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Allison Moores Apartment befand sich unweit des Oleander Parks auf der Einhundertzweiundzwanzigsten Straße in einem Gebäude, das aussah, als warte es nur noch darauf, abgerissen zu werden.

Sam und Beth Riley hatten vorher genau abgesprochen, wie sie bei ihrem Besuch vorgehen wollten. Bei ihren Fragen würde es diesmal nur um ein Thema gehen, um die Kunst - es sei denn, Ally Moores Antworten lenkten das Gespräch in eine andere interessante Richtung.

»Ich helfe Ihnen gern, wenn ich kann«, erklärte Moore.

Sie reagierte genau wie Beatty: Sie war erstaunt, dass die Detectives plötzlich vor ihrer Wohnungstür standen, aber nicht übermäßig beunruhigt. Obwohl sie fragte - genau wie ihr Chef es getan hatte -, warum Martinez nicht mitgekommen sei, und ihm dann eine rasche Genesung wünschte, hatten Sam und Beth beide das Gefühl, als habe Beatty sie vorgewarnt, dass sie möglicherweise vorbeikamen. Was an sich nicht ungewöhnlich war. Kollegen taten so etwas füreinander.

»Das ist großartig«, sagte Sam.

Ally Moore sah hübsch aus. Sie trug eine blaue Latzhose und ein weißes T-Shirt, an dem die Ärmel abgeschnitten waren. Ihre Sommersprossen fielen Sam deutlicher auf als bei ihren bisherigen Begegnungen, was aber nur daran lag, dass sie im Büro leicht geschminkt gewesen war. Wenn sie freihatte, zog sie offenbar einen natürlichen Look vor.

»Es gibt nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten«, sagte Beth zu ihr.

»Ich mache mir keine Sorgen«, erwiderte Moore.

Die Wohnung war klein und sauber, obwohl sie nach Feuchtigkeit roch, wie Sam auffiel, als Moore ihnen anbot, auf dem Rattansofa Platz zu nehmen; es war die Art von Geruch, die schwer zu beseitigen war. Ally Moore schien eine Vorliebe für Korbwaren, Bambus und bedruckte Stoffe zu haben. An den Wänden der winzigen Diele und des Wohnzimmers hingen ein paar gerahmte Kunstplakate, von denen Sam das ein oder andere bekannt vorkam.

»Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen über Ihr zweites Leben stellen«, sagte er.

»Zweites Leben?« Sie war verwirrt.

»Wir haben erfahren, dass Sie Künstlerin sind«, klärte Beth sie auf.

»Ach, das«, erwiderte Moore.

»Was hätten wir denn sonst meinen sollen?«, wollte Sam wissen.

»Da bin ich überfragt.« Moore lächelte. »Ich bin Amateurin und habe nie eine Kunstakademie besucht. Ich habe ein bisschen Unterricht genommen, aber das war auch alles.«

»Aber Sie haben ausgestellt«, entgegnete Beth. »Was mehr ist, als die meisten von sich behaupten können.«

»Wenn Sie auf die Spring Art Show anspielen, das war keine große Sache«, erwiderte Moore. »Ich hatte einfach nur Glück, obwohl ich annehme, dass ich damals ziemlich enthusiastisch war. Ich habe meine Arbeiten im Laufe der Jahre einige Male ausgestellt, aber niemals auch nur eines meiner Werke verkauft.«

»Woran könnte das liegen?«, fragte Sam.

Eine Fliege erhob sich von einer Grünpflanze, die hinter Ally Moores Bambussessel stand; sie hob die Hand, um nach dem Tier zu schlagen. »Ich glaube, dass mein Stil ein wenig ungewöhnlich ist für die Geschmäcker der meisten Leute«, antwortete sie.

»Das Gemälde in der Ausstellung in North Miami Beach hatte den Titel ›Erebos‹, nicht wahr?«, fragte Beth.

»Ja.«

»Der Gott der Finsternis?«, fragte Sam.

»Konnten Sie das denn nicht dem Gemälde entnehmen?«

»Wir haben es nicht gesehen«, gestand Beth. »Obwohl wir es uns sehr gern anschauen würden.«

»Kein Problem«, meinte Moore. »Wenn Ihnen ein Foto reicht.«

»Das würde reichen«, antwortete Sam.

