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Martinez war überglücklich, wieder zu Hause zu sein.

Aber er war kein glücklicher Mann.

Seit er wieder in der Lage war, zusammenhängende Gedanken zu fassen, wusste er, dass mit Jessica etwas nicht stimmte, denn wenn sie ihn anschaute, war nicht mehr das Funkeln in ihren hübschen Augen. Sie war immer noch nett und zuvorkommend - zum Teufel, ja, sie war so süß gewesen wie immer -, trotzdem war irgendetwas an ihr anders.

Und bis jetzt hatte er noch nicht herausfinden können, um was es sich dabei handelte.

Doch es nervte ihn.

Um ehrlich zu sein, es machte ihn verrückt.

Wäre es nicht so gewesen, wäre er nie so tief gesunken wie gestern.

Er hatte gewartet, bis sie unter der Dusche stand, und dann einen Blick in die Schultertasche aus Segeltuch geworfen, die sie ständig und überall mit sich herumtrug.

Er wusste nicht genau, warum er es getan hatte, denn er hatte nicht damit gerechnet, etwas Bedeutsames zu finden. Deshalb hatte er sich mies gefühlt, als er die Tasche öffnete, beinahe wie ein Spitzel, aber irgendetwas hatte ihn dazu gedrängt und trieb ihn jetzt dazu, weiterzumachen.

Und dann hatte er mehr gefunden, als ihm lieb war, so viel stand fest.

Ein kleines gebundenes Notizbuch, nicht viel größer als eine Brieftasche, steckte in einem mit einem Reißverschluss verschließbaren Innenfach der Tasche. Das Buch war in säuberlicher Handschrift geschrieben und voller Vermerke, Berichte, Statistiken und Schlussfolgerungen.

Über Ratten.

Über gottverdammte Ratten.

Also hatte er angefangen, mit ihr zu streiten.

»Bist du verrückt oder was?«, hatte er sie gefragt, als sie aus der Dusche kam. Eines der neuen weißen Badelaken, die er für sie gekauft hatte, war immer noch um ihren nassen Körper geschlungen. »Bist du eine verkappte Wissenschaftlerin oder bloß eine Irre?«

Nicht die netteste Art, sich mit seiner Verlobten zu unterhalten. Aber verständlich nach dem, was er gerade erst durchgemacht hatte.

»Ich hätte sterben können«, erinnerte er sie.

»Meinst du, das wüsste ich nicht?«, erwiderte Jessica.

Ihr Gesicht war jetzt wieder blass, so blass wie zu der Zeit, als er im Krankenhaus gewesen war und sie angeblich so große Angst um ihn gehabt hatte.

»Aber sie haben dich doch immer wieder gefragt, ob ich irgendwo mit Ratten in Berührung gekommen sein könnte«, schimpfte Martinez und begann zu zittern. »Und während all dieser Zeit hast du dir Scheiß-Ratten gehalten und es ihnen nicht gesagt?«

»Es tut mir leid«, sagte Jessica.

»Es tut dir leid?« Er hatte einen Moment geschwiegen, hatte versucht, sich zu beruhigen. »Warum hast du die Biester überhaupt gehalten?«

»Ich mag Ratten«, sagte sie mit einem Hauch von Trotz. »Außerdem hat es mir gefallen, für sie verantwortlich zu sein, etwas über sie zu lernen, Kontrolle über sie zu haben. Und ich habe sie gut versorgt, habe dafür gesorgt, dass sie alle ein gutes Leben hatten, bis ihre Zeit kam. Nur dass eine ausgebüchst ist. Ich nehme an, dass sie krank war.«

»Ach ja? Du nimmst an, die Ratte war krank?«, höhnte Martinez. »Das arme Rättlein.«

»Es war Romeo«, sagte sie. »Romeo der Fünfte, weil er das fünfte Männchen war, das ich gehalten habe.«

»Du lieber Himmel!«, rief Martinez und sank auf sein Bett. »O Gott, ich bin mit einer Bekloppten verlobt gewesen.«

»Vielen Dank«, gab Jessica zurück.

»Kannst du mir das zum Vorwurf machen?«

»Wahrscheinlich nicht.« Sie verzog den Mund zu einer Art Lächeln. »Aber es erinnert mich daran, warum ich Ratten lieber mag als Männer.«

Martinez blickte zu ihr auf und sah in ihren Augen, dass das die Wahrheit war.

Mühsam erhob er sich. »Mach, dass du rauskommst.«

»Das meinst du nicht ernst, Al.«

»Beweg deinen Arsch aus meinem Haus!«

Jessica nickte ganz langsam. »Okay.«

»Jetzt sofort«, sagte Martinez. »Ich will, dass du verschwindest.«

»Kann ich zuerst meine Sachen holen?«

»Hol sie«, sagte er und versuchte, das Zittern in seinem Inneren unter Kontrolle zu halten, »und verschwinde.«

Kurz bevor sie ging, war sie zu ihm gekommen und hatte ihm den Ring zurückgegeben.

