Sechs
Chris fühlte sich plötzlich unendlich schwach, und die Erschöpfung von vorhin brach sich erneut Bahn.
Schweigend ging Anne um den Schreibtisch herum, zog eine Schublade auf und kramte eine Flasche hervor. Dann goss sie fingerbreit goldfarbene Flüssigkeit in einen angeschlagenen Kaffeebecher.
„Hier, trink! Auf ex!“ Sie hielt Chris den Becher hin und strich ihm mit der anderen Hand über seine schon wieder stoppelige Wange. „Sie hatte innere Verletzungen. Sie…“
„Ich hätte sie nicht hochheben sollen“, unterbrach er sie tonlos. „Ich hätte …“
„Wo hast du sie gefunden?“
„Hünefeldstraße. Und mein Handy schlummert mal wieder zu Hause.“
„Dann warst du mit Sicherheit schneller als jeder Notarzt. Wir hatten nicht einmal mehr Zeit, sie aufzumachen.“
Aufmachen! Das klang, als ob man zum Abendbrot ein Glas Gurken öffnete. Chris trank den Becher in einem Zug leer. Heiß breitete sich der Whisky in seinem Magen aus, und es gelang ihm, sich gedanklich von dem Gurkenglas zu lösen.
„Hast du schon die Polizei …?“
Anne schüttelte den Kopf. „Das wollte ich dir überlassen.“
„Gut! Ich rufe Susanne an.“
Anne verdrehte die Augen. Draußen auf dem Flur quietschten wieder die Gummisohlen vorbei.
„Ich weiß, dass du sie nicht ausstehen kannst“, sagte Chris, während er unter den Papierstapeln nach dem Telefon fahndete. „Aber sie ist eine verdammt gute Polizistin!“
„Die Haare auf den Zähnen hat, wie eine Schlampe rumläuft und ihre Jungfräulichkeit wahrscheinlich mit ins Grab nimmt!“, giftete Anne.
„Ihr Mann war auch Polizist und ist bei einem Einsatz erschossen worden“, setzte Chris zu einer matten Verteidigung an. Er war zwar mit Susanne befreundet, musste aber zugeben, dass die Klagen von Anne, abgesehen von der Jungfräulichkeit, nicht ganz unberechtigt waren.
„Kein Grund, alles, was auch nur annähernd nach zwischenmenschlichen Beziehungen aussieht, bis ans Lebensende zu hassen!“
„Ich fürchte, sie hasst nur sich selbst. Alles andere resultiert daraus“, antwortete er. Seine Suche war erfolgreich gewesen, und er wählte jetzt entschlossen Susannes Privatnummer. Wozu den Notruf in Anspruch nehmen? Tot war das arme Ding allemal. Dass Susanne eigentlich dienstfrei hatte, wusste Chris. Ihren und Annes Dienstplan hatte er im Kopf. Immer.
Das Gespräch war kurz. Sobald Susanne ihm dafür wach genug erschien, schilderte Chris die Fakten. Sie antwortete nur mit einem „Zwanzig Minuten“ und legte auf.
Eine Weile saß Chris mit dem Hörer in der Hand da und stierte auf die Unterlagen vor sich. Wenn er vielleicht doch einen Notarzt …
Er straffte sich und sah seine Ex von unten herauf an. „Wer tut so was, Anne? Wer geht so mit einem anderen Menschen um?“
Anne zuckte die Achseln. „Ich hab keinen blassen Schimmer. Aber ich fürchte, es gibt mehr solcher Fälle, als selbst dir in deinem Job begegnen. Was meinst du, wie viele Frauen hier auftauchen, die eine gewaltige Tracht Prügel bekommen haben und behaupten, sie wären die Treppe runtergefallen.“
„Das hier ist was anderes, Anne, das spür ich bis in die Zehenspitzen.“ Er setzte die unschuldigste Miene auf, zu der er fähig war. „Hatte sie was in den Taschen?“
Er fing sich einen strengen Blick ein und hoffte, selbst völlig neutral auszusehen.
„Das ist Sache der Polizei!“, sagte Anne scharf. „Lass die Finger davon!“
„Ist es nicht auch ein bisschen meine Sache?“
„Chris! Das letzte Mal …“
„Das letzte Mal ist der Polizei ein international gesuchter Drogendealer ins Netz gegangen“, unterbrach er sie schnell.
„Der dich beinahe umgebracht hätte!“
„Was immerhin Susanne verhindert hat!“, konterte Chris und setzte ein breites Grinsen auf. Er wurde nur ungern daran erinnert, dass er einen der umfangreichsten Polizeieinsätze in der Geschichte von Köln provoziert hatte, nur weil er glaubte, seine Tarnung als potentieller Großabnehmer von Kokain sei perfekt gewesen. Dass der Holländer, der unter anderem wegen zweifachen Mordes gesucht wurde, ihn längst durchschaut hatte und ihm bei einem nächtlichen Treffen am Rasthof Frechen die Gurgel herumdrehen wollte — damit hatte er nicht gerechnet. Und hätte Susanne nicht im letzten Moment einen Tipp bekommen und an jeder Raststätte auf dem Kölner Autobahnring eine Einheit postiert …
„Du könntest ihr gegenüber also ruhig etwas mehr Dankbarkeit zeigen“, setzte er noch eins drauf. „Also, was ist jetzt? Hatte sie was in den Taschen?“
„Was bist du bloß für ein Dickschädel!“, brummte Anne, wandte sich aber zur Tür. „Komm schon!“
Chris folgte ihr durch den Flur die roten Markierungen entlang. Seine mindestens zwei Nummern zu große Pantoletten klapperten über den Boden. Ein strafender Blick in seine Richtung, dann öffnete Anne die Tür zu einem winzigen, bis zur Decke gekachelten Raum. Er war leer bis auf eine Bahre, unter deren Laken sich ein menschlicher Körper abzeichnete. Nur die Zehen ragten heraus. Leblose, sehr blasse Zehen mit gelblichen Nägeln.
Chris zwang sich, an dem Laken vorbeizusehen. „Ist sie … ich meine … vergewaltigt …“
Anne hob die Schultern und hielt ihm ein nasses Kleiderbündel hin. „Äußerlich keine feststellbaren Spuren. Aber das heißt nichts. Ich denke, die Rechtsmedizin wird das klären.“
Chris nahm das Bündel und faltete es auf dem Boden auseinander. Natürlich hätte es eigentlich in eine sterile Plastiktüte gehört, um zunächst labortechnisch untersucht zu werden. Zumindest aber hätte er Einmalhandschuhe tragen müssen. Andererseits hatten hier im Krankenhaus schon so viele Leute die Kleidung berührt, als sie die Frau auszogen, dass es fast nicht mehr darauf ankam. Entschlossen langte er in die Hosentaschen der Jeans. Ein aufgeweichtes, zerknittertes Päckchen Marlboro vorne links. Die rechte Tasche war leer. Aus der linken Gesäßtasche fingerte er eine Geldbörse. Ein paar Zehner und Zwanziger. Eine Straßenbahnfahrkarte, Personalausweis.
