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David hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren.

Dieses Mal verlor er ihn vielleicht wirklich.

Den ersten Anruf hatte er hinbekommen, den ausschlaggebenden Anruf bei Sergeant Alvarez, weil Sam ihm erzählt hatte, dass der Sergeant während seiner Abwesenheit mit Riley an dem Fall weiterarbeitete, und weil er wusste, dass Sam Alvarez für einen anständigen Menschen und tüchtigen Cop hielt.

Und Alvarez hatte die Information ernst genommen, dass Sam und Grace vermisst wurden und ihren geliebten, anderthalbjährigen Sohn allein im Haus zurückgelassen hatten, was sie normalerweise niemals getan hätten, unter gar keinen Umständen.

Es sei denn, es war etwas Schlimmes passiert. Es sei denn, jemand hatte sie dazu gezwungen.

Und die Beckets waren ein glückliches Paar.

Für die Begriffe dieses Killers vielleicht sogar das Paar schlechthin.

Alvarez hatte David also ernst genommen, hatte gefragt, ob er oder sonst jemand von der Familie Sam oder Grace seit ihrer Rückkehr gesehen hätten. David berichtete, dass er und Mildred die beiden zuletzt gesehen hatten, als sie am Tag zuvor gekommen waren, um Joshua und Woody abzuholen; er wusste überdies, dass Sam danach losgefahren war, um Martinez zu besuchen. Aber dann waren sie alle übereingekommen, sie in Frieden zu lassen, damit sie sich von den traumatischen letzten Stunden ihrer Kreuzfahrt ausruhen konnten.

»Wissen Sie, wie sie das gestern Abend mit dem Essen gestaltet haben?«, hatte Alvarez gefragt.

Er stellte die Frage ganz beiläufig, dachte dabei aber an die anderen Paare.

»Ich habe keine Ahnung«, hatte David ihm geantwortet. »Vermutlich ganz schlicht. Wir hatten ein paar Sachen eingekauft und sie ihnen in den Kühlschrank gelegt.«

Alvarez hatte sich erboten, jemanden herüberzuschicken, damit David nicht allein war.

»Nein, vielen Dank, Sergeant«, hatte David ihm erklärt. »Ich bin nicht allein, und es wäre mir lieber, wenn Sie keine Männer darauf verschwenden würden, um bei mir den Babysitter zu spielen.«

Alvarez hatte ihm erklärt, er solle mit Joshua und Mildred in Golden Beach bleiben, wo er war, denn Sams und Grace' Haus war mit sofortiger Wirkung ein Tatort, sodass es keinen Sinn ergab, dass sich irgendjemand von der Familie dorthin begab.

»Sie müssen die Arbeit uns überlassen«, hatte Alvarez gesagt. »Ich weiß, dass das unglaublich hart für Sie sein wird, Dr. Becket, aber wir werden sie zurückbekommen, glauben Sie mir.«

»Sie meinen also tatsächlich, dass Cooper wieder dahintersteckt?«, hatte David gefragt.

»Ich meine, dass es ein allzu großer Zufall wäre, wenn er nicht darin verwickelt wäre«, hatte der Sergeant geantwortet. »Natürlich werden wir jede Möglichkeit im Auge behalten, aber Cooper ist unser Hauptverdächtiger.«

David wusste nicht, wie es ihm gelungen war, vor Schmerz nicht laut aufzuschreien, bevor er das Telefon in die Hand genommen und nachdem er wieder aufgelegt hatte, aber sein kleiner Enkel, der bereits in der Vergangenheit unter Jerome Cooper hatte leiden müssen, war im Haus. Schlimm genug, dass er Gott weiß wie viele Stunden ganz allein und verängstigt gewesen war, bis Mildred ihn heute Morgen gefunden hatte. David würde nicht zulassen, dass Joshua noch mehr Kummer erleiden musste, und so hielt er seine Seelenqualen unter Verschluss.

Aber falls Sam und Grace etwas zustieß ...

Es war Mildred, die dafür sorgte, dass er Saul anrief.

Er hatte es vor sich hergeschoben, weil er hoffte, sowohl seinem jüngeren Sohn als auch Cathy weiteres Leid ersparen zu können, und hatte gebetet, die ganze Geschichte möge sich als Irrtum entpuppen und dass sie jede Minute zurückkommen würden - von Schuldgefühlen geplagt, weil sie Joshua zurückgelassen hatten, aber unversehrt.

Unmöglich war dafür genau das richtige Wort. Das wusste er nur zu gut.

»Wenn du Saul nicht anrufst«, sagte Mildred um zehn Uhr fünfunddreißig zu ihm, »werde ich es tun.«

»Du wirst nichts desgleichen tun«, erwiderte David.

