22
Sam war am Donnerstagmorgen bereits um zehn Minuten nach sieben im Opera Café. Damit hatte er jetzt massenhaft Zeit bis zum Termin, den er für acht Uhr dreißig bei der Firma Beatty Management vereinbart hatte, und das war gut so, denn ihm stand der Sinn nach einem anständigen Frühstück.
Cathy bediente gerade Kunden, die an einem der Fenstertische saßen; deshalb verkniff er sich, sie zu umarmen, und setzte sich an einen freien Tisch weiter hinten. Dooley, der in der Küche stand, sah ihn durch den gläsernen Raumteiler und winkte. Sekunden später kam Simone von der Straße herein und drückte seiner Tochter zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange, was Sam beglückte.
Er hatte das Gefühl, als wäre dies hier das Richtige für Cathy.
Sam beobachtete, wie Simone die Kunden seiner Tochter weiterbediente, und Cathy grinste ihn kurz an und machte sich dann auf den Weg in die Küche, um Dooley zur Hand zu gehen. Ihre Bewegungen waren geschickt und ruhig, und ihre Miene ließ erkennen, dass sie das Richtige gefunden hatte.
Das Mobiltelefon in seiner Jackentasche vibrierte. Sam nahm den Anruf entgegen.
Es war Martinez.
»Und?« Sam hoffte, dass er nicht um den heißen Brei herumreden musste. »Wie ist dein Abend gelaufen?«
»Ziemlich gut.«
»Wenn du am Telefon lieber nicht reden möchtest«, meinte Sam, »ich kann warten.«
»Ich will aber nicht warten«, erwiderte Martinez. »Sie hat Ja gesagt, Mann.«
»Das ist ja großartig!«, rief Sam. »Ich freue mich sehr für euch beide.«
»Ich freue mich auch, Mann«, erwiderte Martinez. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so glücklich gewesen.«
Larry Beatty war nicht in seinem Büro, als sie bei Beatty Management eintrafen, aber Allison Moore erwartete sie bereits und hatte alles zusammengetragen, worum die Detectives gebeten hatten.
»Sämtliche Akten der Galerie der letzten fünf Jahre.«
Sie hatte ihnen hinten ein Büro zur Verfügung gestellt, das sie nutzen konnten, solange sie es brauchten, und hatte die Unterlagen auf dem Teakholz-Schreibtisch ausgebreitet, auf dem außerdem eine Kanne Kaffee und ein paar kleine Flaschen Mineralwasser standen.
»Künstler ... verkaufte Werke ... Kunden ...« Moore hielt kurz inne. »Ein ganzer Haufen Fotos ist auch dabei«, sagte sie dann, »von Ausstellungen, Skulpturen und so weiter. Alles, wovon ich dachte, dass es vielleicht helfen könnte.«
»Wenn jeder so hilfsbereit wäre«, sagte Sam zu ihr, »wäre unser Leben sehr viel einfacher.«
»Ich will hoffen, dass es etwas bringt«, erwiderte Moore. »Diese armen Menschen.«
»Wahrscheinlich bringt es uns nicht auf eine direkte Spur«, erklärte Martinez, »aber es wird uns in jedem Fall helfen, einige Dinge auszuschließen.«
Moore zögerte. »Übrigens habe ich mir die alten Kataloge angesehen«, berichtete sie dann. »Ich wusste zwar nicht genau, wonach ich eigentlich suchen sollte, wenn man von dem absieht, was ich über dieses absonderliche Plastikding gehört habe - aber es gab da vor zwei Jahren mal eine Ausstellung von Acryl-Skulpturen.«
»Wo haben Sie das gehört?«, fragte Sam.
»Es steht da drin«, antwortete sie, »in einem der Kataloge.«
»Detective Becket meint, wo oder von wem Sie über das ›absonderliche Plastikding‹ gehört haben.« Martinez' Antennen waren sofort hochgefahren.
»Das weiß ich nicht mehr«, antwortete die junge Frau. »Ich glaube, es war einer der Leute von der Spurensicherung.«
Für einen Moment war es totenstill im Raum.
»Falls es irgendetwas geben sollte, was Sie uns zu sagen haben, Miss Moore«, sagte Sam dann, »wäre jetzt die beste Gelegenheit.«
»Da ist aber nichts«, erwiderte sie.
Sam beobachtete sie und sah etwas, was ausweichendes Verhalten sein konnte, vielleicht aber auch einfach nur Nervosität war, weil sie wegen eines makaberen Doppelmordes von zwei Detectives ausgefragt wurde.
»Sie haben also nichts gesehen?«, fragte Martinez.
»Man kann nämlich nie wissen, was zu Buche schlägt.« Sam ging behutsam vor.
»Nein«, antwortete sie. »Sonst würde ich es Ihnen doch sagen.«
»Und Sie können sich nicht genau erinnern, wer das ›absonderliche Plastikding‹ erwähnt hat?«, bohrte Sam weiter.
»Nein. Tut mir leid.«
»Vielleicht erinnern Sie sich später wieder daran«, sagte Martinez.