Moore stand auf und ging durchs Zimmer zu einem kleinen Ahornschreibtisch, auf dessen Arbeitsplatte ein zugeklappter Laptop stand. Aus der untersten Schublade förderte sie ein in Filz gebundenes Album zutage und blätterte durch die Seiten, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte.

»Hier«, sagte sie und reichte es Sam.

Sam nahm ihr das Album aus der Hand. »Einwandfrei der Hades.«

»Gefällt es Ihnen, oder finden Sie es abstoßend?«, wollte Moore wissen.

»Es gefällt mir«, antwortete Sam. »Es ist faszinierend.«

Er gab das Album weiter an Beth, die sich das fragliche Foto ebenfalls ansah und dann weiterblätterte.

»Die anderen Bilder zeige ich den Leuten im Allgemeinen nicht«, sagte Moore.

»Warum nicht?«, fragte Beth und blätterte weiter.

»Bitte«, sagte Moore und streckte beide Hände aus.

»Natürlich.« Beth gab ihr das Album zurück. »Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«

»Das ist okay«, erwiderte Moore, obwohl es eindeutig nicht okay war.

Sam sagte nichts, als sie zurück zum Schreibtisch ging und das Album wieder in die Schublade legte, doch fiel ihm auf, wie unterschiedlich die roten Haare der beiden Frauen waren. Moores weiche Locken hatten ein bräunliches Rot, Beths exakt geschnittener Kurzhaarschnitt hatte einen leuchtenden, beinahe violetten Ton.

»Haben Sie ein Atelier?«, fragte er Moore, als sie sich wieder setzte.

»Ich wünschte, ich hätte eins«, erwiderte Moore. »Ich arbeite in meinem Gästezimmer.«

»Könnten wir uns das anschauen?«, fragte Beth.

»Da gibt es im Moment nichts zu sehen«, antwortete Moore. »Ich habe in letzter Zeit nicht gearbeitet, und die meisten meiner Stücke sind eingelagert.«

»Das muss kostspielig sein«, meinte Sam.

»Für mich nicht«, gab Moore zurück. »Eine Freundin erlaubt mir, ihre Garage dafür zu benutzen.«

»Gute Freundin«, sagte Beth.

»Sie hat kein Auto.« Moore schwieg einen Moment. »Um ehrlich zu sein«, sagte sie dann, »kapiere ich nicht, warum Sie so an meiner Kunst interessiert sind.« Die Nervosität, die sie vor über einer Woche an den Tag gelegt hatte, als man sie um den DNA-Abstrich bat, war plötzlich wieder zu bemerken. »Ich nehme an, es hat mit der Oates Gallery zu tun, aber meine Arbeiten sind da nie ausgestellt worden.«

»Sie sind zu bescheiden«, sagte Beth.

Moore zuckte mit den Achseln.

»Wir würden uns das Zimmer, in dem Sie arbeiten, trotzdem gern ansehen«, blieb Sam am Ball.

Moores Nervosität nahm zu. »Okay. Obwohl es da wirklich nichts gibt, was es wert wäre, angesehen zu werden.«

Sie führte die Detectives zurück in den Korridor und öffnete eine Tür, die in einen kleinen Raum führte. Vor dem Fenster war eine Staffelei aufgebaut. Auf einem Tisch standen Gläser mit Pinseln und Kohlestiften, und neben einem zugeklappten Skizzenblock, der neu aussah, standen ein Faxgerät und eine verstellbare Schreibtischlampe. Es gab keine Anzeichen dafür, dass hier in jüngster Zeit gearbeitet worden war, obwohl es nach Terpentin und Farbe roch.

»Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt«, erklärte sie.

Die Detectives dankten ihr und gingen zurück in den Korridor.

»Sie sehen ein bisschen müde aus, Miss Moore«, sagte Sam. »Wann haben Sie zum letzten Mal Urlaub gemacht?«

»Weihnachten«, antwortete sie. »Wie viele andere Leute.«

»Haben Sie irgendetwas Besonderes unternommen?«, fragte Beth.