»Und du kannst hier deine Böser-Alter-Mann-Nummer abziehen und mich anknurren und mit mir reden, wie es dir beliebt«, entgegnete Mildred, »aber Saul und Cathy haben das Recht, es zu erfahren. Außerdem wird es gut für dich sein, sie um dich zu haben.«

»Ich komme gut zurecht«, sagte er, »ich habe ja dich.«

Sie berührten einander nur selten - diese beiden »älteren Hausgenossen«, wie Mildred sie einmal Grace gegenüber genannt hatte -, aber jetzt kam Mildred und setzte sich neben den Doktor auf das ramponierte Sofa, das schon seit mehr als fünfunddreißig Jahren da stand, und legte den Arm um seine Schulter.

»Es tut mir leid, dass du so leidest«, sagte sie.

»Hör auf«, sagte David. »Fang damit bitte gar nicht erst an.«

»Ruf Saul an«, sagte Mildred. »Wenn er es auf andere Weise erfährt, wird er wütend, und es wird ihn verletzen.«

Also machte David den Anruf.

»Ich will nicht, dass du in Panik gerätst«, begann er das Gespräch.

»Was ist denn passiert, Dad?«

David informierte ihn und hörte, wie sein Sohn um Fassung rang.

»Hast du gestern Abend mit ihnen gesprochen?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Saul, »aber Cathy ist bei ihnen gewesen.«

Er erzählte seinem Vater von dem Abendessen, das Dooley und Simone für Sam und Grace zubereitet hatten, und wie nett sie gewesen waren, als Cathy ihnen über das miese Ende der Kreuzfahrt berichtet hatte und darüber, wie erschöpft ihre Eltern waren.

In diesem Moment erinnerte David sich an etwas.

An etwas, was Sam ihm über die Morde erzählt hatte.

»Dad? Sag mir, was du denkst.«

»Ich muss mit Cathy reden«, antwortete David.

»Sie ist nicht hier«, erwiderte Saul.

Panik erfasste David. »Hast du sie heute Morgen schon gesehen?«

»Ja, ganz kurz«, antwortete Saul. »Es ging ihr gut. Du brauchst dir um sie keine Sorgen zu machen. Sie ist eine Runde joggen gegangen.«

»Sie ist nicht zur Arbeit gegangen?«

Mildred hatte das Zimmer verlassen, aber jetzt stand sie auf einmal wieder im Türrahmen, denn der Ausdruck auf Davids Gesicht und die Intensität seines Blickes beunruhigten sie.

»Nein«, antwortete Saul, »aber sie hat gesagt, sie würde kurz im Café vorbeigehen, um den beiden für alles zu danken, was sie gestern Abend getan haben.«

»Gütiger Gott«, sagte David.

»Was ...?« Saul stockte.

»Okay«, meinte David. »Junge, ich will, dass du bleibst, wo du bist, und dass du Cathy anrufst und ihr sagst, dass sie nicht ins Café gehen darf.«

»Wieso denn nicht?« Saul war verwirrt.

»Sag ihr einfach, dass sie sich von diesen Leuten fernhalten muss.« David war mit einem Mal hellwach und wusste genau, was zu tun war. »Ich muss einen Anruf tätigen. Du bleibst in deiner Wohnung und versuchst, Cathy zu erreichen. Sag ihr, sie soll sich auf der Stelle mit Sergeant Alvarez auf dem Revier in Verbindung setzen.«

Mit zitternden Händen beendete er das Gespräch mit seinem Sohn und machte sich sofort an den nächsten Anruf. Dabei blickte er kurz hinüber zu Mildred und war dankbar, dass sie schwieg, dass sie begriff, dass er jetzt erst einmal handeln musste. Schlappmachen konnte er immer noch hinterher.

Alvarez nahm den Anruf entgegen, hörte aufmerksam zu und ließ Davids Worte auf sich wirken.

»O Gott«, sagte er nach einer Weile leise.

»Sie vermuten, dass ich recht habe, nicht wahr?«

»Ich fürchte ja«, gab Alvarez zu. »Sie haben gesagt, dass Saul versucht, Cathy zu erreichen?«

»In diesem Moment.«

»Bleiben Sie bitte dran.«

David wartete.

»In Ordnung, Dr. Becket.« Alvarez war wieder am anderen Ende der Leitung. »Ich habe Cathy bereits am Apparat. Sie ist okay, und wir lassen sie hierher aufs Revier bringen.«

»Gott sei Dank«, stieß David erleichtert hervor.

Und dann erinnerte er sich, dass Sam und Grace immer noch vermisst wurden.