Freitag, 2. November

 

Ein Bereitschaftswochenende voller gepflegter Langeweile lag vor Susanne Braun. Wenn keiner auf die Idee kam, einem anderen die Kehle durchzuschneiden und damit im Dezernat für Todesermittlungen Hektik auslöste, würden sie und „ihr“ Oberkommissar, Heinz Hellwein, alte Akten aufarbeiten, in der Nase bohren und sich gegenseitig angähnen.

Bei Bereitschaftsdiensten bestand nicht unbedingt Anwesenheitspflicht im Präsidium, sie mussten nur schnell und immer erreichbar bleiben. Aber es war den beiden zu einer lieb-verhassten Gewohnheit geworden, einen Teil dieses Zweiundsiebzigstundendienstes zu nutzen, um Liegengebliebenes auf den aktuellen Stand zu bringen. Dagegen sprachen auch keinerlei familiären Verpflichtungen. Hellwein war Single aus Überzeugung, und Susanne lebte allein, seit ihr Mann, ebenfalls Polizist, vor ein paar Jahren im Dienst erschossen worden war.

Sie hoffte, dass sie noch eine ganze Weile mit ruhigen Routinearbeiten befasst sein würden. Bis vor ein paar Wochen war es nämlich monatelang hektisch gewesen. Im März ein Raubmord in Godorf, und dann diese verworrene Geschichte im Mai, bei der zwei Prostituierte ermordet worden waren, und beinahe auch ihr alter Freund Christian Sprenger. Jetzt noch überlief es sie kalt, wenn sie daran dachte. Chris hatte schon mehr als ein Mal zur Lösung eines Falles beigetragen, aber manchmal steckte er seine Spürnase auch zu tief irgendwo hinein. Wie im Mai. Da hätte es ihn fast ins Grab gebracht, weil er dem Täter zu nahe gekommen war. Und wenn letzten Endes sein kluger Kopf nicht doch noch geschaltet hätte, würde auch Karin Berndorf nicht mehr leben.

Schnell wischte Susanne den Gedanken beiseite und versuchte, sich auf den Fall einer Achtzigjährigen zu konzentrieren, die im Juni erschlagen aufgefunden worden war. Auch diese Ermittlungen waren so gut wie abgeschlossen, nun mussten jedoch die Beweise und Indizien für die Staatsanwaltschaft dokumentiert werden. Die Beweisanforderungen, die die Gerichte stellten, wurden immer größer und damit die Ermittlungsarbeiten immer umfangreicher, der Schreibkram unangenehm aufwändig.

Hellwein, der ihr gegenüber an seinem Schreibtisch saß, stöhnte leise und klappte einen roten Aktendeckel zu. Dann stierte er nachdenklich auf die zerkratzte Tischplatte, stützte den Kopf in die rechte Hand und schlug die Akte mit der linken wieder auf. Susanne beneidete ihn nicht, denn ihm machte eine skelettierte Leiche zu schaffen, die man vor ein paar Monaten im Worringer Bruch gefunden hatte. Da die Leiche vergraben gewesen war, lag höchstwahrscheinlich ein Gewaltverbrechen vor. Die forensischen Anthropologen hatten herausgefunden, dass es sich um eine weibliche Person zwischen zwanzig und dreißig handeln musste, vermutlich asiatischer Herkunft. Mehr nicht. Todesursache und der Zeitpunkt waren nicht eindeutig zu klären, es gab keine verwertbaren Spuren und eine Identifizierung schien nahezu unmöglich. Ein ziemlich aussichtsloser Fall. Und für einen Kriminalisten war nichts frustrierender, als ohne jeden Ermittlungsansatz dazustehen.