„Lautmann, Ingeborg Maria“, las Chris vor. Seine Stimme hallte in dem kleinen Raum wider. „Himmel — sie wäre nächste Woche einunddreißig geworden.“
„Wohnhaft?“, fragte eine schnarrende Stimme hinter ihm.
Chris wirbelte herum. Susanne schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Sie sah noch zerzauster aus als gewöhnlich. Das stumpfe, braune Haar lag unordentlich um ihren Kopf, der schwarze Blazer, den sie trug, hatte an den Ärmeln tiefe Knitterfalten. Und auch ihre Jeans hatten anscheinend schon bessere Tage gesehen. Sie waren verwaschen und auf den Oberschenkeln speckig.
Die Winzigkeit eines Lächelns lag auf ihrem Gesicht. „Solltest nicht so schreckhaft sein. Ist ungesund. N´ Abend, Doktor Bovolet.“ Sie nickte Anne flüchtig zu.
„Wieso bist du hier?“, fragte sie dann geschäftsmäßig.
„Sie ist mir fast in den Wagen gelaufen. Ich dachte zuerst, sie hat nur ein bisschen viel getrunken. Aber dann hab ich zurückgesetzt und bin zu ihr hin.“
„Warum?“
Chris zuckte die Achseln. „Keine Ahnung! Ich hab´s einfach getan. Ich sah dann, dass jemand sie verprügelt hat, hab sie in den Wagen gepackt und bin hierher gefahren. Das ist alles!“
„Wann war das?“
„Glaubst du, ich stoppe die Zeit, wenn ich eine halbtote Frau ins Auto schleppe?“
„Du warst genau um 23 Uhr 27 hier“, kam ihm Anne zu Hilfe.
Chris warf ihr einen dankbaren Blick zu und überlegte kurz. „Etwa fünf, sechs Minuten vorher hab ich sie wohl gefunden“, sagte er dann.
„Wo?“, schnarrte Susanne.
„Hünefeldstraße. Ich … ich kann dir die Stelle zeigen.“
„Gut.“ Susanne nickte zufrieden. Hinter ihr schob sich Heinz Hellwein in den Raum. Er sah ebenso zerknittert aus wie seine Chefin. Chris hob überrascht eine Augenbraue. Er hatte Hellwein noch nie ohne Anzug und Krawatte gesehen. Die Hemden, die er dazu trug, waren edel und teuer, und seine Schuhe sahen immer aus wie frisch geputzt. Jetzt aber stand er da in ausgebeulten Jogging-Hosen und einem verwaschenen schwarzen Sweatshirt. Seine nackten Füße steckten in schmutzigen Turnschuhen.
Chris betrachtete die beiden eingehend. Außer ihrem ramponierten Äußeren hatten sie wirklich nichts gemeinsam. Die hochaufgeschossene, dürre Susanne, die mit ihrer aufgesetzten Härte Freund und Feind in die Flucht schlagen konnte, deren verkniffener Gesichtsausdruck jedem Fremden vermittelte, dass sie ihren Sarkasmus schon mit der Muttermilch eingesogen hatte. Aber Chris wusste, wie verletzlich sie eigentlich war, wie sehr der Tod von Peter ihr nach all den Jahren immer noch zu schaffen machte. Peter Braun war sein bester Freund gewesen, und manchmal hatte er den Verdacht, dass er nun der einzige Mensch auf der Welt war, dem Susanne einen Blick in ihr Innenleben gestattete.
Hellwein war das genaue Gegenteil seiner Vorgesetzten. Ein bisschen untersetzt, mit einem gewissen Hang zum Bauchansatz. Seine Miene drückte meist eine liebenswürdige Gutmütigkeit aus. Der typische Single, der zu oft in Schnellrestaurants und Imbissbuden aß, sich fürs Kegeln, feine Klamotten und seinen Job interessierte und sonst nichts. Er war jedoch nicht zu unterschätzen. Gerade bei Verhören spielte er sein ganzes kriminalistisches Können aus. Er gab sich wie der freundliche Onkel, dem man alles erzählen konnte, um sich fünf Minuten später wie ein Terrier festzubeißen. Wahrscheinlich war es gerade diese Gegensätzlichkeit, die die beiden zu einem äußerst erfolgreichen Gespann gemacht hatte.
Susanne steuerte auf das Laken zu, packte es am oberen Ende und riss es zur Seite. Vielleicht wurden alle so, die lange genug im Morddezernat arbeiteten, überlegte Chris. Vielleicht hast du dann zu viele Tote gesehen, zu viele scheußliche Dinge, um auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, ehe du eine nackte Frauenleiche aufdeckst.
Sein Blick saugte sich an Ingeborg Lautmanns Gesicht fest, das irgendwie durchsichtig aussah, wie eine schlecht nachgestellte Figur aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Erst jetzt, im diesem grellen Licht, sah er, wie zerschlagen das Gesicht wirklich war. Auch der Oberkörper war schrecklich zugerichtet. Rote Streifen liefen über beide Brüste, blutunterlaufene Stellen zeichneten sich überall ab, kreisrunde, verfärbte Bereiche, die womöglich von Zigarettenglut herrührten. Die Oberschenkel waren blau-schwarz verfärbt. Hämatome, die ihren Ursprung im Unterleib hatten und dann „ausgelaufen“ waren. Das medizinische Halbwissen, das er in den acht Jahren mit Anne zwangsläufig angesammelt hatte, reichte aus, um ihm das deutlich zu machen.
Sein Magen begann zu rebellieren, und etwas Saures stieg ihm in die Kehle. Er hatte schon immer schlecht mit Gewalt umgehen können, und als Strafverteidiger fühlte er sich oft gehandicapt, weil er noch nicht mal bestimmte Tatortfotos ansehen konnte, ohne dass ihm übel wurde.
Schnell ging er hinaus auf den Flur, und sein Magen beruhigte sich augenblicklich. Wenig später folgten Susanne und Hellwein, der einen durchsichtigen Beutel mit der Kleidung von Ingeborg Lautmann unter dem Arm trug.
