27. Ein kleiner Tod
Unter anderen Umständen wäre Lea durchaus versucht gewesen, Adalberts von rot schillernden Narben übersätes Gesicht noch die eine oder andere Verschönerung angedeihen zu lassen für das, was er ihr soeben angetan hatte. Stattdessen schritt sie benommen neben ihm her. Nicht ein böses Wort fand den Weg über ihre Lippen.
Es hatte sie zutiefst schockiert, mit anzusehen, wie leicht der Dämon Oberhand über den Professor gewinnen konnte. Wenn selbst der Menschenfreund Carriere hier die Beherrschung verlor, was würde dann erst mit dem leidenschaftlichen Adam passieren?
Zum ersten Mal gewannen Adams Worte für Lea an Bedeutung: In dieser Höhle war sie nicht länger die Gefährtin, die er sich selbst erwählt hatte, sondern eine scheue Beute, die es zu stellen galt. Ganz gleich, wie wahnsinnig der Kollektor sein mochte - wenn es darum ging, den Dämon hervorzulocken, blitzte sein Genie auf. Wahrscheinlich war dies die besondere Gabe, die ihm der Dämon zuteilwerden ließ, auch wenn er ihn nicht vollends beherrschen konnte.
Unter gesenkten Augenlidern warf Lea Adalbert einen kurzen Blick zu. Vielleicht hatte dieser von Rachsucht getriebene Mann ihr sogar einen Gefallen getan, als er sie zu Etienne Carriere in die Zelle sperrte: So hatte sie Gelegenheit gehabt, ihrem Schicksal ins Auge zu blicken. Von allen Gefahren, die im einsturzgefährdeten Höhlenlabyrinth lauerten, war Adam mit Abstand die schlimmste.
In Gedanken versunken, schritt Lea durch die Gänge, während das Brüllen und Locken aus den Zellen erneut aufbrandete. Als Lea aus der Schleuse trat, sah sie derartig erschüttert aus, dass Randolf sich trotzAdalberts abfälligem Schnaufen dazu bemüßigt fühlte, ihr kurz die Hand auf die Schulter zu legen und zu sagen: »Ist ja nichts passiert.«
»Nein«, erwiderte Adalbert an Leas Stelle. »Das große Finale steht schließlich auch unserem Freund Adam zu. Wenn Lea erst einmal verwandelt ist, sperren wir die drei Verdorbenen in eine gemeinsame Kammer, in der sie sich dann gegenseitig in den Wahnsinn treiben können.«
Aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, bereitete der Gedanken Adalbert nur wenig Freude. Wahrscheinlich würde er in dem Moment, wenn Lea getötet oder verwandelt war und Adam seinem alten verwirrten Freund gegenüberstand, in eine Depression
verfallen.Was konnte man dann noch an Schmerz herauskitzeln, welche Erniedrigungen anzetteln? Sein Leben würde eindeutig an Wert verlieren.
Plötzlich blieb Adalbert stehen und mit ihm auch Randolf, als habe er den lautlosen Befehl erhalten, alle Bewegungen augenblicklich einzustellen. Nur Lea lief noch einen Schritt weiter, bevor Randolfs Hand, die noch immer auf ihrer Schulter lag, sie so unvermittelt zum Stehen brachte, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Sie kam sich vor wie ein Hund, der im vollen Lauf feststellt, dass das Ende der Leine erreicht ist.
Gereizt warf sie einen Blick in die Runde. Adalbert wand sich und rieb unablässig seine Wurstfinger aneinander, bis sie glaubte, es quietschen zu hören. Dann nahm er militärisch zackig Haltung an und blies die Wangen auf.
»Der Besuch hat dem alten Burschen gutgetan, oder was denken Sie? In der letzten Zeit ist er ein wenig eingerostet ... Ich würde mal behaupten, dass Ihre Anwesenheit sein Blut richtig in Wallung gebracht hat. Ab und an braucht er das einfach. Einen Anreiz, um an alten Zielen festzuhalten und die Schönheit des Menschen wiederzuentdecken.«
»Das kann man in solch einer perfekt hergerichteten Kammer schon mal vergessen«, erwiderte Lea trocken, aber Adalbert steckte die Anspielung mühelos weg und präsentierte stattdessen sein selbstzufriedenes Lächeln.
