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6. März

Während Martinez, krankheitsbedingt immer noch nicht wieder im Dienst, auf Neuigkeiten wartete, was das Disziplinarverfahren gegen ihn betraf, rief er Sam am Freitagmorgen im Büro an - dem ersten Tag, an dem er wieder voll arbeitete. »Ich habe gerade etwas Schlimmes erfahren«, sagte er. »Jessica ist tot.«

»Mein Gott«, erwiderte Sam. »Was ist denn passiert?«

Bestimmt war es Selbstmord, ging es ihm durch den Kopf, bevor er den Gedanken hätte verdrängen können.

»Da war ein Brand«, berichtete Martinez. »In ihrem Haus.«

»Du lieber Himmel.« Sam stöhnte auf. »Das tut mir schrecklich leid, Al. Die arme Jessica.«

»Ich komme gerade zurück. Hab mich mit den Jungs von der Feuerwehr unterhalten«, erklärte Martinez. »Sie wissen es noch nicht hundertprozentig, aber sie nehmen an, es könnten die verdammten Ratten gewesen sein, die an den Kabeln genagt und die Plastikbeschichtungen heruntergerissen haben, sodass es einen Kurzschluss gab. Diese Biester richten sich offenbar ständig mit Stromschlägen selbst hin, haben die Jungs mir erzählt.«

»Bleib, wo du bist, Al. Ich komme zu dir, sobald ich kann.«

»Später«, erwiderte Martinez. »Nach Feierabend ist früh genug.«

»Soll ich Bier oder Whiskey mitbringen? Oder beides?«, fragte Sam.

»Habe ich alles schon gekauft«, gab Martinez zurück.

Er nahm einen großen Schluck Whiskey, bevor er seinen nächsten Anruf bei Jessicas Eltern in Cleveland tätigte.

Monika Kowalski nahm das Gespräch entgegen, reichte das Telefon aber sofort an ihren Ehemann weiter.

George Kowalski, der Vater, der seine Tochter nach dem Filmstar benannt hatte, war Martinez gegenüber sehr höflich und erklärte ihm in einem Englisch mit starkem Akzent, dass er nach Miami käme, um Jessicas Leichnam nach Hause zu holen.

»Haben Sie mit Jessica zusammengearbeitet, Mister Martinez?«, fragte Kowalski. »Wir waren befreundet«, erwiderte Martinez.

Wenn Jessica nicht einmal erwähnt hatte, dass es ihn gab, sah er keinen Sinn darin, dem armen Mann jetzt zu sagen, dass sie verlobt gewesen waren und die Absicht gehabt hatten, zu heiraten.

»Tut mir leid, dass ich das nicht gewusst habe«, entschuldigte sich George Kowalski. »Kein Problem, Sir«, sagte Martinez. »Falls ich irgendetwas tun kann, um Ihnen bei den Arrangements behilflich zu sein, lassen Sie es mich wissen.«

»Die Wahrheit ist«, fuhr Jessicas Vater fort, »dass ihre Mutter und ich seit über einem Jahr nichts von unserer Tochter gehört haben, und damals war es auch nur eine Weihnachtskarte.«

Martinez dachte an all die Geschichten, die Jessica über sich zuhause erzählte hatte, an die märchenhaften Geschichten über ihre Besuche zu Thanksgiving und zu Weihnachten, und er dachte an die Fotos, auf denen ihre Mutter so angestrengt ausgesehen hatte, was aber der einzige Hinweis darauf gewesen war, dass das Leben bei ihr daheim nicht immer so verlaufen war, als wäre es geradewegs einem Spielfilm von Frank Capra entsprungen.

Abgesehen natürlich von ihrer seltsamen Reaktion, ihre frohe Kunde nicht teilen zu wollen.

»Sie denken wahrscheinlich, wir wären schlechte Eltern«, sagte Kowalski jetzt.

»Warum sollte ich so etwas denken?«, entgegnete Martinez.

»Das Leben mit Jessica war nicht immer einfach«, versuchte der Mann am anderen Ende der Leitung zu erklären. »Sie brauchte ständig wegen irgendetwas Hilfe. Aber manchmal war es schwer, ihr zu helfen oder sie auch nur zu verstehen. Doch wir haben sie geliebt, und wenigstens das kann ich jetzt für sie tun.«

»Viele Menschen haben Jessica gerngehabt«, sagte Martinez. »Sie war ein guter Mensch und hat anderen immer geholfen.«

»Nett, dass Sie das sagen«, erwiderte Kowalski.

Die Stille, die folgte, war körperlich unangenehm.

Martinez hielt es für an der Zeit, sich von dem armen Mann zu verabschieden, als Kowalski plötzlich sagte: »Wir haben immer gewusst, dass es zu viel für sie werden würde.«

»Was, Sir?«, hakte Martinez nach.

»Das Leben«, antwortete Jessicas Vater.

Und legte auf.

Der Arbeitstag war zu Ende, und Sam und Grace waren wieder vereint.

»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich mitkomme«, sagte Grace.

»Machst du Witze?«, erwiderte er.

Es war das erste Mal seit der Entführung, dass Martinez sie zu Gesicht bekam, und ihm fiel auf, dass sie dünner war, als er sie je zuvor gesehen hatte.

Für Sam galt das Gleiche.

»Wie kommt ihr zwei zurecht?«, fragte er.

»Ziemlich gut«, antwortete Sam. »Wir sind froh, am Leben zu sein.«

Er zuckte zusammen, kaum dass er das Wort »Leben« ausgesprochen hatte.

Martinez grinste ironisch. »Wenn ich mir nicht gedacht hätte, dass du froh darüber wärst, hätte ich mir vermutlich nicht die Mühe gemacht, den Hurensohn zu erschießen.«

Mit ein paar Flaschen Bier und einer extragroßen Pizza, die sie von unterwegs mitgebracht hatten, gingen sie nach hinten in den Garten.

Sie unterhielten sich eine Weile über den Fall, über all die Sackgassen und verschwendeten Menschenleben, und Sam sprach ein wenig über seine Schuldgefühle, dass er bei Dooley und Regan keine Spur von Bosheit entdeckt hatte. Dann aber wechselte er das Thema. Die Sache war abschlossen. Und überhaupt, sie waren wegen Martinez hier - und wegen Jessica.

Er erzählte ihnen von seinem Gespräch mit George Kowalski.

»Ich hätte gern gewusst, was er mit dieser letzten Sache meinte, die er gesagt hat - dass das Leben zu viel für sie gewesen sei, aber ich wollte nicht den Eindruck erweckten, als würde ich schnüffeln.« Trauer lag in seinem Blick. »Ich glaube, ich habe das Recht verwirkt, Jessica verstehen zu wollen, als ich ihr gesagt habe, sie solle verschwinden.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Grace mit sanfter Stimme.

»Ich auch nicht«, pflichtete Sam ihr bei.

Martinez schenkte ihnen ein trauriges Lächeln. »So empfinde ich es aber. Und ich denke, dass es Jessica lieber wäre, wenn ich sie so in Erinnerung behielte, wie sie es wollte. So wie sie vorher war, versteht ihr?«

»Klar«, erwiderte Sam.

Martinez hob seine Flasche Budweiser.

»Auf Jessica«, sagte er.

Sam hob ebenfalls seine Bierflasche. »Auf Jessica.«

»Möge sie in Frieden ruhen«, sagte Grace.

Martinez trank und wischte sich mit der Hand über die Lippen.

Seine dunkelbraunen Augen waren feucht.

»Schlaf gut, mein süßes Mädchen«, sagte er.