7. Unter Wasser
Die ersten Tage nach Adams Wiederkehr bescherten Lea das Gefühl, in einer schalldichten Taucherglocke gefangen zu sein, während der Ozean des Alltags wie ein seltsames Meereswesen stumm und gemächlich an ihr vorbeizog. In den Nächten wagte Lea es kaum, die Augen zu schließen.
Immer wieder fuhren ihre Fingerspitzen über das zarte Narbengeflecht, das die Salzsäure ihr in Wange und Ohrmuschel gebrannt hatte, so wie die Erinnerung an diese Nacht ihre Seele gezeichnet hatte.
Morgens stellte Lea der Katze einen vollen Napf hin und stolperte in den Verlag, wo alles Geschehen an ihr vorbeirauschte. Geduldig saß sie ihre Zeit ab und starrte handlungsunfähig auf den Bildschirm ihres Rechners. Wenn sie dann abends in ihrer Wohnung vom Blinken des Anrufbeantworters begrüßt wurde, bescherte es ihr jedes Mal Magenkrämpfe, ehe sie endlich den Mut fand, die Abhörtaste zu drücken. Aber es war stets nur Nadines Stimme zu hören. Paralysiert lauschte sie der zuerst fragenden, bald wütenden und zum Schluss verunsichert klingenden Stimme ihrer einzigen Freundin, unfähig, den Hörer aufzunehmen und sie zurückzurufen.
Lea sah sich außerstande, mit Nadine über die Nacht in der Bar zu sprechen. Allein der Versuch hätte bedeutet, auch über andere Nächte zu sprechen. Vollkommen unvorstellbar. Gewiss könnte sie Nadine eine Beziehungsgeschichte auftischen, die an den gewalttätigen Neigungen ihres Geliebten gescheitert war - eben jenem atemberaubenden Mann in der Bar, den sie nun nach langer Zeit wiedergetroffen hatte. Diese Lüge und die unzähligen anderen, die sie sich in ihrer Verzweiflung ausdachte, waren eine süße Verführung. Denn sie sehnte sich danach, mit ihrer Freundin über Adam zu reden. Sie wusste jedoch nur allzu gut, dass jede Annäherung an dieses Thema zwangsläufig dazu führen würde, Nadine auch von dem quälenden Schmerz in ihrer Brust zu erzählen, weil die Sehnsucht nach diesem Mann sie in den Wahnsinn trieb.
Lea sah Nadines verwirrtes Gesicht förmlich vor sich, das Nichtbegreifen sowie Mitleid verriet. Ihre Freundin war zwar eine starke Persönlichkeit, aber für ein solches emotionales Chaos war sie einfach nicht die richtige Ansprechpartnerin, redete sich Lea aus Feigheit ein. Wahrscheinlich würde Nadine, ohne mit der Wimper zu zucken, ihre Anwältin per Direktwahl anrufen, damit Adam das bekam, was -wenn es nach Nadine ginge - jeder aufsässige Mann verdient hatte: eine lebenslängliche Auszeit. Außerdem schämte sie sich für ihre
Das Wochenende begrüßte Lea mit Nieselregen. Ihr graute vor den freien Tagen, von denen sie nicht wusste, wie sie sie am schnellsten hinter sich bringen sollte. Der Gedanke, weiterhin in einem Netz widerstreitender Gefühle gefangen zu sein, war wenig erfreulich.
Während sie in einer Höhle aus Decken und Kissen auf dem Bett ihrer melancholischen Stimmung nachhing, tauchten mit einem Mal zwei spitze Katzenohren über dem Bettrand auf. Es folgte ein lebensbejahender Blick aus funkelnden Katzenaugen, der Lea sofort ein schlechtes Gewissen machte. »Du hast ja recht, Minou«, sagte sie. »Ich muss aufhören, meine Lebenszeit zu verschwenden.« Energisch strampelte sie die Decke von sich, schlüpfte in ihre Sportsachen und schnappte sich den iPod.
Wie an jedem Morgen liefen, radelten und skateten die Menschen kreuz und quer durch den Park, mit ihrer bunten Regenbekleidung lauter Farbtupfer auf den weit ausladenden Wiesen und Spazierwegen.Trotz des Regenwetters tobten zwischen den Baumalleen die Kinder, und Hunde ignorierten die Anweisungen ihrer Besitzer.
Lea zog die Baseballkappe tiefer ins Gesicht und drehte die Lautstärke auf, bis ihr der Gitarrenriff von Seven Nations Army fast das Trommelfell zersprengte. Aber sie wollte die Umgebung ausblenden, einfach laufen, bis sich zumindest ein von freigesetzten Endorphinen geschaffenes Glücksgefühl einstellte. Nach der langen Taubheit wollte sie endlich wieder sich selbst spüren, auch wenn sie dafür ihren untrainierten Körper antreiben musste.
Anfangs richtete sie den Blick stur auf die weiß aufblitzenden Schuhspitzen und versuchte, sich ausschließlich auf die Atmung zu konzentrieren. Aber schon nach kurzer Zeit tauchte die Erinnerung an das Wiedersehen mit Adam auf. Sie schulde ihm etwas, hatte er gesagt. Dieser elende Mistkerl! Und was schuldete er ihr? Nur so etwas Läppisches wie Seelenfrieden. Sie hatte nicht nur allein mit dem ganzen Wahnsinn fertig werden müssen, sondern auch mit dem Verlust ihrer großen Liebe. Hatte er überhaupt die geringste Ahnung, wie schmerzvoll und zugleich leer ihr Leben seitdem war?