Susannes Nasenflügel waren aufgebläht wie die Nüstern eines Pferdes. Sie schaute Chris direkt in die Augen. „Wer auch immer sie mit einem Sandsack verwechselt hat“, presste sie zwischen den Zähnen hervor, „wir werden ihm schon Feuer unterm Arsch machen!“
Beinahe dankbar registrierte Chris, dass auch Susanne noch erschüttert sein konnte, wenn sie die Leiche einer misshandelten Frau sah.
Aber gleich darauf klatschte sie in die Hände und fand zu ihrem unterkühlten Ton zurück. „Okay! Heinz! Sorg dafür, dass sie in die Rechtsmedizin kommt. Spurensicherung in die Hünefeldstraße. Aber nur das kleine Team, viel wird da nicht sein.“
Natürlich nicht, dachte Chris. Die Hünefeldstraße war nur der mehr oder weniger zufällige Fundort. Eine Stelle, an der die Frau kaum eine Minute gewesen war. Großartige Spuren würden sie dort nicht ausmachen, schon gar nicht bei dem Regen. Es würde weder die berühmte Zigarettenkippe des Täters geben, noch Fußspuren oder sonst irgendwas.
Auffordernd sah Susanne ihn an, während Hellwein nach draußen lief, um über Funk das Nötige zu veranlassen.
Anne begleitete sie bis zur Tür, wo Chris die Strickjacke abstreifen wollte. Aber Anne hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. „Lass!“, sagte sie. „Gib sie mir Sonntag. Es bleibt doch dabei?“
Sonntag? Die Geburtstagsfeier von Hans im kleinen Kreis, sicher. Wieso ausgerechnet er zu diesem kleinen Kreis gehörte, war ihm schleierhaft. Er nickte geistesabwesend und dachte plötzlich, dass er noch nie im Leben so müde gewesen war. Er wollte jetzt nur noch nach Hause, sich betrinken, schlafen, vergessen. — Susanne räusperte sich ungeduldig.
Hellwein tauchte neben ihm auf. „Soll ich fahren?“ Auffordernd streckte er seine Hand nach den Autoschlüsseln aus. Aber Chris winkte ab und ging energischer zu seinem Wagen als er sich fühlte.
An der üppigen Kastanie am Straßenrand erkannte Chris die Einfahrt wieder, in der er geparkt hatte und blieb stehen. Susanne hielt gleich hinter ihm. Aus der entgegengesetzten Richtung kamen zwei Streifenwagen und der graue Kastenwagen der Spurensicherung heran.
Es regnete nicht mehr, aber dafür wehte jetzt ein eisiger Wind und Chris fröstelte, als er ausstieg. Vom „Wonnemonat“ war in dieser Nacht wirklich nichts zu fühlen.
Er zeigte Susanne die Hauswand, an der Ingeborg Lautmann zusammengesunken war. Immer noch verpulverte „Frielingsdorf KG, Autolackiererei“ blaue Energie.
„Ist sie dir hier auch vor den Wagen gerannt?“, fragte Susanne. „Ich meine, auf gleicher Höhe der Straße?“
„Ja! … Das heißt, ich glaube es!“ Chris fing sich einen vorwurfsvollen Blick ein. „Mensch! Es war mitten in diesem Unwetter. Es kann genauso gut zehn Meter davor oder dahinter gewesen sein. Ich bin ja froh, dass ich sie überhaupt gesehen hab!“
„Hat dein Wagen sie berührt?“
Entschieden schüttelte er den Kopf. „Nein! Ich hatte noch nicht mal richtig angehalten, da war sie schon vorbei.“
„Aber sie kam von der anderen Straßenseite?“
„Ich … ich nehme es an.“
„Hast du mit ihr gesprochen?“
Chris starrte die Hauswand an und sah wieder die riesengroßen Augen und den Schmollmund vor sich. „Ja“, antwortete er dann. „Sie wollte nicht ins Krankenhaus. Sie hat gesagt: `Sie finden mich´.“
„Mehrzahl! Bist du sicher, dass sie in der Mehrzahl gesprochen hat?“ Die Kommissarin bohrte ihre rechte Schuhspitze an die Bordsteinkante. Eine Windbö fuhr in die Kastanie und ließ eiskalte Wassertropfen auf die Beiden regnen.
„Absolut!“, bestätigte Chris. „Und sie sagte etwas von einer Karin.“
„Karin?“
„Ja, sie hat zwei Mal diesen Namen gesagt.“
„Sonst noch was? Ist dir was aufgefallen? Konzentrier dich!“
„Sie … sie hatte Todesangst, Susanne! Einfach Todesangst!“
„He, ist schon gut!“ Susanne legte ihre Hand auf den Arm von Chris. „Ich weiß, dass so was keinem in den Kleidern stecken bleibt“, sagte sie in einem Anflug von Menschlichkeit. „Pass auf! Du fährst jetzt einfach nach Hause. Und wenn dir noch was einfällt, melde dich. Ansonsten kannst du irgendwann die Tage bei Hellwein deine Aussage unterschreiben.“
Obwohl Chris nur noch wegwollte, raus aus diesem eisigen Wind, fort von dieser Hauswand, verlangte er: „Du hältst mich auf dem Laufenden, ja?“
Ihre Hand, die immer noch auf seinem Arm lag, packte fester zu. „Oh nein!“, rief sie. „Den Teufel werd ich tun! Halt dich raus, Chris! Halt dich ein einziges Mal raus, wenn in dieser Stadt was los ist! Ein einziges Mal nur!“
Chris hielt ihrem langen, unnachgiebigen Blick stand. Dann fielen Susannes Schultern nach vorn und ihre Hand löste sich von seinem Arm. „Du wirst sowieso tun, was du für richtig hältst, stimmt´s?“
Er rang sich ein breites Grinsen ab. „Richtig!“
„Und du weißt genau, dass ich auf dein Urteil oft großen Wert lege!“
„Korrekt!“
„Du nutzt das schamlos aus und gehst mir mit voller Absicht auf die Nerven!“
Sein Grinsen wurde noch breiter. „Wieder richtig!“
Laut atmete Susanne durch die Nase aus. „Also gut! Aber merk dir eins: Keine Geheimniskrämerei, kein Alleingang! Ist das klar?“
„Klar!“
„Na gut! Ich will dich nicht noch mal aus der Scheiße ziehen müssen!“
Wasser! Literweise Wasser über den Körper rieseln lassen. Chris stand unter der heißen Dusche und mochte gar nicht mehr aufhören damit. Der Mensch braucht Wasser, um den Kopf frei zu bekommen. Um zu vergessen, bedurfte es nur einer viertel Flasche Whisky morgens um zwei. Um Fotografien in Silberrahmen zu vergessen und nackte, bleiche Zehen mit gelblichen Nägeln.
