fiction-Serien aus den 60er-Jahren, dachte Lea.
»Gerade erst geliefert«, erklärte der Kollektor, der auf einem Vorsprung saß. Kurz deutete er mit seinem Fächer auf Agatha, dann fächelte er sich wieder Luft damit zu. Genau wie sein neuestes Objekt beeindruckte ihn der gerade eröffnete Zweikampf der beiden Männer, der nur ein paar Schritte von ihm entfernt stattfand, nicht sonderlich.
»Hat Randolf einiges gekostet, seine Hand an dieses Prachtexemplar zu legen. Hätte der Tiger ruhig einmal darauf hinweisen können, dass ein passendes Gegenstück existiert, und noch dazu solch ein wehrhaftes. Exemplare, die einander durch Erkennen zugetan sind, sind bekanntlich nur schwierig zu trennen. Nun, der gute Randolf hat das Problem mit der anderen Hälfte des Objekts auf seine Weise gelöst, so dass der Kollektor sich darüber nun nicht mehr den Kopf zerbrechen muss. Jammerschade.« Er seufzte ergeben, während Agatha urplötzlich eine kunstvolle Pirouette drehte. »Nun, zumindest war es das wert.« Mit betont langsamen Bewegungen richtete Lea sich auf und ging in Richtung des schmalen Stahlkorbs, darauf bedacht, Agathas selbstversunkene Kreise nicht zu stören. Unterdessen hatte Randolf einen fluchenden Adam zu fassen gekriegt und schlug dessen Kopf mehrere Male gegen die Felswand. Bei diesem Anblick änderte Lea augenblicklich ihre Laufrichtung, um Adam zu Hilfe zu eilen, bis das Dröhnen eines Schusses sie unvermittelt zum Stehen brachte.
Der Kollektor hatte den Fächer auf den Knien abgelegt und hielt nun eine kleine altertümliche Waffe in der Hand. »Hübsches Stück, nicht wahr?«, sagte er angesichts Leas nachdenklicher Miene, die Augen erfüllt mit Besitzerstolz. »Gehörte einst Maman, sie hatte eine Schwäche für derartige Apparaturen.«
»Das ist keine gute Idee mit der Schießerei«, sagte Randolf und zog tatsächlich die Stirn kraus. Er ließ Adam los, der benommen in sich zusammensackte und den Oberkörper auf den Oberschenkel sinken ließ. »Die Detonation ist zu laut. Das nächste Beben könnte den Schacht verschütten.«
»Schwarzseher«, entgegnete der Kollektor und winkte müde ab. »Nun schnappe er sich endlich das Objekt, und dann möge es aufwärtsgehen.«
Randolf zuckte gleichgültig mit den Schultern, um im nächsten Moment ein schmerzerfülltes Stöhnen zwischen den Zähnen hindurchzupressen. Offensichtlich hatte es ihm Macavity wirklich nicht leicht gemacht, ihm sein Spielzeug wegzunehmen.
Auf das Schmerzgeräusch reagierte Agatha wie auf ein Codewort: Mitten in der Bewegung fror sie die Pirouetten ein und verharrte wie ein Gefahr witterndes Reh. Ihre leeren Augen betrachteten den vor ihr liegenden Raum, und schon in der nächsten Sekunde sprang sie den Abhang hinunter und verschwand in der Dunkelheit.
Der Kollektor schrie entsetzt auf und schickte der Geflüchteten einen Pistolenschuss hinterher. »Fängt er es wohl wieder ein!«, brüllte er Randolf an.
Doch der Riese machte nicht die leisesten Anstalten, hinter Agatha herzujagen. Stattdessen lauschte er konzentriert in den Raum hinein, und wie zur Antwort ertönte ein tiefes Brummen. Irgendwo im Steinmassiv setzte sich etwas in Bewegung, ganz gemächlich. Mit unbeirrbaren Fingern fraß es sich durchs Gestein.
Der Kollektor ließ ein frustriertes Stöhnen vernehmen. Mit hölzernen Bewegungen richtete er sich auf und hielt auf den Abhang zu. Als Lea in sein Blickfeld geriet, blieb er plötzlich stehen. Er richtete die Waffe auf sie und zeigte auf den Stahlkorb.
»Ohne Kollektor keine Sammlung!«
Lea hätte vor Wut aufheulen mögen, als sie sich in Bewegung setzte.Warum lief es stets darauf hinaus?
In der Ecke rappelte sich gerade Adam wieder auf, was auch Randolf mit einem resignierenden Schnaufen bemerkte. Er drehte Adam einen Arm auf den Rücken und half ihm auf diese brutale Art auf die Beine.
