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Grace zitterte vor Kälte und war wütend auf sich selbst, weil sie damit Schwäche zeigte, doch sie konnte nichts dagegen tun.
»Bitte.« Sam versuchte es noch einmal. »Grace ist es wirklich kalt. Könntet ihr nicht irgendetwas holen, womit sie sich zudecken kann?«
»Falls du dir Sorgen machst, sie könnte sich hier einen Schnupfen holen«, meinte Simone, »das brauchst du nicht.«
»Lass nur. Was soll's«, sagte Dooley. »Ich hole ihr etwas.«
Über einen Hauch von Menschlichkeit verfügte er also doch noch, wunderte sich Sam, vielleicht sogar über einen Hauch von Schamgefühl.
Und vielleicht bedeutete das für sie beide, dass noch ein Fünkchen Hoffnung bestand.
Dooley verschwand wieder in der Dunkelheit jenseits des Lichtkegels der Glühbirne. Als er zurückkam, hielt er etwas in der Hand.
Er zog einen Schlüssel aus der Tasche seiner Trainingshose.
»Bist du sicher?«, vergewisserte sich Simone.
»Für uns macht das jetzt keinen Unterschied mehr«, erwiderte Dooley.
Sam sah, wie sie mit den Achseln zuckte. Er prägte sich jedes noch so winzige Detail ein, das ihnen möglicherweise helfen konnte, lebend aus diesem Schlamassel herauszukommen.
Das Tor des Käfigs öffnete sich, und Dooley kam herein.
Das Ding in seiner linken Hand war ein verdrecktes weißes Handtuch.
Er drehte sich zu Simone um und nickte ihr zu, und sie folgte ihm in den Käfig.
»Gib du es ihr«, sagte Dooley und reichte ihr das Handtuch.
Verbarg sich Schicklichkeit hinter dieser Geste? Und machte ihre »Freundschaft« - eine so ungeheuerliche Heuchelei sie auch war - das Ganze vielleicht weniger einfach für Dooley? Sam wusste es nicht.
Vielleicht empfand Dooley ja einen Hauch von Respekt gegenüber Grace. Vielleicht war ein Teil seiner angeblichen Zuneigung für Cathy echt gewesen. Sam versuchte, nicht über Cathy nachzudenken und darüber, was ihr das hier antun würde, obwohl er es gewesen war, der diese Menschen in ihrer aller Leben gebracht hatte, nicht sie.
Simone warf das Handtuch auf Grace' Knie und trat schnell wieder zurück.
Sie war jetzt nervöser, als sie es außerhalb des Käfigs gewesen war, erkannte Sam, und das zarte Grün ihrer Augen wirkte trüb.
»Vielen Dank.« Grace bedeckte ihre Brüste mit dem Handtuch, klemmte es sich unter die Achseln wie ein Badetuch und ermahnte sich, ja nicht darüber nachzudenken, was man vielleicht schon alles damit abgewischt hatte. Möglicherweise Blut oder ...
Halt.
»Vielen Dank«, sagte auch Sam.
»Was ist mit deinem Vater passiert, Simone?«, fragte Grace. »Falls es dir nichts ausmacht, über ihn zu reden.«
»Er ist gestorben.«
Sam hätte zu gern gewusst, wie der Mann gestorben war. Ob die beiden ihn ermordet hatten? Doch Sam wusste nur zu gut, dass er diese Frage nicht stellen konnte. Und das Offensichtliche hatten sie ja einwandfrei nicht getan, denn sie hatten Regans Eltern nicht zu ihrem ersten »Paar« auserkoren.
»Ist deine Mutter danach hier runter nach Miami gekommen?«, fragte Grace.
»Ja«, erwiderte Simone. »Als sie jemanden brauchte, der sich um sie kümmert.«
»Und das hast du für sie getan«, sagte Grace und hielt ihre Stimme dabei neutral.
»Mehr, als die Schlampe es verdient hat«, tönte Dooley.
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Grace.
»Sie leidet unter vaskulär bedingter Demenz«, antwortete Simone.
Grace schwieg einen Moment.
»Ich würde gerne etwas über deine Träume hören«, sagte sie dann vorsichtig.
Sie klammerte sich immer noch an den kleinen Waffenstillstand, wurde Sam bewusst. Dann sah er, wie Regan zu Dooley hinüberblickte und sich ihm unterwarf.
»In Simones Träumen«, erklärte Dooley, »ging es ausnahmslos darum, ihre Eltern zu bestrafen.«
»Und hast du sie bestraft, Simone?«, fragte Sam.
Es war besser, dass diese Frage von ihm kam - sicherer für Grace, hoffte er.