Er fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Es gab auch nicht viel zu träumen im Moment. Nichts, was den Adrenalinspiegel oder die Pulsfrequenz in die Höhe getrieben hätte. Kein noch so winziger Flirt an der Theke, kein Blicke tauschen im Supermarkt. Das Leben lief einfach weiter, wie im luftleeren Raum.
Es war nicht einmal mehr die Zeit, zu trauern. Da war kein Ring mehr in seiner Brust, der ihm das Herz zusammenzudrücken schien. Immer dann, wenn er überhaupt nicht damit rechnete. Auf der Straße, im Café oder im Gerichtssaal. Das war längst vorbei. Zwei Jahre schon.
Das mit dem Schmollmund war frischer. Und es war auch gleich wieder da, als Chris aufwachte. Außerdem spürte er den Whisky in seinem Kopf. Er duschte noch einmal lang und ausgiebig und nahm zwei Aspirin gegen das dumpfe Brummen im Schädel. In der Küche wurde „Grete, die Fischfrau“ nur mit einem knurrigen „Mojn“ bedacht. Er begrüßte den Holzschnitt einer grotesk fetten Mamsell mit freundlichem Gesicht jeden Morgen — meistens jedoch etwas netter. Aber Grete konnte sich ja nicht beschweren.
Er brühte Kaffee und briet sich Eier mit Speck. Wie das Wohnzimmer war auch die Küche eine Mischung aus Alt und Neu. Die Erbstücke seiner Tante aus diesem Bereich hatte er zum großen Teil dem Sperrmüll übergeben müssen. Die Geräte waren nämlich beinahe genauso alt gewesen wie die Möbel. Aber ein fünfzig Jahre alter Gasherd war nicht antik, sondern einfach lebensgefährlich. Also hatte er in eine moderne Küchenzeile investiert und nur den runden Esstisch mit den geschwungenen Füßen und die passenden Stühle seiner Tante übernommen.
Nach den Eiern und einer halben Kanne Kaffee fühlte er sich besser, konnte halbwegs klar denken. Ob die Mühlen der Polizei schon soweit in Gang gekommen waren, dass es Neuigkeiten gab? Irgendwo musste er ja anfangen. Musste er irgendwo anfangen? Susanne war eine gute Polizistin, und sie würde nicht locker lassen, bis sie denjenigen gefunden hatte, der für den Tod von Ingeborg Lautmann verantwortlich war. Es gab wirklich keinen Grund, sich einzumischen. Er hatte genug anderes zu tun! Eickboom Juniors Prozess; es galt, Schriftsätze für einige andere Strafsachen zu verfassen; Klageschriften zu lesen; die wahren Fluten von Gesetzesblättern, die Änderungen mitteilten, durchzuackern; und zwei Mandanten warteten in der Justizvollzugsanstalt Ossendorf auf ihn. Er konnte sich nicht auch noch diesen Fall an den Hals hängen. Wirklich nicht!
Nun, anrufen könnte er Susanne wenigstens, einfach der Information halber. Aber zunächst musste er seine Einkäufe erledigen. Es gab immer noch Geschäfte in den Stadtvierteln, die samstags nachmittags dicht machten. Missmutig packte er das Altpapier in zwei Klappkörbe und schleppte sie nach unten. Die Tonnen im Keller waren mal wieder voll — also würde er das Zeug zur Deponie fahren müssen.
Draußen brauchte er ein, zwei Sekunden, um sich zu erinnern, wo er letzte Nacht den Wagen abgestellt hatte. Während die Körbe mit dem Altpapier von Schritt zu Schritt schwerer wurden, kam er an der kleinen Imbissbude auf der Ecke vorbei. Als ihm der Geruch von Fritten in die Nase stieg, verspürte er fast schon wieder Hunger. Currywurst und dazu fettige Fritten mit Mayo — sein heimliches Laster.
Entschlossen stapfte Chris weiter. Das Papier wog jetzt mindestens eine Tonne. Hein, der Besitzer des Kiosks auf der anderen Straßenseite, stand in Schlabberhosen und Pantoffeln in der Sonne und wartete auf Kundschaft.
„Brauchste Hilfe, Jung?“, rief er fröhlich herüber und hob grüßend die Hand.
Chris verzieh ihm natürlich den „Jung“. Für den Urkölner waren alle „Jung“ oder „Mädchen“, Teenager genauso wie hundertjährige Greise.
„Danke, Hein“, keuchte er, „bin gleich da. Leg mir schon mal ´ne Stange weg!“
Die Antwort hörte er nicht mehr, weil sich ein LKW zwischen sie schob und mit pfeifenden Bremsen auf der Fahrbahn stehen blieb. Er war jedoch sicher, dass Hein ihm eine Stange seiner Zigarettenmarke zurücklegen würde.
Als Chris die Körbe schließlich in den Kofferraum wuchtete, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Nur zögernd stieg er in den Wagen. Gestern Abend war er zu erschöpft gewesen, um es wirklich wahrzunehmen. Jetzt aber war es ihm mehr als bewusst. Da neben ihm hatte sie letzte Nacht gelegen, mehr tot als lebendig. Geschlagen, geschunden, vielleicht sogar vergewaltigt und … Seine Augen saugten sich an einem kleinen braunen Ledereinband fest, der auf dem Beifahrersitz lag.
Hastig griff er danach. Ein durchweichter Taschenkalender, der Ingeborg Lautmann aus der Jeans gefallen sein musste, als er sie in den Wagen hob.
Vorsichtig blätterte er die klammen Seiten durch. Die Feuchtigkeit hatte die Eintragungen etwas verwischt, das Schriftbild verbreitert. Trotzdem war alles noch gut lesbar. Sie schien glücklicherweise keine Vorliebe für Füllhalter gehabt zu haben.
An vielen Tagen waren Uhrzeiten und Kürzel eingetragen: „18 Uhr NK“, „20 Uhr Flosse“, 16 Uhr 30 Bl“, Seite um Seite. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen tauchten die Abkürzungen immer wieder auf. Dann, ab dem 20. April keine einzige Eintragung mehr. Einschließlich gestern nur noch leere Blätter.
Hinten schloss sich ein Telefonregister an. Chris ließ die vollgesogenen Seiten durch Daumen und Zeigefinger gleiten und redete sich gut zu. Natürlich musste er den Kalender sofort nach dem Einkauf bei Susanne abgeben. Dann aber blieb sein Blick an einem Namen im Register hängen. „Karin Berndorf“ stand da, eine Telefonnummer, eine Adresse im Südwesten der Stadt.
„Doktor Sprenger“, murmelte er, „Sie unterschlagen Beweismaterial!“ Aber da hatte er den Wagen schon gestartet und war losgefahren.