Martinez hatte auf die kleinen Saphire und die winzigen Diamanten in seiner Hand geblickt, die allesamt funkelten, weil sie die Steine jeden Tag poliert hatte.

»Das brauchst du nicht«, sagte er.

»Doch, das muss ich«, erwiderte sie.

Auf den Ring zu blicken, stimmte ihn traurig, denn es machte das Ende ihrer Beziehung zu einer greifbaren Realität.

»Eines solltest du wissen«, sagte Jessica. »Es betrifft deinen guten Freund Sam.«

»Was sollte ich da wissen?«

»Dass er versucht hat, sich an mich heranzumachen«, sagte sie. »Mehrmals.«

»Lügnerin«, zischte Martinez. »Du dreckige kleine Lügnerin.«

Er umklammerte den Ring fest mit der Hand und warf ihn dann mit so viel Kraft gegen die Wand, wie er aufbringen konnte. Der Ring prallte gegen ein altes Gemälde, das einen kleinen kubanischen Jungen zeigte. Dieses Bild war eines der Lieblingsstücke seiner Mutter gewesen.

»Cathy hat mir auch nicht geglaubt«, sagte Jessica.

»Du hast ihr das gesagt?« Er konnte es nicht fassen. »Du verdammtes Biest.«

»Bin ich das? Ich habe immer versucht, genau das nicht zu sein. Ich habe immer versucht, gut zu den Menschen zu sein.«

Schlagartig erinnerte Martinez sich wieder an all diese guten Dinge, die sie stets für andere Menschen tat, an all die Liebenswürdigkeiten und Gefälligkeiten und die Überstunden, um Kollegen aus der Patsche zu helfen. Niemals wollte sie dafür gelobt werden, sorgte aber stets dafür, dass jeder davon erfuhr. Und dann fiel ihm plötzlich auf, wie oft sie zur Stelle war, wenn bei anderen etwas schiefging, wie bei der Frau vom Revier, die sich den Knöchel gebrochen hatte. Jessica hatte alles für sie getan ...

»Du gehst jetzt besser, Jessica.«

Seine Wut war nun ganz verflogen, nur die Traurigkeit blieb.

»Wirst du mich vermissen?«, fragte sie ihn.

»Ich werde die Frau vermissen, für die ich dich gehalten habe«, erwiderte er.

»Mich aber nicht, oder?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er und schüttelte den Kopf.

»Ich werde dich vermissen, Al«, sagte sie.

Martinez zuckte mit den Achseln. »Du kannst dir ja jederzeit ein paar neue Ratten anschaffen.«

»Nein.« Jessica schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt alles vorbei.«

»Weil sie mich krank gemacht haben?« Ein kleiner Hoffnungsschimmer flackerte in ihm auf.

»Klar«, antwortete sie. »Und weil jetzt alles verdorben ist. Es wäre nicht mehr das Gleiche.«

»Warum hast du das Notizbuch hergebracht? Warum hast du es nicht in deiner Wohnung gelassen? Ich wäre nie dahintergekommen.«

»Ich dachte, Sam oder die Leute von der Gesundheitsbehörde würden vielleicht in meine Wohnung gehen.« Sie stockte. »Und ich hatte nicht damit gerechnet, dass du meine Sachen durchsuchst, Al. Ich dachte, du wärst ein Gentleman.«

»Tja, da hast du mich offenbar falsch eingeschätzt.«

»Vielleicht schätzt du Sam auch falsch ein«, gab sie zurück.

»Mach, dass du rauskommst.« Auf einmal war ihm übel.

»Lebwohl, Al«, sagte sie.

Und ging.

Und damit war er wieder ganz allein in seiner Junggesellenbude.

Nachdem sie fort war, hatte er einen genaueren Blick auf das alte Gemälde seiner Mutter geworfen, hatte gesehen, dass einer der kleinen Steine des Verlobungsringes die Leinwand an einer Stelle leicht eingerissen hatte, und das hatte ein paar Tränen zur Folge gehabt. Aber es hatte nicht lange gedauert, und jetzt hatte Al die Fassung wiedererlangt.

Sam und Grace würden bald zurück sein; deshalb nahm er an, dass sie ihn besuchen würden.

Was Jessica über Sam gesagt hatte - dass er sich an sie herangemacht habe -, war eine Lüge, da hatte er nicht den Hauch eines Zweifels.

Martinez wusste, dass Sam so etwas in tausend Jahren nicht getan hätte.

Nur fragte er sich, was es über ihn aussagte, dass er sofort bereit war, seinem Freund zu glauben, nicht aber seiner Verlobten.

Oder um es noch genauer auf den Punkt zu bringen: Was sagte das über seine Beziehung zu Jessica aus?

Nicht gerade viel, so viel war sicher.