»Ich schulde Ihnen etwas, meine Liebe«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf sie. Dann setzte er sich wieder in Bewegung, die Schulternstraff, der Gang strotzend vor Überheblichkeit. Wenn er jetzt beschwingt zu pfeifen anfängt, falle ich ihn von hinten an, schwor sich Lea.
Sie passierten ein knappes Dutzend weiterer Metalltüren und einige dunkle Schächte, hinter denen Lea ähnliche Höhlen vermutete wie die, in der Adam auf ihre Rückkehr wartete. Immer wieder durchbrach ein besonders lautes Gebrüll oder sinnliches Flüstern das allgemeine Stimmengewirr und verriet, dass der jeweilige Kerker bewohnt war. Zwar spürte sie noch das Zerren des Dämons, doch seine Intensität ließ allmählich nach. Zu oft hatte dieses Rufen sie innerhalb der letzten Stunden gestreift, so dass die Ekstase einen faden Beigeschmack angenommen hatte.
»Wenn der Dämon sie heimsucht und sie vollkommen außer Rand und Band sind, ist das die reinste Musik in meinen Ohren«, erklärte Adalbert ungefragt. »Diese arrogante Brut bildet sich so viel darauf ein, das AUerheiligste zu beherbergen, aber dient sie ihm auch?« Ein verächtliches Zischen fand den Weg über seine Fischlippen. »Aber hier unten werden sie zum vollkommenen Tempel des Dämons. Und wenn dann mal der Duft von Menschenblut den Weg in ihre Nasen findet, braucht es nur einen Atemzug und der Dämon bricht hervor. Schöner und prächtiger als jede verdammte Oper!«
Lea warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu und wunderte sich nicht im Geringsten, einen Anflug von Wahnsinn in seinen Zügen zuerkennen. Zu allem Überfluss rieb er sich erneut die schwitzigen Hände.
»Lust, noch das ein oder andere Objekt zu begutachten, ehe es zurück in die Höhle des Löwen geht?«, fragte er beflissen. »Wir hätten da eine ganz außergewöhnliche Fischfrau in einem Wassertank zu bieten. Oder vielleicht doch lieber den Extrem-Fakir, der sich unentwegt die Haut vom Leib schneidet? Wir haben natürlich auch so etwas Profanes wie ein wandelndes Lexikon im Angebot. Vielleicht nicht ganz uninteressant für Sie als Freundin des Buches? Wie gesagt, nach einer Zeit hier unten erblühen sie alle in ihrer einzigartigen Schönheit.«
»Kann mich gar nicht entsinnen, dass der Hinweg auch so lange gedauert hat«, murmelte Lea, als Adalbert sich gerade Luft in die Lungen pumpte.
»Sie können es anscheinend nicht erwarten, vonAdam vernascht zu werden«, erwiderte er scheinbar amüsiert, aber sein verkniffenes Gesicht verriet, wie wenig er ihre ungebührliche Art schätzte.
Eigentlich war es naiv von ihr, Adalberts Redefluss zu unterbrechen. In Anbetracht des wilden Aufruhrs, der in den Kerkern herrschte, wurde ihrschmerzlich bewusst, was sie nach ihrer Rückkehr in die Höhle erwarten würde: Über kurz oder lang würde Adam in diesem artgerechten Gehege seine Menschlichkeit verlieren und damit dem Dämon gestatteten, jederzeit seinen Thron zu besteigen.
Bei diesem Gedanken umklammerte Lea Randolfs mächtigen Arm. Adalbert schnaufte gereizt und zog ihr den Sack über den Kopf, doch sobald sie die Gänge aus Beton mit ihren summenden Leuchtstoffröhren hinter sich gelassen hatten, nahm er ihn wieder ab. Sie durchschritten einen Stollen im nackten Felsen. Der Lichtkegel der Taschenlampe, mit der Adalbert den Weg beleuchtete, zuckte unruhig auf und ab. Hinter einer Biegung kam schließlich der Vorsprung mit dem Regiestuhl zum Vorschein. Lea bohrte vor lauter Furcht ihre Nägel in Randolfs Fleisch, was der Riese kommentarlos geschehen ließ.