Susanne nahm die Lesebrille ab und fixierte den Stadtplan an der gegenüberliegenden Wand. Das tat sie immer, wenn sie intensiv über etwas nachdachte. Sie war lang und dürr, und als sie jetzt auf die weißen und gelben Linien stierte, schien sie noch einmal ein paar Zentimeter zu wachsen, so aufrecht saß sie plötzlich. Irgendetwas machte sie nervös. Vielleicht gerade die zwei, drei Wochen relativer Ruhe, die hinter ihr lagen. War das die Ruhe vor dem Sturm? Oder lag ihre Anspannung an der Reizlosigkeit, die ihr Job hatte, wenn sie sich nicht in einen aktuellen Fall verbeißen konnte?

Sofort rief sie sich zur Ordnung. Ein aktueller Fall hätte ein Verbrechen vorausgesetzt. Und das war eigentlich das Letzte, was sich eine gute Polizistin wünschte.

Sie fuhr sich mit beiden Händen durch das ohnehin zerzauste braune Haar und sah wieder zu Hellwein hinüber. Seine unverkennbare Neigung zur Fettleibigkeit, sein sich lichtendes Haar und sein gutmütiger Gesichtsausdruck ließen ihn wie einen biederen Verwaltungsangestellten erscheinen. Er klappte die Akte „Worringer Bruch“ endgültig zu und legte sie auf die rechte Seite des Schreibtischs. Von den drei überquellenden Ablagekörbchen einmal abgesehen, war sein Arbeitsplatz ausnahmsweise nahezu aufgeräumt. Nur auf dem Computermonitor pappten jede Menge kleiner Notizzettel mit seiner krakeligen Schrift. Da gewöhnliche Zettelchen immer wieder davonwehten, wenn jemand zu stürmisch vorbeiging oder das Fenster geöffnet war, beschrieb er seit Kurzem die gelben Selbstklebenden. Warum er nicht einfach normal große Blätter für seine Notizen nahm, wie jeder andere auch, war Susanne schleierhaft.

Jetzt angelte er aus einem der Körbchen ein Rundschreiben des Landeskriminalamtes und vertiefte sich darin. Wahrscheinlich eine dieser wunderbaren Statistiken, die kein Mensch verstand oder im Gedächtnis behielt — außer Hellwein. Er konnte die Kölner Kriminalitätsstatistiken der letzten zehn Jahre herunterbeten, wenn es sein musste.

„Heinz?“

„Hm?“

„Ist dir eigentlich klar, dass wir immer nur hinterherhinken, hier in diesem Dezernat?“

Hellwein hob irritiert den Kopf und schob die Ärmel seines dunkelblauen Strickpullovers hoch. Darunter kamen die Manschetten eines schneeweißen Hemdes hervor. „Wie meinst du das?“

„Na ja, sieh mal: Die vom Raub machen Aufklärungskampagnen bei älteren Leuten; zeigen hohe Präsenz auf den Weihnachtsmärkten, wenn die Taschendiebe unterwegs sind. Die vom Verkehr machen Plakataktionen und Alkoholkontrollen. Wir haben sogar eine eigenes Dezernat `Vorbeugung und Aufklärung´, das der Bevölkerung Tipps gibt, wie man sich vor Verbrechen schützt. Die …“

„Du meinst, für Mord und Totschlag gibt es keine Präventivmaßnahmen?“, unterbrach Hellwein seine Vorgesetzte, die nervös die Bügel der Lesebrille auf und wieder zu klappte.

„So ungefähr, ja. Wir können immer nur reagieren, aber nicht aktiv vorbeugen.“

„Und?“

Er zupfte an den Manschetten herum und lehnte sich zurück, immer noch irritiert. Philosophieren passte so überhaupt nicht zu ihr. Härte und eine gute Portion Sarkasmus, Humorlosigkeit, das war er gewohnt. Aber nicht die Zweifel, die da hinter ihren Worten steckten.

„Ich denke nur, wir Todesermittler kommen erst zum Zug, wenn es zu spät ist“, überlegte Susanne weiter.

„Okay, wir lassen uns zum Raub versetzen und schleppen schwerhörige Omas auf die Sparkasse, damit sie ihr Geld da einzahlen statt es unter der Matratze zu horten“, schlug Hellwein grinsend vor.

