Dreiundzwanzig
Das Gehirn von Chris blieb wie vernagelt. Er hatte es tatsächlich geschafft, sich auf die Ermittlungsakten zu konzentrieren. Er las aufmerksam, sortierte, wühlte in seinem Gedächtnis, suchte eine Unstimmigkeit, diesen winzigen Fehler, den Wimpernschlag, der einen Sturm auslöste. Und es war da, das wusste er, ganz nah, wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt und doch nicht einfällt. Aber je mehr er las, desto mehr lief in seinem Kopf alles durcheinander.
Schließlich fing er noch einmal von vorne an. Nahm sich erst die Unterlagen über Inge Lautmann vor. Ging akribisch die Aussagen von Familie und Freunden durch. Dann kam er zu den Angaben, die Karin bei der Polizei gemacht hatte. Karin!
„Mit Liebeskummer ist es wie mit einem hohlen Zahn. Die Versuchung, ihn mit der Zunge zu berühren, ist größer als die Angst vor dem Schmerz.“ Er wusste nicht mehr, von wem dieser Satz stammte, aber es steckte eine Menge Wahrheit darin. Auch er stocherte ständig in dem Loch herum und wunderte sich dann, dass es wehtat.
Ein Anruf von Susanne, die ihm die vorläufigen Ergebnisse von Witte und Geseke durchgab und sich ein bisschen ausweinte, weil Steffens ihnen zwar den Rücken frei hielt, aber gleichzeitig Wunder erwartete, lenkte ihn kurzzeitig ab. Und dann schaffte er es nicht mehr, seine Aufmerksamkeit bedrucktem Papier zu widmen.
Er betrank sich nicht so fürchterlich wie am Abend zuvor. Aber es reichte, um in Selbstmitleid zu versinken, in chaotische Träume und am nächsten Morgen mit grässlichen Kopfschmerzen aufzuwachen.
Bis kurz nach zehn hielt er es im Büro aus. Dann gab er seiner Unruhe nach, den „Hummeln im Hintern“. Es war da, es war greifbar. Nur tappte er immer wieder daneben. Er brauchte einen Hinweis, eine Eingebung, den ersten Buchstaben des Wortes, das ihm auf der Zunge lag.
Kurzerhand fuhr er in die Hünefeldstraße. Es war ein grauer Tag, kühl und windig. Dicke, dunkle Wolken hingen am Himmel und ließen der Sonne keine Chance. Als Chris vor der Frielingsdorf KG aus dem Wagen stieg, zog er fröstelnd die Schultern hoch. Er trug dünne Sommerhosen und ein kurzärmeliges Leinenhemd. Wieso hatte er bloß sein Sakko im Büro gelassen?
Eine Weile stierte er auf die Hauswand, an der Lautmann gelehnt hatte, sah zu der Kastanie am Straßenrand, beschwor jenen Abend herauf, jede Einzelheit, jeden Regentropfen. — Es passierte nichts.
Nach zehn Minuten gab er auf, fuhr zwei Blöcke weiter und wiederholte vor dem Wohnsilo in der Mathias-Brüggen-Straße das Spiel. Was sah er? Eine Art westlichen Plattenbau, Laubengänge mit rot gestrichenen Brüstungen, Eintönigkeit. Vor den Häusern waren kümmerliche Grünflächen, von Trampelpfaden durchzogen, weil die Bewohner jahraus, jahrein die gleichen Abkürzungen benutzten, gegen die verkommene, verstaubte Bodendecker ankämpften. Über das brachliegende Areal neben den Gebäuden knatterten ein paar Jugendliche mit ihren Mopeds und lieferten sich eine Art Geländerennen.
Chris nahm das alles in sich auf, aber das war´s dann auch. Wenn er sich irgendeinen Geistesblitz erhofft hatte — hier jedenfalls war er nicht zu finden.
Er ließ den Wagen stehen und schlenderte zu Fuß weiter bis zu Gesekes Großhandel, blieb auch dort eine Weile stehen. Susanne wollte sich Geseke genauer ansehen, wie sie sagte. Hatte das was Chris suchte, mit ihm zu tun? Gab es den Fetzen eines Hinweises auf ihn?