Lautmann hatte „Karin“ gesagt und nicht „Mutter“ oder Ähnliches. Verlangte nicht jeder Mensch in einer solchen Situation nach einer ihm nahestehenden Person? Oder hatte sie sagen wollen, dass diese Karin irgendwie verwickelt war in die Geschichte? Wie auch immer, sie hatte offenbar eine besondere Bedeutung gehabt. Und mit etwas Glück war Karin Berndorf diese Frau.
Sie wohnte in einem schmucken Altbau gegenüber dem Klettenbergpark. Chris war erstaunt, wie sehr sich das Bild der Straße gewandelt hatte. Die düsteren, tristen Häuser, die er noch aus seiner Kindheit kannte, waren mit viel Liebe restauriert worden. Die Stuckumrandungen der Fenster stachen blau von den schneeweißen Fassaden ab. Die kleinen Erker und die Ornamente über den Haustüren waren in Gelb gehalten. In den Vorgärten blühten Tulpen und Narzissen, und die grauen Waschbetonboxen, in denen die Müllcontainer standen, waren dezent mit Efeu umwuchert. — Wer auch immer Karin Berndorf war, billig wohnte sie jedenfalls nicht.
Als Chris aus dem Wagen stieg, roch er Frühling, aufbrechende Knospen und von der Sonne erwärmte Erde. Es war ein wolkenloser, klarer Tag, und außer ein paar abgebrochenen Ästen auf den Bürgersteigen deutete nichts darauf hin, dass letzte Nacht Sturm und Regen gepeitscht hatten. Das aufgeregte Schnattern von Enten drang an sein Ohr, Vögel, die um die Wette zwitscherten, Hundegebell aus dem Talkessel des Parks. Vom nahe gelegenen Spielplatz ertönte eine wütende Kinderstimme: „Ihr dürft noch nicht anfangen! Ich hab noch nicht gepfeift!“
Nun ja, eine Elfe war Karin Berndorf nicht gerade. Hochgewachsen, mit runden, breiten Schultern, die auf irgendeine sportliche Betätigung schließen ließen. Chris war sich mit seinen hundertachtundsiebzig Zentimetern immer als „normalgroß“ vorgekommen. Sie aber überragte ihn um ein gutes Stück. Die ausgeprägten, lebendigen Gesichtszüge wurden umkringelt von widerspenstigen, blonden Locken. Sie stützte sich mit dem rechten Arm im Türrahmen ab, der linke Daumen hing lässig in einer Gürtelschlaufe ihrer Jeans. Kühl blickte sie Chris entgegen. Aus übrigens erstaunlich blauen Augen. Ein lichtes Graublau, hellwach und offen, mit feinem Spott im Hintergrund. Zwei feuchtglänzende Kiesel, an denen Chris einen Moment lang hängenblieb, sich einfach nicht lösen konnte und beinahe das „Bitte!?“ mit dem sie ihn empfing, überhörte.
Sie brauchte weder einen neuen Staubsauger, noch hatte sie Lust auf die Zeugen Jehovas. Das machte dieses „Bitte!?“ überdeutlich.
„Ich … äh … mein Name ist Sprenger“, sagte er endlich. „Christian Sprenger. Sie … Sie kennen Ingeborg Lautmann?“
Das Blau zog sich zu zwei schmalen Schlitzen zusammen, und das Gesicht von Karin Berndorf lief unvermittelt rot an, ein ziemlich wütendes Purpur.
„Und?“, bellte sie. Ihre Distanz war jetzt unverhohlene Feindseligkeit. Aber Chris bemühte sich um Gelassenheit. „Ich bin Anwalt und …“
„Sie sitzt also endgültig in der Tinte, ja?“, wurde er schroff unterbrochen.
Er nickte langsam. „So könnte man es nennen!“
„Und was wollen Sie jetzt von mir?“
„Ich weiß nicht, ob wir das hier draußen …“
Karin Berndorf kniff wieder die Augen zusammen, taxierte ihn aufmerksam und gab dann die Tür frei.
„Geradeaus“, knurrte sie, als er unschlüssig in der Diele stehenblieb.
Chris folgte der Weisung und betrat ein helles, großes Wohnzimmer, das nur sparsam möbliert war. Die Sitzgruppe am Fenster strahlte unaufdringliche Gemütlichkeit aus. Grünpflanzen, die den Namen auch wirklich verdienten, reihten sich an der breiten Fensterfront. Ein Fensterflügel stand offen und ließ dem Lärm sich streitender Spatzen herein. Voller Unbehagen dachte er an seine eigenen Topfblumen, die ein eher kümmerliches Dasein fristeten. Den „grünen Daumen“ hatte Christian Sprenger mit Sicherheit nicht.
Ein Esstisch mit vier Stühlen stand an der linken Wand, daneben führte eine Tür in die Küche. Eine zweite Tür gab den Blick in ein Arbeitszimmer frei, auf dessen überdimensioniertem Schreibtisch sich Papiere und großformatige Fotos stapelten. Die obligatorische Schrankwand im Wohnzimmer fehlte. Dafür gab es helle, offene Regale mit Unmengen von Büchern, CDs und Musikkassetten. Keine Frage — Karin Berndorf ließ sich genug Luft und Raum zum Leben. Das hätte sie beinahe sympathisch machen können. Aber sie lehnte mit verschränkten Armen an der Türfüllung, und jede Pore ihres schweren Körpers strahlte Ablehnung aus. Was auch immer sie und Ingeborg Lautmann verbunden hatte, die beiden waren längst noch nicht fertig miteinander gewesen — bis letzte Nacht.
Chris zog eine Visitenkarte aus der Jackentasche und reichte sie Karin Berndorf. Er verzichtete ganz bewusst auf seine offizielle Legitimation der Anwaltskammer. Schließlich war sein Besuch hier privater Natur. Trotzdem war es ihm wichtig, sich gewissermaßen als Anwalt ausweisen zu können. Das hatte schon so manches Eis gebrochen.
Bei Karin Berndorf gehörte zum Eisbrechen allerdings mehr als ein bedrucktes Stück Pappe. Sie studierte die Karte eingehend und ließ sie dann in der Brusttasche ihrer karierten Bluse verschwinden. Wieder kniff sie die Augen zusammen und taxierte Chris. Vielleicht war sie aber auch nur kurzsichtig.
„Sie scheinen ziemlich wütend auf Frau Lautmann zu sein“, stellte er fest. Irgendwie musste das Gespräch ja eröffnet werden.
