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In dieser Nacht änderte sich alles.
Um genau dreiundzwanzig Uhr fünf.
Da war ihr Seelenfrieden mit einem Schlag dahin.
Weil es ihr letzter Abend war, war kurzfristig Disziplin in ihr Leben zurückgekehrt. Abgesehen von den Dingen, die sie für ihre letzte Übernachtung brauchten, hatten sie alles packen und das Gepäck vor Mitternacht fertig haben müssen, damit es abgeholt werden konnte. Wie die meisten anderen Passagiere hatten auch Sam und Grace dies bereits vor dem Abendessen erledigt, damit sie sich am letzten Abend an Bord nicht mehr damit befassen mussten.
Das Gefühl, keine Pflichten zu haben, schien jeder an Bord nach Herzenslust auszukosten. Das hatten sie gesehen, als sie im bis zum letzten Platz gefüllten Stardust Grill Hochrippenbraten und Hummer gegessen hatten, und das sahen sie auch jetzt noch, als sie an einem Ecktisch in der Aurora Bar saßen und sich einen Cognac gönnten. Einige Passagiere liefen in extravaganter Kleidung umher; offenbar gab jemand auf dem Schiff eine Privatparty.
Sam hatte Grace gerade erklärt, er müsse auf Diät gehen, wenn sie wieder zu Hause waren, als sein Blick plötzlich auf eine Gestalt fiel, die sechs, sieben Meter von ihnen entfernt stand, am anderen Ende der Bar.
Es war ein Mann, ganz in Silber gehüllt, vom Scheitel bis zur Sohle.
Ein Gespenst aus der Vergangenheit.
»Du lieber Gott ...« Sam spürte, wie ihm das Entsetzen mit eisigen Klauen über den Rücken kroch. »Cooper.«
Jerome Cooper, Grace' Stiefbruder, alias Cal der Hasser. Mehrfacher Mörder und der Mann, der vor weniger als einem Jahr beinahe ihre Familie zerstört hätte.
Sam hatte Cooper nie so angezogen gesehen, ganz in Silber glänzend. Dafür hatte Mildred ihn mehr als einmal so gesehen und für dieses Privileg fast mit dem Leben bezahlt.
Grace drehte sich auf ihrem Stuhl, riss die Augen auf und entdeckte Cooper nun auch.
»Das kann er nicht sein«, flüsterte sie. »Das kann nicht sein, Sam ...«
Denn Jerome Cooper war tot.
Zumindest wurde dies gemutmaßt, denn man hatte seine Leiche nie aus dem Ozean geborgen.
Der silberne Mann bewegte sich, hatte die Aurora Bar bereits verlassen und ging in Richtung Schiffsmitte.
»Tut mir leid.« Sam sprang auf. »Ich muss das genau wissen.«
Er war weg, bevor Grace ein weiteres Wort sagen konnte.
Auf einmal erfasste sie schreckliche Furcht. Sie stand ebenfalls auf und folgte Sam. Weit vor sich entdeckte sie die silberne Gestalt, die sich rasch auf das Star Theater zubewegte. Dann sah sie, wie Sam den Mann einholte. Grace wollte schreien, lief stattdessen aber weiter. Sie rannte nicht, lief nur schnell. Dabei schlug ihr das Herz bis zum Hals, denn hier würde jeden Moment etwas Grauenvolles geschehen, das wusste sie, und nichts konnte es verhindern ...
Dabei war doch ihr Geburtstag, einer der schönsten Tage ihres Lebens!
Gedankenblitze, die ihr zeigten, wie und was geschehen könnte, schlugen vor ihrem geistigen Auge ein und versengten ihren Verstand.
Sam hatte den Mann nun eingeholt. Es sah aus, als würden die beiden sich unterhalten. Dann trat Sam einen Schritt zurück, und für eine Sekunde dachte Grace, es wäre bereits geschehen, das Schlimmste, das man sich vorstellen konnte, und so rannte sie los ...
»Das war er nicht.«
Sams Worte.
An sie gerichtet. Er stand direkt vor ihr, lebendig und unversehrt. Und der silberne Mann war verschwunden.
Das Schlimmste war doch nicht geschehen.
»Ich dachte schon ...« Grace fiel ihm um den Hals, hielt ihn ganz fest und brach in Tränen aus.
»Oh, Gracie, es tut mir so leid.« Sam küsste ihren Kopf und strich ihr übers Haar. »Wie konnte ich nur so einen Fehler machen und dir den Abend verderben?«
»Er war es wirklich nicht?« Sie löste sich von ihm und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Bist du sicher?«
»Hundert Prozent«, erwiderte Sam. »Ich habe mit ihm gesprochen. Das war nicht Cooper. Bloß ein Knabe in ausgeflippten Klamotten.«
»Gott sei Dank«, flüsterte Grace.
»Amen«, fügte Sam hinzu.