Auf dem Regiestuhl hatte der Kollektor bereits Platz genommen, die mit Samtschlappen versehenen Füße auf einem Schemel abgelegt und ein Opernglas in der behandschuhten Hand haltend.
»Wird aber auch Zeit!«, sagte er schnippisch und dekorierte eine Haarsträhne über dem toten Auge, allerdings ohne den gewünschten Erfolgzu erzielen. »Unser Objekt hat sich in den felsigen Dschungel zurückgezogen. Dieses alternative Gehege ist ein einziges Ärgernis: Die Scheinwerfer sind einfach nicht in der Lage, das Gelände hinter den Felsen auszuleuchten!«
»Vielleicht kommt der Kerl ja hervorgekrochen, wenn der hintere Teil der Höhle endgültig in sich zusammenbricht«, sagte Randolf gleichgültig.Wie ein Schraubstock hielt er nun Leas Oberarm umfasst, nachdem sie beim Anblick des Kollektors unwillkürlich zurückweichen wollte. »Der Knall vorhin hat uns sicherlich ein paar weitere Objekte gekostet. Bricht alles zusammen hier. Sollen wir den da unten verlegen? Allerdings ist die andere große Höhle schon geflutet... Kann ihn ja trotzdem erst einmal holen ...«
Maiberg drehte sich erwartungsfroh um und blinzelte den Riesen durch die Brillengläser an. Bislang hatte er neben dem Schemel des Kollektors gekauert und konzentriert in die Dunkelheit gestarrt, als könne er einen Blick auf Adam erhaschen, wenn er nur fest genug daran glaubte.
Vielleicht hätte jemand Maiberg erzählen sollen, dass Adam unverhofft an ein paar Kleidungsstücke geraten war, dachte Lea.Trotz der bedrohlichen Situation konnte sie sich angesichts dieses schmierigen Fieslings nicht zurückhalten und schenkte ihm ein anzügliches Lächeln, wobei ihre Zungenspitze langsam über die Lippen glitt. Maiberg kräuselte die Oberlippe und zeigte eine Reihe gelber Pferdezähne.
»Papperlapapp«, sagte der Kollektor und wedelte mit dem Opernglas umher, das dabei ein leises Quietschen von sich gab. »Er freut sich nun schon den ganzen Tag lang darauf! Die Sklavin war die Pflicht, jetzt folgt die Kür. Hat alles seine innere Logik - man muss sie nur erkennen! -, und lieber will er verdammt sein, als das Spiel zu unterbrechen. Jede weitere Verzögerung raubt dem Finale nur seine Intensität!« Nachdenklich musterte er Lea. »Sie könnte doch dort unten im schönsten Lichte angeflockt werden, unser kleines Lämmchen. Ein wahres Opferlämmchen.«
Als der Kollektor sein glockenhelles Lachen hören ließ, bereute es Lea zutiefst, jemals Verständnis für diese elende Kreatur aufgebracht zu haben. Adam hatte recht gehabt: vollkommen verrückt und verachtenswürdig. Doch diese späte Erkenntnis half ihr wenig. Gleich würde man sie nach dort unten schicken, und der Kollektor würde voll auf seine Kosten kommen.
»Ach, was soll's.« Er winkte lässig mit dem Opernglas ab, während er sich mit der freien Hand eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. »Notfalls werden ein paar Leuchtraketen in dieses steinige Durcheinander geschossen. Aber nach der wunderbaren Vorstellung, in der die Sklavin sehr kunstvoll ausgeblutet ist, glaubt der Kollektor kaum, dass der Tiger seine Beute im Dunklen schlägt.«
Ein leises Aufstöhnen kam über Leas Lippen. Ihr Fuß hatte sich in einer Erdspalte verfangen, groß genug, um sie zum Stolpern zu bringen. Zuvor waren ihre Augen unablässig auf die Felsformationen am anderen Ende der Höhle gerichtet gewesen, dort, wo Schatten und Stein das Licht auffraßen. Doch von Adam war nicht die geringste Spur zu sehen gewesen.
Nun stellte sie fest, dass die Erdspalte nicht nur überraschend breit, sondern auch mit Wasser gefüllt war. Der Wasserlauf, der sich durch die Höhle zog, war angeschwollen: Er war über sein Bett getreten und flutete mit seinem schwarzen Leib die Ufer. Feine Nebenarme suchten sich einen Weg durchs Geröll, versickerten in Erdspalten.
Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass mit dem Fußknöchel alles in Ordnung war, ging sie vorsichtig den Strom entlang. Die Öffnung in der Felswand, durch die das Wasser in die Höhle eindrang, hatte sich vergrößert. Am oberen Rand war ein großes Stück Fels herausgebrochen, das dunkle Wasser ergoss sich unter Druck wie eine horizontal ausgerichtete Fontäne. Das Loch in der gegenüberliegenden Wand reichte bei weitem nicht mehr aus, um die heranströmenden Wassermengen abfließen zu lassen.
Lea blieb vor der Einbruchsteile stehen, durch die das Wasser in die Höhle gelangte. Bei genauerer Betrachtung bemerkte sie die vielen glänzenden Stellen in der Felswand: Der Stein war durchlässig geworden wie ein Haarsieb. Hinter der Wand musste sich eine Wasserblase unbekannten Ausmaßes befinden. Und wie es schien, gelang es der Höhlenwand nicht mehr lange, dem Druck standzuhalten.
Sie dachte an den Knall, den sie während der Teezeremonie mit Professor Carriere gehört hatte, und fragte sich beklommen, was wohl noch alles in diesem instabilen Höhlensystem ins Wanken geraten war. Zwangsläufig wurde sie sich wieder des enormen Drucks bewusst. der die ganze Zeit über ihren Körper zu zerquetschen drohte.
Nicht nur dem Kollektor läuft die Zeit davon, dachte sie und bemühte sich, ihre rasche Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Langsam wurde sie ein richtiger Profi, was den Umgang mit abstrusen Situationen anbelangte.
Ein Stein, der irgendwo hinter ihr auf den Boden schlug, unterbrach den Gedankengang. Lea zuckte zusammen und richtete ängstlich den Blick auf die Höhlendecke in der Erwartung, auch dort Risse zu sehen. Doch die Decke schien unversehrt.Trotzdem schlug ein weiterer Stein mit einem Knall auf.
»Dummes Lämmchen!«, hörte sie den Kollektor rufen, die Stimme voller Ungeduld und Belustigung. »Das ist doch die falsche Ecke. Dort hinüber soll sie gehen, dorthin, wo es so angenehm dämmerig ist, und zwar hurtig! Ihm fällt das lange Sitzen trotz des Kissens heute unangenehm schwer, also gilt es keine Zeit zu verlieren.Versteht sie das?«
Und schon schlug ein weiterer Stein zu Boden. Wie ein Querschläger sprang der Kiesel hoch und traf Lea am Schlüsselbein. Der Schmerz war lediglich ein Ziepen, aber Maibergs hocherfreutes Grinsen angesichts dieses Treffers setzte ihr zu. Diese Ratte presste sich an den Regiestuhl des Kollektors, warf einen weiteren Stein lässig in die Luft und fing ihn wieder auf. Eine herausfordernde Geste. Eine Frechheit! Sie ging in die Hocke und suchte den Boden nach geeigneter Munition ab, während der Kollektor unbeirrt vor sich hin schimpfte.
Gerade als Lea sich aufrichten wollte, glaubte sie, einen Schatten hinter einem Felsen zu erkennen. Schlagartig war alle Angriffslust getilgt.
Warum gehst du nicht einfach zu ihm?, fragte eine ausgesprochen naiv klingende Stimme.
Großartige Idee, hielt eine andere entgegen. Als ob ich mit Sicherheit sagen könnte, wer dort hinter den Felsen seine Runden zieht.
Adams Bedarf, die Gelüste des Kollektors zu bedienen, ist sicherlich gedeckt. Deshalb hat er sich verkrochen. Vielleicht macht ihm auch noch das Betäubungsmittel zu schaffen, das Adalbert ihm unter die Haut gejagt hat.
Was hat Adalbert denn getroffen, seine Zunge vielleicht? Oder warum kann er mich dann nicht einfach zu sich rufen?
Er ist sicherlich verletzt, weil du vorhin Hals über Kopf geflohen bist. Du solltest auf ihn zugehen!