Eine plötzliche Windböe ließ ihn erschauern. Auf seinen nackten Armen bildete sich eine Gänsehaut, und er ging schnell zurück zum Auto.
Seine letzte Station war die Hermann Witte KG in der Richard-Byrd-Straße. Er stellte den Wagen auf den Parkplatz vor der Halle, bummelte eine Weile auf und ab und schaute zu, wie ein LKW entladen wurde. Paletten voller eingeschweißter Käseleiber und Eimer in der Größe der Bottiche, in denen Wandfarbe verkauft wurde. Bei näherer Betrachtung entpuppten sie sich als 10-Kilo-Eimer Mayonnaise und Ketchup. Chris lehnte sich schließlich an die Motorhaube des schwarzen Nissan und wartete, horchte in sich hinein, spulte die Ermittlungsunterlagen aus dem Gedächtnis ab. Wartete wieder. Nahm sich Zeit.
Erst als der Wind den unangenehm-süßlichen Geruch der nahe gelegenen Brauerei herübertrieb, gab er auf und machte sich frustriert auf den Weg zurück ins Büro. Aber was hatte er denn erwartet?
„Buddha hat Jahre gebraucht, bis er erleuchtet wurde“, knurrte er gegen die Windschutzscheibe und trat ein wenig fester aufs Gaspedal. Ihm standen nur leider keine Jahre zur Verfügung, höchstens Tage. Aber er hatte ja auch nicht vor, die Menschheit zu erlösen. Er wollte nur eine winzige Idee, ein Körnchen Erinnerung. Irgendetwas, ein Wort, eine Stimmung, eine Widersprüchlichkeit in den verschiedenen Aussagen.
Warum er sich ausgerechnet an diesem Abend nicht betrank, sollte ihm immer ein Rätsel bleiben. Es wäre die logische Folge gewesen: Sonntag betrunken, Montag, Dienstag — so lange betrunken, bis die Pille gegen Liebeskummer erfunden wurde oder ein Lebenszeichen von Karin kam.
Natürlich passierte weder das eine noch das andere. Trotzdem blieb er nüchtern. Nahm sich sogar Zeit für ein leichtes Abendessen, kochte Risotto mit Steinpilzen, deckte für sich selbst liebevoll den Tisch mit Serviette und Kerzen, und legte dazu ein Klavierkonzert von Brahms auf.
Vielleicht war es einfach Erschöpfung, oder einer jener „Zufälle“, an die er nicht mehr glaubte, der ihn davon abhielt, sich mit Alkohol zu benebeln. Jedenfalls las er zwei Stunden in den Unterlagen von Susanne, ging gegen zehn ins Bett und schlief fast augenblicklich ein.
Das Schrillen des Telefons riss ihn aus einem bunt schillernden Traum. Beim fünften Klingeln war er wach genug, um abzuheben und ein „Ja?“ in den Hörer zu murmeln.
Die Stimme war heiser, beinahe flüsternd. „Wenn Sie wissen wollen, wer die beiden auf dem Kerbholz hat, kommen Sie jetzt zur Rochuskapelle. Rückseite. Und kommen Sie allein.“
Bevor Chris den Mund zu einer Erwiderung öffnen konnte, knackte es leise in der Leitung.
Rochuskapelle. Allein. Jetzt! Mehr war nicht in seinem Kopf. Allenfalls so etwas wie die Befriedigung, dass das Stochern im Nebel oft genug doch noch in einen Hafen führte. Theo hatte mit Sicherheit Gott und die Welt nach Lautmann und Tönnessen ausgequetscht und dabei seinen „kleinen Anwalt“ nicht unerwähnt gelassen. Spätestens seit dem Tod von Tönnessen sprach das ganze Milieu sowieso darüber. Und irgendjemand hatte jetzt so viele Fakten beisammen, dass ein Bild daraus wurde und wollte sein Wissen loswerden. Letztendlich waren also die inoffiziellen Wege immer noch die kürzeren.
Chris hatte Mühe, nicht in Triumphgeheul auszubrechen, als er in aller Eile Hose und Hemd anzog, die noch über dem Stuhl neben seinem Bett hingen. Er steckte die 38er hinten in den Bund, das Handy in die Hosentasche und hastete nach unten. Die Piusstraße lag still und menschenleer da. Die Leuchtreklame des Imbiss war dunkel, und auch vor dem Kiosk von Hein waren die Jalousien heruntergelassen.