„Ach ja? Finden Sie nicht, Sie sollten mir erst mal ein paar Fragen beantworten? Und dann entscheide ich, ob ich mit Ihnen plaudern will!“ Mit erstaunlicher Leichtigkeit stieß sie sich vom Türpfosten ab.
Warum diese scheinbar undurchdringliche Abwehrhaltung? Chris beschloss, das Eis brutal mit der Spitzhacke zu brechen. Ruhig und ohne Umschweife sagte er: „Sie ist tot!“
Die immer noch purpurne Gesichtsfarbe wechselte augenblicklich in besorgniserregende Blässe. Das unverschämte Blau weitete sich und bekam einen fassungslosen Ausdruck. Sekundenlang stand sie einfach da und starrte Chris an. Dann ging sie steifbeinig zu der Sitzgruppe am Fenster und ließ sich in einen Rattansessel fallen. Erst da bemerkte Chris, dass sie hinkte, das linke Bein stark nachzog. Unaufgefordert setzte er sich gegenüber auf die Couch.
„Wieso? … Ich meine, was …?“ Diese große Frau schien plötzlich hilflos wie ein Kind. Sie saß vornübergebeugt da, zusammengesunken, kraftlos.
Chris bemühte sich um einen möglichst geschäftsmäßigen Ton — die einzige Möglichkeit, in sich selbst die Bilder der letzten Nacht nicht allzu lebendig werden zu lassen. „Sie ist auf übelste Weise zusammengeschlagen worden. Die Obduktion ist wohl noch nicht abgeschlossen, aber wie es aussieht, ist sie an inneren Verletzungen gestorben.“
Karin Berndorf murmelte etwas, das sich wie „Oh Gott“ anhörte und legte die Hände an die Nasenflügel. Eine ganze Weile saß sie reglos da, die Augen geschlossen. Chris starrte auf den Glastisch zwischen ihnen und wartete, ließ ihr Zeit, zu sich zu kommen. In ihm purzelten mit einem Mal einzelne Szenen der vergangenen Nacht wild durcheinander. Die weiße Gestalt im Regen, Susannes zerknitterter Blazer, der Geruch von nasser Wolle, das blaue Licht der Leuchtreklame …
Endlich richtete Karin Berndorf sich auf und schaute ihn an. Sie schien sich vollständig gefasst zu haben. „Und was haben Sie damit zu tun?“, fragte sie heiser.
„Ich hab sie letzte Nacht gefunden und ins Krankenhaus gebracht.“
„Aber jetzt ist das doch Sache der Polizei.“
„Es macht mich verdammt wütend, wenn Frauen so etwas angetan wird“, presste Chris hervor, „und außerdem …“ Er dachte an den Schmollmund. Aber das gehörte wohl nicht hierher. „Sie hat nach Ihnen gerufen, letzte Nacht“, erklärte er stattdessen.
„Nach mir?“
„Sie sagte zweimal `Karin´. Und da es in ihrem Notizbuch nur eine Karin gibt, nehme ich an, dass Sie das sind.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass Inge …“, begann sie leise. „Sie haben Recht, ich bin … ich war wütend auf sie. Aber dass sie … Haben Sie eine Ahnung, wer und warum?“
Chris schüttelte den Kopf. „Genau deshalb bin ich hier. Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie mir irgendeinen Hinweis geben können.“
„Nein! Kann ich nicht. — Und damit dürfte das `eigentlich´ wohl beantwortet sein.“ Leise Ironie lag auf ihrem Gesicht. „Und jetzt werden Sie mich bitten, etwas über Inge zu erzählen, weil Sie glauben, dass ich sie gut gekannt habe, stimmt´s?“
„Auffallend“, gab Chris zu und lächelte, obwohl diese Direktheit ihn verwirrte.
Karin Berndorf wuchtete sich aus dem Sessel und schüttelte ihr rechtes Bein. Was kam jetzt? Der endgültige Rauswurf? Aber sie fragte nur: „Kaffee? — Ich hab gerade welchen gemacht!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie nach nebenan. Chris stakste hinterher und blieb in der geöffneten Tür stehen. Auch die Küche war in hellen, freundlichen Farben gehalten. Rundum kein elektronischer Schnickschnack. Karin Berndorf schien zu den Menschen zu gehören, die ein Ei noch mit der Gabel schlagen können.
Nur zwei Dinge passten nicht ins Bild. Das eine war ein völlig verloren wirkender Stuhl in der Fensternische, das andere ein Servierwagen auf dicken Rollen. Und doch hatte Chris das Gefühl, dieses seltsame Arrangement schon einmal gesehen zu haben. Irgendwo, vor langer Zeit.
Er betrachtete eingehend Karin Berndorfs breites Kreuz und die muskulösen Hände, die an der Kaffeemaschine hantierten. Das Spiel begann ihm Spaß zu machen. „Und was würden Sie tun, wenn ich passionierter Teetrinker wäre?“, fragte er deshalb.
Karin drehte sich herum und schaute ihn an. Viel zu lange eigentlich. Mit diesen unverschämt blauen Augen. „Zum Nachbarn gehen und um einen Teebeutel bitten“, sagte sie schließlich. „Aber Tee ist nicht Ihr Lebenselixier.“
Das war keine Frage, sondern eine knappe, klare Feststellung. Und verdammt — sie hatte Recht! Für ihn hatte Tee einen engen Bezug zu Krankheit und Siechtum.
„In welchem Verhältnis standen Sie zu Ingeborg Lautmann?“ Dunkel hatte er sich an den Grund seines Besuchs erinnert.
„Kneipenbekanntschaft“, kam die lakonische Antwort, während Karin geschickt ein Tablett mit Tassen und Zuckerdose belud. Ihre Bewegungen waren fließend und doch irgendwie streng kontrolliert. Sie machte keinen Schritt zu viel. Im Gegenteil: Von ihrer Position aus schien sie alles, was der Mensch zum Kaffeetrinken benötigte, in Griffnähe zu haben.
Was war los mit dieser Frau? Ein noch nicht ganz verheilter Beinbruch? Meniskus? Irgendein Skiunfall, an dem sie noch laborierte, was um diese Jahreszeit nicht ungewöhnlich gewesen wäre? Andererseits steckte so viel Routine in diesen wenigen Bewegungen, dass es sich kaum um irgendeine akute Verletzung handeln konnte. Eher eine dauerhafte, seit Ewigkeiten bestehende Behinderung.
„Wir haben uns zunächst richtig gut verstanden“, sagte sie nach einer kurzen Pause. „Dann gab es irgendein Problem mit ihrer Wohnung, und ich habe ihr angeboten, hier einzuziehen, während sie sich eine neue Bleibe sucht.“
Karin drückte sich mit einem beladenen Tablett an Chris vorbei. Der flüchtige Duft von Parfum blieb zurück. „Envy“, wenn ihn nicht alles täuschte.