Lea stöhnte. Es war vergebliche Liebesmüh, sie konnte sich weder gegen ihr schlechtes Gewissen noch gegen ihre Sehnsucht stemmen. Wider alle Vernunft fühlte sie sich von der Dunkelheit auf der anderen Seite der Höhle magisch angezogen. Wahrscheinlich gab es in jeder Herde ein Lamm, das dumm genug war, dem Wolf von selbst ins Maul zu springen und sich dabei auch noch zu entschuldigen, das es so lange gebraucht hatte.
Mit zittrigen Beinen ging Lea zu den Resten des Bündels zurück, die auf dem Boden verstreut lagen, und breitete die Isomatte aus. Dem Vorsprung, der zu einem Logenplatz für ein sensationsgeiles Publikum geworden war, drehte sie den Rücken zu. Die Arme fest um die Beine geschlungen, versenkte sie das Gesicht in der Armbeuge.
Ein Herzschlag.
Aus weiter Ferne hallend.
Ein tiefes Rot.
Instinktiv legte Adain den Kopf in den Nacken, während sich die kühle Luft wie ein Tuch über sein Gesicht legte, ihm ein Geheimnis zuspielte.
Der Duft von Karamell und Orangenschale ...
Der Dämon lächelte.
Lea lag zusammengerollt auf der Seite und lauschte ihrem eigenen Herzschlag. Stetig und tröstend.
Eine Zeit lang hatte es auf dem Vorsprung eine rege Diskussion gegeben. Schließlich war man aber übereingekommen, dass das große Finale wahrscheinlich noch auf sich warten ließ. Unterstützt wurde diese Entscheidung durch einen Kabelbrand, der die Scheinwerfer außer Gefecht gesetzt hatte. Der dabei entstandene Funkenflug hatte einige Haarsträhnen des Kollektors in Glut aufgehen lassen, so dass seine Geduld ein von Schimpftiraden begleitetes Ende fand.
Nachdem Randolf einen mobilen Scheinwerfer angeschleppt und mithilfe eines kleinen Generators zum Laufen gebracht hatte, war Maiberg mit der Aufgabe betreut worden, die Szenerie im Auge zu behalten und bei Bewegung sofort Nachricht zu geben. Seitdem waren die Stunden ereignislos verstrichen.
Lea war sich nicht mehr sicher, ob sie zwischendurch einmal eingeschlafen war. Zumindest gaukelte ihr Körper ihr vor, dass das verinnerlichte Alarmsystem funktionierte und sie auf die kleinste Veränderung in der Umgebung aufmerksam machen würde. Warum also nicht ein wenig schlafen?
Als sie eine sanfte Berührung an ihrem Scheitel spürte, schlug sie sofort die Augen auf. Sie hob den Kopf so weit an, dass sie über die Armbeuge blicken konnte. Doch da waren nur schwach beleuchtete Felsen und Wasserlachen, die sich zunehmend ausdehnten. Trotzdem glaubte sie, eine Liebkosung im Nacken wahrzunehmen. In die abgestandene Luft der Höhle schlich sich ein Hauch von Schnee. Fast unmerklich. Und doch rief es Leas Sehnen wach.
Langsam richtete sie sich auf und schaute hinauf zum Vorsprung. Maiberg hatte es sich im Regiestuhl des Kollektors bequem gemacht und schlief. Ohne ein Geräusch zu verursachen, kam sie auf die Füße und dehnte sich ausgiebig. Dann wartete sie noch einen Augenblick, bis sich ihre Augen an das dürftige Licht gewöhnt hatten, das den Grund der Höhle erreichte. Als sie vor den Felsen stand, hinter denen ein anderes Reich lag, zögerte sie kurz.
Dann trat sie in die Dunkelheit ein.
Augenblicklich glaubte sie unzählige Münder zu spüren, die ihre Haut mit Begrüßungsküssen bedeckten. Aber als sie ihre Hand ausstreckte, berührte sie lediglich kalten Stein. Die Luft verwob sich, wurde dichter. Ein metallisch schwerer Duft stieg auf, ein Aphrodisiakum, für das es in Leas Welt keinen Namen gab. Es umfing sie, wiegte sie in seidenen Bahnen, brachte ihr Blut zum Singen.