Unterdessen bugsierte der Kollektor eine zähneknirschende Lea in den Stahlkorb und trat anschließend selbst hinein. Er platzierte sich seitlich hinter Lea und bohrte ihr drohend die Waffe in den Rücken, so dass eine abgefeuerte Kugel direkt ihren rechten Lungenflügel durchschlagen würde.Vielleicht wäre es doch besser gewesen, das Geschenk des Dämons anzunehmen, dachte sie verzweifelt. Unsterblich zu sein war in dieser verrückten Welt nicht unbedingt das Verkehrteste.
Der Kollektor griff an ihr vorbei und verriegelte die Tür. Zuvor glitt sein sehnsüchtiger Blick noch einmal den Abhang hinunter. Doch Agatha war verschwunden. Dafür ertönte irgendwo im Tunnel ein mächtiges Grollen und Tosen, das unleugbar auf sie zuhielt.
Der Riese war gemeinsam mit Adam zum Schalthebel gegangen und hatte diesen bereits umlegt. Adams vor Entsetzen geweitete Augen hingen an Lea, als der Stahlkorb vom Boden abhob.
»Er kann dann ja später nachkommen«, sagte der Kollektor großzügig an Randolf gewandt. Aber in sein Gesicht hatte sich ein Lächeln geschlichen, als hätte er eben einen guten Witz gemacht.
»Ich glaube nicht«, entgegnete Randolf und gab unvermittelt Adams Arm frei. Augenblicklich preschte der auf den Stahlkorb zu, die Arme weit vorgestreckt.
In dem Moment, als der Stahlkorb im Schacht verschwand, erfüllte ein ohrenbetäubendes Dröhnen das schmale Plateau. Als werde sie von einer magischen Hand angetrieben, brauste eine schwarze Flut den Schacht empor. Der vorauseilende Schall merzte jedes andere Geräusch aus, als das Wasser sich mit Gewalt seinen Weg bahnte: eine riesige Wasserschlange, die den Stahlkorb wie eine leichte Beute im Vorbeieilen verschluckte.
Bevor Lea das Ausmaß der Gefahr erkennen konnte, war ihr zum Schrei aufgerissener Mund mit Wasser gefüllt. Doch all das war nichts im Vergleich zu der Panikattacke, die sie erfasste, als ihr der Sauerstoff auszugehen drohte. Hirn und Lungen drohten zu implodieren.
Einen Augenblick später durchstieß der Korb die brodelnde Wasseroberfläche, und Lea schnappte verzweifelt nach Luft. Dann glitt der Stahlkäfig zurück ins kalte Nass. Sie wurde erneut gegen den Kollektor geschleudert, der kraftlos neben ihr hertrieb.
Während unter ihr die Schwärze gähnte, streckte Lea sich im aufgewühlten Wasser nach der Helligkeit aus wie eine Blume nach der Sonne. In ihrer Verzweiflung stieg sie auf den Körper des Kollektors als notwendigen Untergrund, um den Wasserspiegel zu durchbrechen. Zwischen Stahl und Wasser war gerade genug Platz für ihren Kopf.
Einige Male atmete Lea gierig ein, als ginge es darum, ausreichend Luft für einen weiteren Tauchgang zu speichern, bis sie feststellte, dass der Pegel langsam sank. Das Wasser wich zurück, und die Luft, die ihre Haut berührte, war ein warmes Versprechen.
Trotzdem verharrte sie in dieser Position, die Hände um die Stäbe gekrallt und ganz aufs Atmen bedacht, während der Rest ihres Körper mit dem Pegel des Wassers auf die Längsseite des Stahlkäfigs niedersank, die nun zum Boden geworden war. Die Kälte hatte ihre Glieder geschwächt, und sie war zu keiner weiteren Kraftanstrengung mehr fähig.
Als einige leichte Stöße den Käfig erzittern ließen, gelang es ihr nur mühsam, die Augenlider zu heben. Die Umgebung war vollkommen verschwommen. Ein erneutes Reißen an den Gitterstäben sorgte dafür, dass ihre klammen Finger abglitten. Ihr Oberkörper schlug nach hinten, der Kopf fiel gegen den Kollektor.
Jemand berührte ihre Schulter.
»Komm zu dir, Lea. Wir müssen uns beeilen.« Adams Stimme klang rau und abgehetzt, aber auch voller Sorge.
Lea blinzelte und sah einen klitschnassen Adam vor sich, der sich mit einem Fuß auf dem Käfig abstützte, während der andere Halt auf einem schmalen Vorsprung in der Felswand gefunden hatte.
