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2. März

Am Montag, um kurz nach zwei Uhr morgens, als Sam tief und fest schlief, lag Grace immer noch wach. Sie konnte keine Ruhe finden und verspürte plötzlich das Bedürfnis nach Luft und ein bisschen Bewegung. Vielleicht war es eine Reaktion darauf, dass der Tag so wunderschön gewesen war, oder die kurzen, dafür aber ungemein intensiven Ängste waren schuld, die sie ein paar Stunden zuvor ausgestanden hatten. Egal, was es war, sie brauchte etwas, um sich zu beruhigen, und ein kurzer Spaziergang, die Meeresluft und das milde Licht der Sterne schienen genau das zu sein, was der Arzt verordnet hätte. Sie hinterließ auf dem Kopfkissen eine Nachricht für den Fall, dass Sam aufwachte.

Konnte nicht schlafen. Mach einen Spaziergang. Fühle mich wohl und bin glücklich, mach dir also keine Sorgen. Bin bald zurück. Danke für den schönsten Tag meines Lebens. G.

Auf dem langen schmalen Gang vor ihrer Kabine war es still. Sämtliches Gepäck war jetzt verschwunden - genauso vollständig wie das Trugbild von Jerome.

Grace schüttelte den Gedanken ab und machte sich auf den Weg zur Mitte des Schiffes. Sie stieg drei Etagen nach unten, denn sie erinnerte sich, dass auf Deck Sieben die Türen für nächtliche Spaziergänger geöffnet blieben.

Es waren immer noch Leute unterwegs. Die meisten waren jung und nach wie vor in Partystimmung; einige kamen gerade erst aus dem Spielcasino. Ein paar verliebte Pärchen waren auch dabei - darunter eines, das auf Grace den Eindruck machte, als wäre es auf Hochzeitsreise. Doch es gab auch ein paar Leute, die allein waren, wie sie selbst.

Draußen auf Deck war es genau so, wie sie es sich erhofft hatte, windig und kühl, und die Brise war herrlich belebend. Ein paar Minuten, und sie würde endlich einschlafen können.

Sie sah ihn nicht, hörte ihn aber.

Seine Stimme, unverkennbar, sprach zu ihr aus der Dunkelheit. »Hallo, Grace.«

Das Blut gefror in ihren Adern.

»Da bin ich wieder. Roxys Junge, zurück aus den Untiefen.«

»Jerome?« Hastig drehte sie sich um und glaubte für einen Sekundenbruchteil, sie sähe den Schatten einer Gestalt in der Nähe einer der Türrahmen, wie er sich unheimlich von der weißen Farbe abzeichnete, doch im nächsten Moment war der Schemen wieder in der Dunkelheit verschwunden.

»Einen Seemann kann wirklich nichts erschüttern«, sagte die Stimme. »Hübsches Bötchen, obwohl mein Baby mir besser gefiel.« Für einen Moment war es still. »Wir geht es deinem Kleinen?«

Grace drehte sich um und rannte.

Rannte um ihr Leben.

Sam war wach, als Grace in die Kabine zurückkehrte. Seine Füße ruhten auf dem kleinen Sofa, als sie hereinkam, doch als er ihr Gesicht sah, sprang er auf.

»Was ist passiert?«

Grace schaffte es gerade noch ins Badezimmer, fiel auf die Knie und übergab sich würgend.

»Gracie!« Sam kniete sich neben sie und griff nach einem Handtuch, um ihr zu helfen.

»Jerome!«, stieß sie hervor. »Er ist auf dem Schiff. Er hat auf dem Deck mit mir gesprochen.«

Sie zitterte immer noch und schwitzte. Sam half ihr auf die Füße und gab ihr ein Glas Wasser. Dann führte er sie aus dem Badezimmer zum Bett, setzte sie darauf, kauerte sich vor ihr auf den Boden und blickte ihr ins Gesicht. »Was ist denn passiert? Hat er dir weh getan?«

»Er hat mich nicht angerührt«, antwortete Grace, und plötzlich kam ihr das Ganze unwirklich vor. »Er hat nur mit mir gesprochen ... hat etwas über sein Boot gesagt, die Baby.« Ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen. »Und dann hat er nach Joshua gefragt ...«

»Was hat er gesagt?« Sams Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Heiße Wut loderte in ihm auf, vermischt mit Angst.

»Er hat nur gesagt: ›Wie geht es deinem Kleinen?‹ Da bin ich weggerannt.«

»Aber vorher hast du ihn gesehen?«

»Nur einen Schatten in der Dunkelheit. Genau gesehen habe ich ihn nicht. Aber es war seine Stimme, da bin ich ganz sicher.«

Sams Gedanken überschlugen sich, und er versuchte, Ordnung hineinzubringen. »Hätte es eine Bandaufzeichnung seiner Stimme sein können?«

»Ja, möglich.« Grace atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen. »Aber selbst wenn es so wäre, würde das bedeuten, dass Jerome noch am Leben ist und seine verrückten Spielchen treibt, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Sam ratlos.

Er erhob sich und ging zum Telefon.

»Wie konnte er wissen, dass ich einen Spaziergang mache?«, fragte Grace.

»Keine Ahnung.« Sam zuckte die Achseln.

»Er muss gewartet und uns beobachtet haben ...« Bei der Vorstellung wurde Grace schon wieder übel. »Wahrscheinlich hat er uns während der gesamten Reise im Auge behalten.«

Sam griff nach dem Telefon, drückte die Taste für die Gästebetreuung und wartete.

»Ich muss den Kapitän sprechen«, sagte er.