„Arschloch!“, zischte sie. Ihr war aufgegangen, wie viel sie gerade von sich preisgegeben hatte. Und sie gab höchst ungern etwas von sich preis, vor allem nicht Hellwein gegenüber. Der einzige Mensch auf der Welt, der sich halbwegs in ihrem Innenleben auskannte, war Chris. Seit ein paar Monaten konnte man vielleicht noch Karin dazuzählen, das war´s dann aber auch schon.

Anfang der Woche waren die beiden nach Frankreich gefahren, fiel Susanne ein. „Ein paar Tage Loire“, hatte Chris gesagt. Die letzten Monate war er verdammt still gewesen, hatte seine Nase nicht mehr in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen. Ob die Sache im Mai ihm so zugesetzt hatte, oder ob Karin so positiv- beruhigend auf ihn wirkte, konnte Susanne nicht beurteilen. Widerstrebend gestand sie sich jetzt ein, dass sie etwas vermisste. Sicher, sie war manchmal über seine Alleingänge empört gewesen, und die halbseidenen Quellen, aus denen er seine Informationen bezog, betrachtete sie mit Argwohn, genauso oft bewunderte sie aber auch die ungewöhnlichen Denkansätze und den blitzgescheiten Kopf ihres Freundes.

Hellwein grinste immer noch und streckte die Hände über den Kopf. Eine Bewegung, die er sogleich bereute. Seit dem Training gestern zwickte es ihn gehörig im Kreuz. Es war bei der letzten Kugel gewesen, der kleinen roten, die besonders ruhig lief, als es in seinem Rücken gekracht hatte. Natürlich verunglückte der Wurf und der Trainer raunzte ihn auch noch an.

Vielleicht wurde er langsam zu alt fürs Sportkegeln, überlegte er jetzt und nahm die Hände vorsichtig wieder runter.

„Zu viele Kegel geschoben?“, fragte Susanne, der sein schmerzverzerrtes Gesicht nicht entgangen war.

„Holz machen, heißt das, Susanne. Holz machen!“, erklärte er genervt. Es wurmte ihn, dass niemand seinen Sport richtig ernst nahm und somit natürlich auch die Fachausdrücke nicht kannte. Die meisten hielten ihn für das Mitglied einer Thekenmannschaft und konnten mit dem Wort „Leistungskegeln“ nichts anfangen. Er zog einen beleidigten Flunsch und wollte wieder einmal einen Erklärungsversuch starten. „Weißt du … „, setzte er an.

Aber Susanne sollte nie erfahren, was er ihr klarmachen wollte, weil es in diesem Augenblick klopfte und Kriminalrat Steffens in ihr kleines Büro trat. Seine dunkelbraunen Hosen waren etwas zu kurz und über dem kugeligen Bauch spannte ein elfenbeinfarbener Pullover.

„Die vom K 12 haben ein vermisstes Kind“, begann er ohne Umschweife. „Offensichtlich eine ernste Sache, keine übervorsichtigen oder hysterischen Eltern. Wir brauchen jetzt alles was Beine hat.“

„Wie alt?“, fragte Susanne.

„Sechs.“

„Oh Scheiße“, murmelte Hellwein und schluckte im letzten Moment jeden anderen Kommentar hinunter. In der typischen Art der Todesermittler vermutete er gleich das Schlimmste. Susanne hatte Recht, erkannte er jetzt. Das gute Gefühl, ein Verbrechen verhindert zu haben, stellte sich in ihrem Dezernat höchst selten ein.

„Unterstützen Sie bitte zunächst die Kollegen, die die Bahntrasse am Südbahnhof absuchen“, sagte Steffens und stemmte die feisten Hände in die Hüften. „Die Kleine wohnt da in der Nähe. Nach Abschluss des Einsatzes hauen Sie sich aufs Ohr. Kann sein, das wir ein heißes Wochenende vor uns haben.“