Simone sagte nichts, lehnte sich wieder gegen die Außenstangen des Käfigs.
»Sie hat nie die Chance dazu bekommen«, antwortete Dooley an ihrer Stelle. »Der alte Mann war tot, und dann wurde Celine krank, also musste Simone sich ... nun ja, anderweitig orientieren.«
»Es gab so viele perfekte Paare«, sagte Simone. »Ich habe sie alle gehasst.«
»Das Problem war«, ergriff Dooley wieder das Wort, »dass sie auch sich selbst hasste ... dafür, dass sie so empfand. Sie glaubte, ein zutiefst schlechter Mensch zu sein, weil sie ihnen etwas antun wollte. Und das war der Grund dafür, dass sie sich stattdessen selbst verletzt hat.«
Klassischer geht es nicht, dachte Sam. Beinahe schon ein bisschen zu sehr wie aus dem Lehrbuch.
Er riskierte einen kurzen Blick auf Grace und gewann den Eindruck, dass sie ihnen das Ganze abnahm.
»Und du hast ihr geholfen, damit aufzuhören, Dooley?«, fragte Grace.
»Durch Matt habe ich endlich begriffen, dass ich meine Träume in die Realität umsetzen musste, weil es die einzige Möglichkeit für mich war, mich endlich zu befreien«, erklärte Simone.
»Hatte er recht?«, fragte Grace. »Hat es dir geholfen?«
»Dank Matt habe ich endlich erkannt, was meine Bestimmung war.« Simone versagte ihr eine direkte Antwort. »Er hat mir gesagt, dass ich gar kein schlechter Mensch sei, weil er solche Leute nämlich auch hasst, ihre Selbstgerechtigkeit und Eitelkeit.«
Zwei klassische Psychos, dachte Sam. Ein verdammtes Soziopathen-Pärchen, das einander zufällig über den Weg gelaufen war, und der eine hatte jeweils die Defekte des anderen bedient. Simone Regan zum Teil ein Opfer - zuerst das Opfer ihrer Eltern, dann das von Dooleys Begeisterung, endlich jemanden gefunden zu haben, den er beherrschen konnte und der hilfsbedürftig war. Solchen Typen war Sam schon häufiger begegnet; er hatte ganze Bände über sie gelesen.
Und das Spielchen, das diese beiden seither spielten, musste eine Herausforderung gewesen sein. Vielleicht ergötzte Dooley sich auch daran. Vielleicht war dies der Grund dafür, dass sie ihren Terror auf eine derart bizarre Art und Weise ausübten - und Spielchen zu spielen, war für so viele Serienmörder der wichtigste Bestandteil ihrer Taten.
»Jetzt kapiere ich endlich, warum die Paare zur Schau gestellt wurden«, sagte Sam.
»Na bravo«, meinte Dooley.
»Sehr klug, das Restaurant-Zeug so zu benutzen, dass es auf die falsche Kunst-Fährte führte«, lobte Sam.
»Uns hat es auch gefallen«, sagte Simone.
»Aber warum die Zurschaustellung der Leichen?«, fragte Grace.
»Weil es nur einen Sinn ergibt, gegen etwas zu protestieren, wenn die Leute davon erfahren«, erklärte Dooley. »Es ist sinnlos, Menschen umzubringen und lediglich ein Loch zu buddeln.« Er lächelte Grace an. »Das ergibt erst einen Sinn, wenn endlich einer kapiert, stimmt's?«
»Und der Klebstoff?«, fragte Sam, obwohl er glaubte, die Antwort zu kennen.
»Together forever«, antwortete Simone.
»Wie in dem Song«, fügte Dooley hinzu. »Auf ewig vereint.«
»Diese übermäßig gefühlsbetonten, glücklichen, selbstgefälligen Pärchen. Wir haben uns darüber unterhalten und meinten, das müsse eigentlich genau das sein, was sie am Ende gern hätten.«
Grace wurde wieder übel.
Sie fragte sich, an welcher Stelle man sie und Sam miteinander verkleben würde, wenn nicht rechtzeitig jemand kam.
An der Haut vermutlich. Braune Haut an weißer Haut.
Und vielleicht lag Simone gar nicht so falsch mit dem, was sie gerade gesagt hatte, denn sie wollte lieber auf ewig Sams Hand halten, als ohne ihn weiterleben zu müssen.
Aber was wurde aus Joshua?
Grace kämpfte gegen die Seelenqual an, rang sich Sam zuliebe ein Lächeln ab und begriff im nächsten Moment, dass man ihnen das möglicherweise übel nahm.
Vorsicht.