„Das war vor zwei Jahren oder so. Als sie hier wohnte, hat sie jedes einzelne Zimmer in ein Schlachtfeld verwandelt. Überall lagen ihre Klamotten rum, sie hat sämtliche Bücher durchgeblättert, ohne sie wieder ins Regal zu stellen. Wenn sie Musik gehört hatte, blieben die CD-Hüllen wochenlang liegen, und durchs Bad konnten Sie schwimmen, wenn sie geduscht hatte. Und im Haushalt hat sie nicht mal den kleinen Finger gerührt. Schließlich hab ich sie vor die Tür gesetzt.“ Karin verteilte blauweiße Tassen auf dem Wohnzimmertisch. „Danach sind wir uns ab und an nochmal in einer Kneipe begegnet. Wir haben ein paar Worte gewechselt, auch mal ein Bier zusammen getrunken. Aber sie hat nie mehr viel von sich rausgelassen. Irgendwann hab ich mal das Gerücht gehört, sie wäre so was wie eine Edelprostituierte geworden. Ob´s stimmt, weiß ich nicht. Es wird ja so viel erzählt. Sie war allerdings immer auffallend durchgestylt. — Wollen Sie Ihren Kaffee im Stehen?“
Tatsächlich! Er stand immer noch wie angenagelt am Türpfosten.
„N … nein!“ Teufel! Jetzt geriet er auch noch ins Stottern. Christian Sprenger, immer überlegen bis zum Erbrechen. Und diese Frau raubt dir von einer Sekunde zur anderen die Souveränität! Was ist los mit dir?
Schnell setzte er sich und umklammerte die Kaffeetasse mit beiden Händen. Wenigstens etwas, woran er sich festhalten konnte. Ob er hier rauchen durfte?
In diesem Augenblick hielt Karin ihm eine Packung Marlboro hin. Dankbar fischte er eine Zigarette heraus. Wieso überhaupt dankbar? — Irgendetwas machte ihn grenzenlos nervös.
Konzentrier dich Sprenger, konzentrier dich einfach.
„Und wieso sind … waren Sie wütend auf sie?“, nahm er das Gespräch wieder auf. Ganz automatisch hob er die Stimme, weil das Spektakel der Spatzen draußen noch einmal anschwoll.
Er beugte sich weit über den Glastisch zwischen ihnen um ihr Feuer geben. Dabei konnte er gar nicht anders, als genau in den Ausschnitt ihrer Bluse zu sehen. Auf die Rinne zwischen ihren schweren Brüsten. Heiß stieg es in seinen Eingeweiden auf. Dabei stand er doch gar nicht auf Frauen mit großer Oberweite. Irritiert lehnte er sich zurück.
Karin inhalierte tief und ließ den Rauch durch die Nase entweichen, bevor sie antwortete. „Tja, dazu muss ich etwas über Inge erklären“, begann sie nachdenklich. „Sie gab sich oft wie ein kleines Kind. Hilflos, naiv, verspielt. Sie hat allen das Gefühl vermittelt, sie beschützen zu müssen. Deshalb habe ich ihr wohl auch so bedenkenlos meine Wohnung angeboten.“ Sie grinste schief. „War vielleicht mein Mutterinstinkt oder so was. Na, wie gesagt, ab und zu haben wir noch ein Bier zusammen getrunken. Vor ungefähr drei Wochen aber tauchte sie plötzlich hier auf. Sie sagte, sie hätte zurzeit ein paar Probleme, über die sie nicht reden könnte, und ob sie nicht zwei, drei Nächte hier schlafen dürfte. Ich hab zuerst gedacht, es wäre wieder ihre übliche `Ich-hilfloses-Kind´-Masche. Und da ich von meinen Mutterinstinkten restlos kuriert war, wollte ich ablehnen. Aber dann hatte ich den Eindruck, dass es ihr wirklich nicht gut ging. Sie war fahrig, nervös, schaute immer wieder aus dem Fenster. Es war fast so, als ob sie vor irgendetwas Angst gehabt hätte. Glücklich bin ich damit nicht gewesen, aber ich habe sie schließlich hier auf der Couch schlafen lassen.“
„Wann war das genau?“, unterbrach Chris sie und starrte gedankenverloren auf das linke Bein von Karin, das in fast unnatürlichem Winkel stand. Er dachte an die so abrupt endenden Eintragungen in dem Taschenkalender.
Aber Karin fasste seinen Blick offensichtlich falsch auf. Sie klopfte nämlich auf ihren Oberschenkel und erzeugte einen dumpfen Ton. „Kunststoff und Metall. — Kein Fleisch und Blut!“
Verwirrt hob er den Kopf und murmelte eine Entschuldigung, zu sehr in Gedanken, um angemessen darauf zu reagieren.