Verwirrt stöhnte sie auf und versuchte, im flackernden Schwarz eine Silhouette auszumachen. Ihr Gehör registrierte empfindlich jedes Geräusch, aber es wollte ihm nicht gelingen, neben dem Rauschen des Wassers und dem Arbeiten des Steins etwas herauszufiltern, auf das sie hätte zuhalten können. Und doch verrieten alle Nervenbahnen unter ihrer Haut, dass Adam in der Nähe war, sie beobachtete, sich näherte. Plötzlich legten sich von hinten zwei Hände um ihre Schultern, und nur im letzten Moment gelang es ihr, einen Schrei zu unterdrücken.
Eine Flut von Verlangen und Angst riss sie mit sich fort, während Adam mit den Lippen Haarsträhnen von ihrem Nacken strich, bevor er spielerisch leicht zubiss. Dann verwandelte sich die Liebkosung in einen leichten Kuss, aus dem sogleich wieder ein Biss wurde. Nicht annähernd kräftig genug, um sie zu verletzen. Dennoch spürte sie die Gefahr, die sich hinter dem verspielten Gebaren versteckte. Trotzdem blieb sie stehen und schwieg. Denn bei jeder einzelnen Berührung flammte ein überreiztes Brennen auf, zerfraß die letzten Barrikaden und vernichtete jeden Widerstand mit einem nicht löschbaren Feuer.
»Du wirst nicht mehr fortlaufen?« Obwohl Adam es mit seiner ruhigen Stimme wie eine Frage formulierte, war es doch eine Feststellung.
Lea fand nicht einmal die Kraft zu nicken. Ihr Körper zitterte, entzog sich ihrer Kontrolle. Eine Glutspur wanderte vom Nacken hinab über den Rücken und setzte ihre Lungenflügel in Brand. Sie gab sich hin und erwartete zugleich den scharfen Schmerz, wenn Adam die Haut an ihrem Hals zerreißen würde, um an die Opfergabe für den Dämon zu gelangen. Innerlich trat sie einen Schritt zurück und betrachtete sich selbst als Gefäß, das gebrochen werden musste.
Adams Mund liebkoste ihre Schlagader. Hingebungsvolle Küsse, gefolgt von der Berührung seiner Zähne.
Sie würde stillhalten, ihn gewähren lassen. Endlich würde das verlockende Tasten, das ihr ständig einen Vorgeschmack auf Erlösung versprach, aufhören. Mit einem gezielten Biss würde Adam alldem ein Ende bereiten. Was konnte es Erfüllenderes geben, als sich in einen Strom zu verwandeln? Samtig fließende Essenz des Lebens. Zuerst ein mächtiges Rauschen, später nur noch eine Erinnerung in der Unendlichkeit des Dämons. Als Belohnung lockte duftendes Dunkel und das Versprechen, auf ewig Teil von etwas Unsterblichem zu sein.
Lea nahm kaum wahr, wie ihre Beine nachzugeben drohten und ihre Atmung immer schwächer wurde. Alles in ihr sehnte sich danach, von Adam in Besitz genommen zu werden, sich mit ihm zu vereinigen. Auch wenn es nur für einige wenige Atemzüge sein mochten, bis der letzte Tropfen ihrer Opfergabe versiegt war.
Doch während sie auf den erlösenden Biss wartete, reifte zugleich die Erkenntnis, dass sie den Kuss des Dämons trotz all seiner Herrlichkeit nicht wollte. Er mochte lodern wie eine entstehende Sonne und zugleich ganze Welten vernichten, aber in Wahrheit sehnte sie sich nach etwas anderem. Sie sehnte sich nach dem, was sich hinter all dieser überbordenden Pracht und den Verführungskünsten verbarg.
Wie ein letztes Aufbegehren wanderte Leas Hand nach hinten und unter den Stoff, der Adams Hüfte bedeckte. Als sie die fiebrige Haut berührte, stieg ein Triumphgefühl in ihr auf: Sie würde standhalten und sich nicht dem Dämon opfern, weil Adam sie als Gefährtin an seiner Seite wollte. Dieses Wissen breitete sich wie eine Flut aus und löschte das feurige Verlangen, sich zu ergeben.