»Ich habe eine Freundin in Key West besucht ...« Ally Moore stockte. »Ist sonst noch was?« Ihre grauen Augen blickten auf einmal hellwach, und ihre Pupillen waren dunkler geworden. »Ich meine es ehrlich, wenn ich sage, dass ich helfen will, aber mir will nicht einleuchten, was diese Fragen mit Ihrem Fall zu tun haben.«

»Für heute wäre es schon alles«, erwiderte Sam, änderte seine Meinung aber gleich wieder. »Ist Kunst Ihr einziges Hobby?«

»So ziemlich«, antwortete sie.

»Sport treiben Sie keinen?«, hakte Beth nach.

»Früher bin ich gelaufen«, sagte sie. »Warum fragen Sie?«

»Reines Interesse«, meinte Sam.

»Du hast recht, was die beiden angeht«, sagte Beth, als sie das heruntergekommene Gebäude verließen und zurück zum Saab liefen. »Ich kann Beatty ebenso wenig ausstehen wie Martinez. Und Moore ist mir auch nicht besonders sympathisch.«

»Ich wünschte, wir hätten mehr gegen sie in der Hand, damit wir beide für ein Verhör aufs Revier holen könnten.« Sam schloss den Wagen auf und ergab sich seinem Frust. »Aber wir haben nach wie vor nur ein Bauchgefühl, keine handfesten Beweise.«

Beth stieg auf der Beifahrerseite ein. »Und darauf lassen sich mitleidige Staatsanwälte und Richter nicht ein.«

»Eben.« Sam ließ den Motor an und setzte aus der Parklücke heraus. »Wie haben ihre anderen Bilder ausgesehen?«

»Unheimlich«, antwortete Beth. »Irgendein Kerl, der aussah, als solle er Luzifer darstellen. Ich verstehe nicht viel von solchen Dingen. Und da war ein Drache ...« Sie stockte. »Ich habe versucht, mir die Plakate an ihren Wänden genauer anzusehen«, fuhr sie dann fort. »Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, dass es zumindest bei einem davon um Hexerei ging.«

»Sieh dir mal Goyas Arbeiten an«, meinte Sam.

»Wird gemacht.« Beth machte sich eine Notiz.

»Kannst du dir vorstellen, dass dieser Hexereikram irgendetwas mit den Morden zu tun haben könnte?«

»Im Moment zeigt es mir nur, dass Moore ein bisschen versponnen ist.« Beth stockte. »Übrigens, eines der Fotos in dem Album war von einer Skizze, die einen nackten Mann zeigte. Für meine Begriffe hätte das Beatty sein können.«

»Die hatten also was miteinander«, meinte Sam. »Oder haben immer noch was miteinander.«

»Wenn Beatty der Mann auf der Skizze war ... könnte sein.«

»Das ist aber immer noch kein Belastungsmaterial.« An der nächsten Kreuzung bog Sam links ab. »Wir haben es bloß mit zwei Kollegen zu tun, die nicht zugeben wollen, dass sie eine Affäre haben. Passiert ständig.«

»Kann sein«, sagte Beth. »Aber Moores Bilder sind verdammt unheimlich.«

Martinez war in kritischem, aber stabilem Zustand, als Sam am Abend ins Miami General kam.

Jessica war immer noch da.

»Ich weiß nicht, was ich tue, wenn er ...« Sie sprach nicht weiter. Tränen schossen ihr in die Augen.

»Er wird schon wieder«, versuchte Sam sie zu beruhigen. »Er ist stark.«

»Nicht so stark«, erwiderte Jessica. »Er ist ein Softie.«

»Das weiß ich«, gab Sam zu.

Sie waren auf der Intensivstation und blickten auf Martinez, wie er dalag mit all den Schläuchen und Kabeln.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mich einen Moment bei dir anlehne?«, fragte Jessica.

»Aber nein«, sagte er.

Und wünschte sich dabei innig, dass Cathy nicht gesagt hätte, was sie gesagt hatte.

Solche Worte waren wie spitze Nadeln, die einem in Körper und Geist stachen, selbst wenn sie hinterher zurückgenommen wurden.

Und Martinez war zu sehr daneben, um überhaupt zu bemerken, dass er und Jessica da waren.

Wieder sehnte Sam sich danach, nach Hause zu fahren, zu Grace.

Je früher, desto besser.