Versonnen betrachtete sie ihn, als sei er eine Heil bringende Erscheinung, zu schön, um wahr zu sein. Was für eine Willensanstrengung war notwendig gewesen, um den Käfig noch rechtzeitig zu erreichen und ihn im Wasserstrudel nicht wieder loszulassen? Während sie vollkommen erschöpft um jeden einzelnen Atemzug gekämpft hatte, musste er sich zwischen Käfig und Wand hindurchgezwängt haben.
Unendlich viele Worte schössen Lea in diesem Moment durch den Kopf, aber kein einziges davon fand seinen Weg über ihre Lippen. Es waren keine echten Worte, sie ließen sich nicht einfangen und verschenken. Und doch waren sie da, tief in ihrem Innersten.
Mit steifen Bewegungen drehte sie sich auf die Seite, um sich Adam entgegenzurecken. Durch die Anstrengung wurde ihr schlecht, und sie mnsstp würopn Fin Schwall Wasspr sr.hnss ans Mund und Nasp und landpfp dirpkt auf dem Hintprkonf HPS Knllpktnrs dpr <;irh opradp
wieder zu bewegen begann. Als Adam sie voller Ungeduld unter der Achsel packte und sie hochziehen wollte, geriet der Käfig bedrohlich ins Wanken.
»Verdammt!«, zischte Adam und zog sich blitzschnell zurück.
Lea blickte in sein vor Anspannung blasses Gesicht, dann folgte sie seinem Blick: Der Käfig war durch den hohen Druck des Wassers seitwärts in den sich nach oben verjüngenden Schacht gerammt worden.Vom Aufzugsseil war keine Spur zu entdecken, es musste gerissen sein, als der Käfig an den Steinwänden entlanggepresst worden war.
Schlagartig wurde ihr bewusst, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Schwerkraft ihren Tribut einfordern und der Käfig zurück in das eiskalte Wasser stürzen würde. Und selbst wenn es ihr dann noch gelingen sollte, dem Käfig zu entkommen, so boten die abschüssigen Wände keine Möglichkeit, hinaufzuklettern. Dafür war das Wasser längst zu weit abgesunken. Eine falsche Bewegung, und sie würde elendig ertrinken.
Ein unmöglicher Energieschub durchpeitschte Leas Körper, und sie richtete sich vorsichtig auf, darauf bedacht, den Käfig nicht unnötig zu erschüttern. Das Ende des Schachts leuchtete ihr lockend entgegen.Wenn Adam sie ein Stück weit anhob, würde sie ihn vielleicht erreichenkönnen. Mit beiden Händen umfasste sie die Stangen seitlich der Öffnung. Nun musste sie nur noch durch die geöffnete Tür hinaus zu Adam klettern. Einer seiner Arme wartete ausgestreckt auf sie, und seine Lippen bewegten sich unentwegt, als wolle er sie lautlos anfeuern.
Doch ehe sie die rettende Hand fassen konnte, wurde sie von hinten am Saum des Pullovers gepackt. Der leichte Ruck reichte aus, damit eine Kante des Käfigs mit einem in den Ohren schmerzenden Schaben an der Wand entlangkratzte.
Lea fror jede einzelne Bewegung ein, selbst denAtem hielt sie an.
»Der Kollektor zuerst«, wisperte die Stimme unter ihr.
»Okay«, sagte Lea und ließ sich so langsam, dass ihre Muskeln schmerzten, wieder ein Stück zurücksinken.
Dann tat sie etwas, das sie bis eben noch für unmöglich gehalten hätte: Ihre Hände schnellten hervor und umfassten den Kopf des Kollektors. Instinktiv fand ihr Daumen das noch lebende Auge. Alles in ihr wurde taub. Lea drückte zu. Sie zwang sich, die Schreie ihres Gegners und das bedrohliche Zittern des Käfigs zu ignorieren. Sie richtete sich auf und griff nach Adams ausgestreckter Hand. Als sie sich an ihn klammern wollte, packte er sie bereits und stemmte sie mit einer kraftvollen Bewegung den Schacht hinauf. Sie hob die Arme hoch und bekam den Rand des Schachts zu fassen. Mit Adams Unterstützung zog sie sich darüber und robbte, auf dem Bauch liegend, in Sicherheit.
Sie verharrte nur einenAugenblick, dann blickte sie über den Rand des Senkschachts und sah zu, wieAdam die Eingangstür des Käfigs.
Mehr brauchte es nicht: Der Stahlkäfig befreite sich aus der Umarmung des Schachts und schlug mit seiner zeternden Fracht im dunklen Wasser auf, wo er rasch versank.