»Liebstes«, flüsterte Adam zwar zärtlich, dennoch einen verräterischen Hauch zu besitzergreifend. Dabei versenkte er das Gesicht in ihren Haaren, nur um gleich wieder aufzutauchen und mit der Zungenspitze die Nackenwirbel entlangzufahren.
Ein feiner Stromschlag durchfuhr sie und ließ sie nach Luft schnappen, während sie in Adams Umarmung zurückkehrte. Eine schreckliche Erkenntnis nahm Gestalt an: TrotzAdams Nähe war das Locken des Dämons für einen Moment lang stärker gewesen. Beinahe hätte der Dämon sie mitgenommen ... wie ein Kind, das an der Hand eines Fremden mitging. Während Adam seinen Körper an ihrem rieb und seine Hände über ihre Hüften wanderten, erschrak Lea über die Macht des Dämons.
Langsam umkreiste Adam sie, bis er genau vor ihrem Gesicht zum Stehen kam. Sie spürte seinen Atem auf ihren Wangen. Seine Finger liebkosten ihr Schlüsselbein, dann überflogen seine Hände die Konturen ihres Körpers. Mit einer fließenden Bewegung streifte er ihr die Strickjacke von den Schultern, und sie seufzte. Noch eine Sekunde länger und sie wäre verglüht.
Adams Blick war auf ihr Gesicht gerichtet. Sie konnte die Erwartung und die Lust in diesen grünen Augen erkennen. Doch sie war viel zu überwältigt, um den Blick direkt zu erwidern. Seine Berührungen, sein Duft und die berauschend schönen Konturen seines Gesichtes stürzten sie in einen Sinnestaumel. Langsam schloss sie die Augenlider. Ihre Lippen öffneten sich einen Hauch und fanden im nächsten Augenblick Adams. Einladend kamen sie ihr entgegen. Trotzdem war da ein kurzes Zögern - einenAtemzug lang -, als horche er in sich hinein. Dann erwiderte er den Kuss mit einer Leidenschaft, die Lea zu übermannen drohte. Seine Hand vergrub sich in ihrem Haar, und er spannte es um seine Finger. Sein Arm umfing ihre Taille, presste sie an sich, als wolle er mit ihr verschmelzen, die letzte Distanz überbrücken.
Ich habe dich erkannt, du bist mein.
Der Kuss war eine Aufforderung, der Befehl, Einlass zu gewähren. Zu akzeptieren. Alles in Lea ging in Flammen auf. Wie Widerhaken bohrten sich ihre Finger in Adams Fleisch, gleichgültig wo sie sich hineingruben. Hauptsache, er konnte ihr nicht entkommen. Ein Grollen stieg ihre Kehle empor, ein uralter Schlachtruf. Sie riss die Augen auf, und die Dunkelheit um sie herum wich dem Glühen, das ihr Innerstes heimgesucht hatte.
Da war Adam, direkt vor ihr. Still, abwartend. Das Gesicht wie leer gewischt.
Lea griff in sein Haar, zerrte den Kopf zur Seite und keuchte auf.Wartete darauf, dass die Stimme des Dämons sich verdichtete, ihr Anweisungen zuraunte. Dann erkannte sie das Ziel: Unter Adams Haut pulsierte Leben, ein anderes Leben. Es gehörte Lea. Sie musste es sich nur nehmen, erobern. Wer neugeboren werden will, muss auch gewillt sein, zu zerstören.
Blindlings grub Lea ihre Zähne in Adams Fleisch, gleichgültig ob sie ihn damit verriet. In diesem Augenblick brach der letzte Damm, und der Dämon schlug über Lea wie eine Flutwelle zusammen. Ein Wirbel aus phosphoreszierendem Blau riss sie in die Tiefe, verkehrte das Oben mit dem Unten. Eine neue Welt tat sich auf, schillernd unter der Wasseroberfläche. Sie löste Lea auf, verschlang sie, nahm sie in sich auf.
Im Auge des Strudels hielt die Zeit auf einmal an.
Wen willst du, Lea ?
Dich ... Adam.
Dann solltest du ihn rufen.
Und Lea rief.