Ohne es zu bemerken, war Lea zunehmend schneller gelaufen, getrieben vom Rhythmus der Musik und von wütenden Gedanken. Schon lange hatte sie die Spazierwege verlassen und lief stattdessen über einen Trampelpfad, als sich plötzlich die Muskeln an ihrer linken Wade verhärteten. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus, der zwei andere Läufer vor ihr eine Kehrtwende machen ließ, um ihr zu Hilfe zu eilen.
»Ist alles okay bei dir?«, fragte einer der beiden mit rotem Gesicht, während Lea vor ihm im Dreck hockte und wimmernd das linke Bein umklammerte.
»Wadenkrampf«, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Du musst dagegen anarbeiten«, erklärte ihr der andere Läufer fachmännisch. Kurzerhand packte er Leas angewinkeltes Bein und streckte es gerade durch.
Der Schmerz schlug wie ein Blitz hinter ihren Augen ein und ließ sie erneut aufschreien. Dann ebbte der Schmerz ab. Mr. Gnadenlos griff Lea unter die Achseln und zog sie auf die Beine.
»Immer schön weitermachen«, sagte er.
Er gab Lea Hilfestellung, bis sie das pochende Bein wieder belasten konnte. Noch brannte und zuckte es, und weil es so guttat, schrie sie einfach noch einmal auf. Dann holte sie tief Luft, sagte brav »danke« und humpelte zu einem Findling am Wegesrand davon. Die beiden Läufer riefen ihr noch etwas über Magnesium und vernünftiges Aufwärmtraining hinterher, aber sie winkte nur ab. Erschöpft setzte sie sich auf den kalten Stein und suchte mit zittrigen Fingern nach dem Ausschalt-Button des iPod. Der Schweiß lief ihr zwischen den Schulterblättern hinab und sorgte dafür, dass ihr das T-Shirt am Rücken klebte. Trotz des Pochens in der Wade fühlte sie sich überraschend lebendig.
Sie würde sich damit abfinden müssen, dass Adam das tat, wonach ihm der Sinn stand. Schließlich konnte sie sich weder vor ihm verstecken noch ihm Paroli bieten. Sie war ihm in jeder Hinsicht unterlegen: sowohl körperlich als auch emotional. Wahrscheinlich schuldete sie ihm wirklich etwas ... Im Gegensatz zu ihr hatte Adam sich damals für sie entschieden, weil er sie unversehrt an seiner Seite haben wollte, obwohl ihm der Dämon unentwegt zugesetzt hatte. Lea hingegen war in einem Moment vor Liebe noch völlig von Sinnen und im nächsten schon auf der Flucht gewesen.
Vorsichtig massierte sie ihre Wade. Der Nieselregen hatte sich zu einem festen Schleier verwoben und durchnässte ihre Kleidung nun vollends. Auf der vor ihr liegenden Wiese tobten zwei Hunde, unbeeindruckt vom schlechten Wetter, durch das hohe Gras, während ihre Besitzer lediglich Schemen in der Ferne waren. Als sich die Gänsehaut auf Leas Armen nicht länger ignorieren ließ, stand sie auf und humpelte in Richtung Stadt davon.
Widerwillig gestand sie sich ein, dass es ihr unmöglich war, Adam fortzuschicken. Nicht nur, weil er sich offensichtlich keinen Deut um ihre Meinung scherte, sondern auch, weil das tiefe Drängen in ihrem Inneren sogleich wieder eingesetzt hatte, als ihr Körper seine Nähe gespürt hatte.Während all der vergangenen Jahre war dieses Sehnen wegen der Erlebnisse in Etienne Carrieres Haus verschüttet gewesen.
Letztendlich hat es nicht viel gebraucht, um dieses Sehnen erneut zu wecken, dachte Lea spöttisch, während sie beim Bäcker duftende Buttercroissants kaufte. Es hatte auch wenig genutzt, die Luft anzuhalten und darauf zu hoffen, dass bald alles besser würde. Denn es war nie besser geworden. Die letzten Jahre waren ungefähr so angenehm gewesen wie das endlose Warten in einer Bahnhofshalle.
Und so beschloss sie an diesem Samstagmorgen das Naheliegendste: Sie würde es Adam gleichtun. Sie konnte akzeptieren, dass ein unkontrollierbarer Teil sich zu ihm hingezogen fühlte, während die Vernunft sie unablässig auf die Gefahr hinwies. Die Lea jedoch, auf die sie Einfluss nehmen konnte, würde sein Spiel unbeteiligt mitspielen. Adam hatte recht, wenn er meinte, man dürfe sich dem Drängen anderer nicht ausliefem.Vielleicht war sie zu feige und zu schwach, um sich ihm zu widersetzen, aber sie war in der Lage, ihm ihre Zuneigung zu entziehen.
Den Kopf gefüllt mit diesem Schlachtplan, schaute Lea noch beim Schlachter vorbei, um etwas Tartar für Minou zu besorgen. Die Katze hatte es sich wirklich verdient.