Er hetzte zu seinem Nissan, der — natürlich — unverschlossen war. Rochuskapelle, das müsste er um diese Zeit in zehn Minuten schaffen. Er warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett und brauste los. Es war 0:42 Uhr.
Er spürte die Bewegung hinter sich mehr, als dass er sie hörte. Gleichzeitig drückte etwas Rundes, Kaltes in seinen Nacken. In der ersten Schrecksekunde verriss er das Lenkrad, konnte den Wagen gerade noch vor einer Bordsteinkante abfangen.
„Fahr uns nicht an die Wand, Kleiner.“ Die Flüsterstimme war nah an seinem Ohr. „Sonst puste ich dir das Hirn weg.“
Die Hände von Chris krampften sich um das Lenkrad, und er spürte, wie sich jedes einzelne Haar in seinem Nacken aufstellte.
Den Wagen auf der Straße halten, Sprenger. Ruhig bleiben, weiterfahren. Keine Panik. Und atme. Vergiss das Atmen nicht. Einatmen, ausatmen, langsam, regelmäßig.
Wie war das gewesen? Souveränität zeigen. Nicht mutig sein, aber Sicherheit ausstrahlen. Susanne hatte ihn vor ein paar Jahren zu einem Polizeiseminar über „Geiselnahme und Entführung“ mitgenommen. Unter der Leitung eines Psychologen probten sie drei Tage lang den Ernstfall. Die geschickt aufgebauten Rollenspiele ließen einen fast vergessen, dass man sich nur in einem Raum des Landeskriminalamtes Düsseldorf befand. Und Chris war erschrocken, wie schnell die Atmung in einer Extremsituation durcheinander geriet. Aber er hatte auch gelernt, wie sehr konzentrierte, bewusste Atemkontrolle die Panik in Grenzen hielt. Vor allem durfte man das Ausatmen nicht vergessen, wie der Psychologe eindringlich vermittelte.
Er hatte damals tiefere Einblicke in die Polizeiarbeit gewinnen wollen. Mehr nicht. Nie daran gedacht, dass er überlebenswichtiges Wissen gesammelt haben könnte. Bis jetzt.
„Okay“, begann er und wunderte sich, dass seine Stimme nicht zitterte. Wie groß musste der Adrenalinstoß sein, um das zu bewirken? „Das reicht jetzt! Wenn sie mir was zu sagen haben, tun Sie´s, und dann steigen Sie aus!“
Die Stimme kicherte. Heißer Atem steifte sein Ohr, und er roch eine Mischung aus Knoblauch und ungepflegten Zähnen, die sofort Ekel in ihm auslöste. „So einfach ist das nicht, Kleiner. Du hast deine Nase ein bisschen zu weit in Dinge gesteckt, die dich nichts angehen. Rechts abbiegen!“
Während Chris der Anweisung folgte, unterdrückte er einen langen Fluch. Von wegen Theo und Informant! Der Typ da hinter ihm kam von der Gegenseite, und in seiner Unbesonnenheit und Euphorie war er ihm auf den Leim gegangen. Herzlichen Glückwunsch, Sprenger! Ein einziger Scheißhaufen in Nordrhein-Westfalen und du trittst voll rein. Einfach klasse!
Wer war der Kerl da auf der Rückbank? Der Mörder von Lautmann und Tönnessen? Und was hatte er jetzt mit ihm vor? Chris brach der Schweiß aus allen Poren. Ruhe bewahren und atmen, regelmäßig atmen. Und da war noch etwas gewesen auf dem Seminar. Na klar! Gonzo! Er würde den Typ Gonzo nennen. Plötzlich hatte er die Stimme des Psychologen im Ohr: Gib deinem Gegner einen Namen, einen möglichst lustigen. Damit grenzt du dich ab, erhebst dich über ihn. Gonzo also, der tollpatschige Stuntman aus der Muppet-Show.
Reden musste er mit ihm, im Gespräch bleiben. „Ich weiß nichts, was die Polizei nicht auch weiß“, sagte Chris bestimmt.