Ihre Lungen füllten sich mit Wasser. Sauerstoff zersprengte in tausend aufsteigende Blasen. Schlieren, verwischend, wirbelnd. Ein Mahlstrom, aus dessen schwarzer Tiefe die Hand eines Unsichtbaren nach ihr zu greifen versuchte, um sie mit hinabzureißen. Die Berührung brannte wie Eis, war schnell und bestimmt. Sie packte Lea so fest, als wolle sie ihr ein Zeichen in die Haut stanzen. Mit jedem Meter, den sie vom Wasserspiegel fortgezerrt wurde, spürte sie, dass diese Hand mit ihr verschmelzen wollte. Sie würde sie nicht nur mit in ihr Reich nehmen, sie würde Lea in ihr Herrschaftsgebiet verwandeln.
Da sah Lea einen Ankerpunkt in diesen blauen Wirren. Etwas, das verlockender war als dieser berauschende Sog. Ein Blick aus grünen Augen, ganz schmal vor Lachen. Die Erinnerung kehrte zurück und mit ihr die Liebe und das Sehnen nach etwas, das lebendiger war als die Unendlichkeit. Lea presste die Augen zusammen und schrie mit letzter Kraft erneut Adams Namen.
Jäh fand sie sich atemlos am Ufer wieder, allein, die tosende Brandung beobachtend. So stand sie da und schaute auf das unendliche Meer, dessen Gefangene sie eben noch gewesen war.
Dann blinzelte Lea.
Als sie die Augen erneut öffnete, sah sie Adams Haut, violett verfärbt, aber nicht zerrissen. Sie spürte ein leichtes Brennen, wo die Rauheit seines Bartschattens sich in ihre Lippen gegraben hatte. Zögernd löste sie sich von ihm, betrachtete seine geschlossenen Lider, eine wirre Haarsträhne, die an seiner Schläfe klebte. Sie lockerte ihre Finger, löste sich von ihm, soweit ihr das bei seiner Umarmung überhaupt möglich war.
»Adam«, sagte Lea, als spreche sie seinen Namen zum ersten Mal aus.
Weiter kam sie nicht, da seine Lippen sich sofort wieder auf ihre senkten. Gleichzeitig löste sich der Griff um ihre Taille. Adams Finger suchten sich einen Weg unter den Stoff, streichelten ihren Bauch. Im nächsten Moment zogen sich seine Lippen zurück, um ihr den Pullover über den Kopf zu ziehen. Bevor Lea protestieren konnte, glitten seine Lippen über ihr Dekollete bis hinab zum Bauchnabel, während er langsam auf die Knie sank. Atemlos starrte sie auf seinen Haarwust hinab, erst dann begriff sie, dass die neckende Zunge auf ihrer Haut nur ein Ablenkungsmanöver war, während seine Hände ihr die Hose über die Hüften streiften. Im nächsten Moment folgte die Zungenspitze dem gleichen Weg.
»Adam!«
AlsAntwort erschallte ein vergnügtes Lachen. Nur kurz klang es auf, dann widmete sichAdam ganz anderen Dingen. Völlig gebannt hielt Lea inne, während das eben erst Erlebte schon zu schaler Vergangenheit geronnen war. Hier war Adam, ihr Adam, und er scherte sich im Augenblick zweifelsohne einen Dreck um die Machtspiele des Dämons. Stattdessen wirkte er so frei und selbstbestimmt wie nie
Als Adam immer noch keine Anzeichen machte, aus ihren Tiefen aufzutauchen, gab sie sich noch einen Moment seinen Verführungskünsten hin, ehe sie sich zu ihm hinunterließ. Herausfordernd sah Adam sie an. Dabei umspielte dieses anzügliche Lächeln seinen Mund ... dieses Lächeln, das Lea jedes Mal um den Verstand brachte.
»Weißt du noch, was du damals über das Erkennen gesagt hast?«, fragte er. »Ich meine, was es wirklich bedeutet ... Wäre jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, damit anzufangen?«
Sein Gesichtsausdruck gefiel ihr: verführerisch, frech, vielleicht eine Spur zu selbstsicher. Passend zu den Sommersprossen, die Lea trotz der Dunkelheit auf seinen Wangen und der Nasenspitze wusste.
»Ausziehen«, sagte sie streng und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Brust. »Sofort.« Und Adam gehorchte.