„Kein Problem!“ Karin lachte. „Also, wann war das? Warten Sie. Es war irgendwie mitten in der Woche. Müsste der 25. oder 26. April gewesen sein.“
Chris nickte, mehr zu sich selbst, als zu Karin. Das passte ungefähr. Sie nahm dieses Nicken als Aufforderung, weiterzuerzählen. „Ich hab ihr also ein Bett hier auf der Couch gemacht. Am nächsten Morgen hatte ich einen Termin. Ich musste früh aus dem Haus und hab sie schlafen lassen. Als ich nachmittags zurückgekommen bin, war Inge weg. — Mit ihr leider auch eine sündhaft teure Kamera und ein Umschlag mit fünfhundert Euro.“
Unwillkürlich pfiff Chris durch die Zähne. Inge Lautmann musste ziemliche Probleme gehabt haben. „Und sie hat Ihnen nicht gesagt, was los war?“
Karin schüttelte langsam den Kopf. „Kein Wort.“
„Haben Sie Anzeige erstattet?“
Wieder Kopfschütteln. „Nein! Wie gesagt, ich dachte, sie ist wirklich in Schwierigkeiten. Mit einer Anzeige hätte ich sie doch nur noch mehr reingerissen. Vielleicht hätt ich´s wirklich tun sollen! Aber ich hatte mir fest vorgenommen, sie übers Knie zu legen, wenn sie mir noch mal … Oh Gott!“ Das unverschämte Blau weitete sich entsetzt. „Hören Sie …“
„Übers Knie legen und totschlagen ist ein ziemlicher Unterschied“, unterbrach Chris sie und hob abwehrend die Hände. „Ich weiß, wie Sie`s gemeint haben.“
„Sicher?“
„Absolut! Aber sagen Sie, diese Kamera. Hätte sie die irgendwie zu Geld machen können?“
Karin hob die Achseln. „Ja und nein! Es war eine alte Hasselblad, die ich oft zu Außenaufnahmen mitgenommen habe. Ich bin freiberufliche Fotografin. Es war ein ziemlich wertvolles Sammlerstück. Auf dem Gehäuse ist allerdings eine Plakette mit meinem Namen aufgeschweißt. Sie also in einem Fotoladen zu verkaufen hätte kaum funktioniert. Die Händler sind im Allgemeinen sehr sensibel und misstrauisch, wenn ihnen so etwas angeboten wird. Aber auf irgendwelchen anderen Wegen — wer weiß?“
In ihren Blick war etwas Sehnsüchtiges getreten, was Chris zu der Frage veranlasste: „Sie haben wohl sehr an der Kamera gehangen?“
Karin lachte auf. „Merkt man das? Ja, stimmt. Wissen Sie, wenn Sie vom Fotografieren leben wollen, müssen Sie erstens verdammt gut sein und zweitens in der Anfangszeit eine Menge Scheißjobs machen. Und da war die alte Dame ständig bei mir. All diese Scheißjobs haben wir zusammen gemacht.“
„Verstehe! Und dann haben Sie die besseren Jobs miteinander gemacht!“
„So ist es“, antwortete sie. „Ich arbeite jetzt viel für Verlage. Bildbände. Reiseführer. Themenkalender sind der große Renner im Moment. Manchmal mache ich natürlich auch noch so blödsinnige Sachen wie Hochzeiten und neunzigste Geburtstage. Heute Nachmittag muss ich auch zu einer Hochzeit. Hab mich aus alter Freundschaft dazu überreden lassen.“
Sie verzog das Gesicht und nestelte noch eine Zigarette aus der Packung. „Bedienen Sie sich.“
Chris fischte in dem Päckchen herum und fragte dabei: „Sagen Sie, fällt Ihnen irgendetwas zur Hünefeldstraße ein?“
Karin überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Nein! Wieso?“
„Dort habe ich sie gefunden. Ich dachte, wenn wir herausfinden, woher sie kam …“
„Spielen eigentlich alle Anwälte Privatdetektiv?“, unterbrach Karin ihn amüsiert.
„Manche! — Nein, im Ernst, irgendwie stecke ich da mit drin. Und wie gesagt: Es macht mich ziemlich wütend, wenn eine Frau totgeschlagen wird!“
Chris erntete einen abschätzenden Blick. Diesmal jedoch weitaus freundlicher als zu Anfang ihres Gesprächs. Er erwiderte diesen Blick mit schiefgelegtem Kopf.
„Sie haben gedacht, ich wollte Ihnen einen Staubsauger verkaufen, als ich vor der Tür stand, stimmt´s?“, fragte er dann leichthin.
Karin grinste, und gleichzeitig wurde ein Teil von ihr plötzlich sehr erst. „Nicht unbedingt“, antwortete sie langsam, „ich bin nur etwas empfindlich, was meine Privatsphäre anbelangt.“
„Warum haben Sie mich dann reingelassen?“
Bruchteile von Sekunden lang spiegelte das unverschämte Blau eine unendliche Traurigkeit wider, einen für Chris erschreckenden Schmerz.
„Mir imponieren einfach Menschen, die hartnäckig sind“, sagte sie jedoch lächelnd. „Ihre Frau muss sehr stark sein, um es mit Ihnen auszuhalten.“
War das nun ein Kompliment oder was?
„Ich bin seit zwei Jahren solo“, platzte Chis heraus.
„Und davor?“
Er war so überrumpelt von dieser Direktheit, dass er einfach weiterplapperte. „Davor war ich acht Jahre mit einer Ärztin zusammen — mehr schlecht als recht. Das Leben ohne sie bekommt mir viel besser. Hat zwar eine Weile gedauert, bis ich das begriffen habe, aber mittlerweile genieße ich meine Unabhängigkeit.“
Erschrocken hielt er inne. Was tat er denn da? Er war wirklich und wahrhaftig auf dem besten Weg, vor einer wildfremden Frau sein Leben auszubreiten. Von den acht Jahren mit Anne zu erzählen, von den ersten Monaten ohne sie. Von ihrer ersten Begegnung in einer schäbigen Kneipe. Wie Anne da an der Theke gestanden hatte in Seidenbluse und Kaschmir-Blazer. Ein Fremdkörper zwischen frisch gezapftem Bier und kalten Frikadellen.
„Erzählen Sie doch weiter!“, ermunterte Karin ihn, den Kopf in die rechte Hand gestützt und mit leuchtenden Augen.
„Den Teufel wird ich tun!“, wehrte er lachend ab. „Sie schnüffeln mein Privatleben aus!“
„Warum nicht?“, gab Karin zurück. „Sie interessieren mich einfach!“
Chris spürte, wie sein Gesicht die Farbe eines gekochten Hummers annahm. Er hätte sich ohrfeigen können dafür. Ihm fiel nichts Besseres ein, als sich zu räuspern und dann abrupt das Thema zu wechseln. „Was können Sie sonst noch zu Inge sagen? Freunde, Verwandte und so?“
Karin blies wieder die Wangen auf. „Nicht viel, fürchte ich. Gemeinsame Freunde hatten wir nie. Ich bin mal mitgefahren zu ihrer Mutter. Die lebt irgendwo in der Nähe von Bad Münstereifel. Sie fuhr gerne dahin. Ich glaube, weniger wegen ihrer Mutter, sondern weil sie lange Spaziergänge dort im Arloffer Wald liebte. Aber wir haben nie so eng zusammengegluckt, als dass ich großartige Details kennen könnte. Ich weiß nicht einmal genau, wo sie früher gewohnt hat. Sie ist hier damals mit zwei Koffern angekommen. Und als ich sie rausgeworfen habe, hat sie die Koffer wieder mitgenommen. Vielleicht sollten Sie mal bei ihrer früheren Arbeitsstelle nachfragen. Sie war beim Kaufhof in der Herrenmodenabteilung.“
Kurz darauf gab es nichts mehr, womit Chris seinen Abschied hätte hinauszögern können. Außer vielleicht, die Erkenntnisse zu vertiefen, die er in acht Jahren mit einer humorlosen Ärztin gewonnen hatte. Aber dafür war er nun wirklich nicht hergekommen.
Sie jetzt zum Kaffee einladen, fragen, ob sie miteinander essen gingen! Aber seine Zunge war wie Blei, das Gehirn aus Pudding. Und Karin kam ihm nicht einen Schritt entgegen.
Sie ließ ihn einfach gehen.