Wieder dieses Kichern, das ihm die nächste Gänsehaut über den Rücken jagte. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Du bist ein kluger Kopf, viel zu klug. Und jetzt halt dein Maul!“
Der Druck in seinem Nacken verstärkte sich. Wenn Gonzo einen nervösen Zeigefinger hatte …
Sie fuhren jetzt auf der Dürener Straße stadtauswärts. Es herrschte kaum noch Verkehr, und die wenigen Scheinwerfer strahlten geisterhaft die Bäume des Grüngürtels an. Ein schützender Baldachin aus Baumkronen, der jetzt irgendwie bedrohlich wirkte, düstere Schatten warf.
Chris zermarterte sich das Gehirn. Aber was willst du tun, wenn sich eine Revolvermündung in deinen Nacken quetscht? Einen Unfall provozieren? Auf eine Polizeikontrolle hoffen? Gegen einen Baum fahren? In den Straßengraben? — In jedem Fall wäre Gonzos Zeigefinger schneller. Er spürte, wie sich Schweißperlen unter seinen Achseln sammelten und kitzelnd an den Rippen entlang in den Hosenbund liefen.
„Rechts“, flüsterte Gonzo.
„Aber da geht´s zur Autobahn!“
„Du hast es erfasst, Kleiner! Zweite Auffahrt!“
Auf der A 1 Richtung Süden herrschte noch reger Verkehr. Chris überholte eine Kolonne Lastwagen. Was hatte der Typ vor? Wenn er ihm den „klugen Kopf“ wegpusten wollte, hätte er das auf der Straße schon tun können.
Atme, Sprenger, atme. Hatte dieser Seelenklempner damals nicht auch was von „visualisieren“ gesagt? Die volle Konzentration auf nebensächliche oder schöne Dinge legen? Aber wer brachte es fertig, mit einer Pistole im Genick von Blumenwiesen zu träumen?
Chris rief sich alle Flüche und Schimpfworte ins Gedächtnis, die er je gehört hatte und belegte Gonzo im Stillen damit. Aber die Angst blieb.
Sie passierten den Rasthof Ville. Hell erleuchtet. Menschen hinter den Lichtern. Menschen! Er wollte zu ihnen, sich zwischen sie setzen, Kaffee trinken. Ganz normal. Ein Mann, der von A nach B unterwegs ist und eine Pause macht. Nichts war normal. Gar nichts.
Eine blaue Tafel am Rand der Autobahn zeigte die Entfernungen nach Koblenz, Trier und Euskirchen an. Als Chris endlich begriff, hätte er beinahe das Lenkrad wieder verrissen. Euskirchen! Von dort aus war es ein Katzensprung zum Arloffer Wald. Quer durch die Stadt, dann ein Stück Richtung Bad Münstereifel und schon war man da. Er hatte es auf der Karte gesehen, als er sein Bierglas darauf abstellte. Plötzlich hatte er die Fotos von Tönnessens Leichnam vor Augen, die Großaufnahmen in allen grauenvollen Einzelheiten. Jeden Schnitt durch ihren Körper, das zerfetzte Genick.
Die Stimme von Susanne summte in seinem Ohr: „Ein Sadist, der ein ziemlich großes Repertoire hat.“ Wie würde Gonzo es machen? Wieder mit dem Messer? Oder wagte er sich so nah nur an Frauen heran, die ihm körperlich unterlegen waren? War er Gonzo unterlegen? Um seine Brust legte sich eine eiserne Klammer, die das Atmen schwer machte. Verdammt, er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Er drückte sich tiefer ins Polster, um seine eigene Pistole im Rücken zu spüren, um sich einzubilden, dass er nicht ganz hilflos war.
Am Kreuz Bliesheim wies Gonzo ihn an, sich wieder rechts einzuordnen und weiter der A1 zu folgen. Es stimmte also! Soweit er sich erinnerte, war Euskirchen die nächste Ausfahrt.
„Was haben Sie vor?“ Seine Stimme war dumpf vor Erregung.