Hilflos schüttelte Moore den Kopf, und ihr rotes Haar wippte leicht dabei. »Ich hatte lediglich gehofft, ich könnte Ihnen helfen.«
»Sie haben uns bereits geholfen.« Sam wies auf die vielen Akten auf dem Tisch. »Aber eine Sache ist da noch, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Nur zu«, gab sie zurück.
»Es wurde Blut in der Villa gefunden«, teilte Sam ihr mit. »Nicht viel, und es hat sehr wahrscheinlich auch nichts mit dem Verbrechen zu tun, aber es wäre hilfreich für uns, wenn Sie uns freiwillig eine DNA-Probe überließen.«
Moore blickte ihn verängstigt an.
»Nur ein Abstrich«, sagte Sam. »Keine Blutprobe.«
»Haben Sie sich in der Galerie mal verletzt?«, wollte Martinez von ihr wissen. »In den Finger geschnitten, zum Beispiel?«
»Nein«, antwortete sie. »Nie.«
»Es braucht bloß ein kleiner Kratzer gewesen zu sein«, meinte Sam. »Etwas, das Ihnen gar nicht weiter aufgefallen ist.«
»Es ist jedenfalls besser, auf Nummer sicher zu gehen«, sagte Martinez. »Deshalb wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns eine DNA-Probe nehmen ließen.«
»In Ordnung«, erklärte sie sich bereit.
»Vielen Dank«, erwiderte Sam.
Sam und Martinez durchforsteten das gesamte Material, das Moore für sie herausgesucht hatte. Beim ersten Durchgang fanden sie nichts, was auf Anhieb von Nutzen für sie war, und in der Acryl-Ausstellung war es um Tierskulpturen gegangen, die für Sams Begriffe wie armselige Imitationen von Steubenglas aussahen.
»Wo mag Ally Moore das über die Plastikkuppel gehört haben?«, fragte Martinez später.
Sie saßen in ihrem Chevy, der an der Collins Avenue geparkt war. Touristen und Einheimische strömten an ihnen vorüber, genossen den sonnigen Spätvormittag oder suchten sich ein Lokal fürs Mittagessen, bevor manche von ihnen wieder zum Strand gingen.
»Da bin ich überfragt«, erwiderte Sam.
Keiner von ihnen nahm Ally Moore die Geschichte ab, ein Mitarbeiter der Spurensicherung habe sich verplappert, und sie habe es »rein zufällig« mitbekommen.
»Meinst du, sie hat irgendwo durchs Schlüsselloch geguckt?«, fragte Martinez. »Um es mal so auszudrücken.«
»Nein«, erwiderte Sam.
»Ich auch nicht.«
»Vielleicht hat der Gärtner, dieser Mulhoon, zuerst sie angerufen.«
»Warum sollte sie uns das nicht sagen?«, fragte Martinez.
Es war unmöglich, Joseph Mulhoon danach zu fragen, zumindest jetzt noch nicht, denn er lag immer noch im Miami General, angeschlossen an ein Beatmungsgerät.
»Vielleicht hat sie Mulhoon hinterhergeschnüffelt«, sagte Martinez, »und schämt sich jetzt, uns das zu sagen.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Sam.
»Meinst du, sie verbringt da häufiger Zeit?«
»Oder erlaubt es jemand anderem?«, meinte Sam.
Beide mussten wieder an das Blut und an das Kokain denken.
»Vielleicht hat sie sich mit ihrem Geliebten getroffen«, sagte Martinez. »Nicht gerade ein Liebesnest, aber es ist ja alles möglich.«
»Sie hat gesagt, sie fände das Haus unheimlich.«
»Hältst du sie für eine Verdächtige?«
»Nein.« Sam zuckte mit den Achseln. »Andererseits ist nichts unmöglich.«
»Ich würde eher auf Beatty tippen als auf Moore«, sagte Martinez.
»Das liegt nur daran, dass du ihn nicht leiden konntest«, entgegnete Sam.
Außerdem waren beide schon überprüft worden, und man hatte nichts gefunden.
»Ich wette, dass Beatty nicht bereit ist, einen Abstrich machen zu lassen«, sagte Martinez.
Sein Handy summte, und er nahm das Gespräch entgegen.
»Hallo, Jessica«, sagte er. »Was gibt's?«
»Es tut mir leid, Al.«
»Was ist denn los?« Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.
»Nichts. Nur dass ich heute länger arbeiten muss«, antwortete sie. »Eines der Mädchen hat wichtige Dateien auf ihrem PC verloren, und ich habe ihr angeboten, ihr nach Dienstschluss zu helfen. Aber dann fiel mir plötzlich ein, dass ich vorher ...«, ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab, »meinen Verlobten hätte fragen sollen, ob er einverstanden ist.«
Sam, der zu seinem Freund hinüberschaute, konnte das Lächeln auf dessen Gesicht nicht übersehen.
Es war die Art von Lächeln, bei der jeder gute Laune bekam.