Kichern. Dieses Ekel erregende, Panik auslösende Kichern. Die Flüsterstimme an seinem Ohr. „Wirst schon sehen, mi cabrón! Ich soll dir das Licht ausblasen. Und bei Kerlen tu ich das besonders gern, weißt du? Die halten nämlich länger durch. Diese Hure letztens war wirklich jämmerlich.“
Chris spürte, wie der kalte Lauf der Waffe beinahe zärtlich an seinem Hals entlangfuhr. Selbst im Dunkeln sah er, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, als er das Lenkrad wie einen Rettungsring umklammerte. Übelkeit stieg in ihm hoch, kroch die Wirbelsäule hinauf, zwischen die Schulterblätter in den Nacken und breitete sich dort strahlenförmig im Kopf aus. Er unterdrückte ein Würgen. Jetzt bloß nicht quer durch den Wagen kotzen. Denk nach! „…soll dir das Licht ausblasen“, hatte Gonzo gesagt. Wer hatte ihm den Auftrag gegeben? War er sicher, dass Chris nicht mehr würde reden können und hatte sich deshalb zu einer Unvorsichtigkeit hinreißen lassen?
„Und wer hat solche Angst vor meinem klugen Kopf?“ Es gelang Chris, beinahe lässig zu klingen.
Aber Gonzo war clever oder ein Profi. Oder beides. „Spielt das für dich noch eine Rolle? Und jetzt cállate de una vez!“, zischte er und stieß Chris zur Bekräftigung seine Waffe hart ins Genick.
Das hieß wahrscheinlich so viel wie „Halt´s Maul!“ Aber was war das? Italienisch? Spanisch? Auf jeden Fall war es der erste Fehler, den er machte. Sein leichter Akzent, der in der heiseren, schwer zu verstehenden Stimme kaum auszumachen war, ließ allenfalls den Schluss zu, dass Gonzo auch der Anrufer im Krankenhaus gewesen war. Aber die wenigen Worte, die er offenbar in seiner Heimatsprache ausgespuckt hatte, könnten bei seiner Identifizierung hilfreich sein. Aber dazu musste Chris erst mal diese Nacht überstehen.
Der schwarze Nissan war fast das einzige Fahrzeug auf dem Autobahnabschnitt. Keine Scheinwerfer mehr, die vorbeihuschten, keine Positionslichter von Lastwagen. Chris fühlte sich plötzlich wie der einsamste Mensch auf der ganzen Welt, und eine neue Welle Übelkeit stieg in ihm hoch. Ein Muskel in seinem linken Oberschenkel begann zu flattern. Verdammt, er verlor die Kontrolle!
Plötzlich begann Gonzo zwischen den Vordersitzen zu fummeln. Mit einem leisen Klicken löste sich der Sicherheitsgurt von Chris, schnappte zurück bis unter die linke Achsel. Jeder Muskel spannte sich in ihm, als eine behandschuhte Hand nach vorn griff und ihm mit einer einzigen Bewegung das Hemd aufriss. Einer der Knöpfe prallte mit hellem Knall an die Windschutzscheibe. Der Wagen geriet auf die linke Fahrspur, schleuderte zurück nach rechts, schlingerte.
„Nicht so schreckhaft, mein Kleiner. Nicht so schreckhaft. Es tut nicht weh, wirst sehen. Jetzt noch nicht!“ Wieder dieses Kichern. „Wir werden viel Spaß miteinander haben. Viel Spaß!“
Dieses verfluchte perverse Schwein! Der wollte nicht nur seinen Kopf, sondern auch noch Spaß dabei haben. Die Mutter hätte diese Missgeburt am besten gleich nach der Entbindung im nächsten Bach ersäuft. Chris biss sich auf die Lippen, um seine Wut nicht herauszuschreien. Sein Zorn überlagerte die Angst jetzt ein wenig. Trotzdem schossen ihm auf einmal tausend Dinge durch den Kopf. Das letzte Treffen mit Anne. Die sich balgenden Hunde. Leas verschmitztes Lachen. Wie würde Luise es aufnehmen? Ob Karin zu seiner Beerdigung kam?
Karin … Fünf Buchstaben, die seinen Verstand endgültig wieder ans Laufen brachten. Er wollte diese Frau, das Leben mit ihr teilen, sie in den Armen halten, tausend verrückte Sachen mit ihr machen, ihr die Welt zu Füßen legen. Und deshalb würde er nicht zulassen, dass dieser abartige Typ da hinter ihm seinen Job zu Ende führte. Niemals!
Also, Sprenger, dann denk nach. Atme und denk nach. Hier im Auto hatte er nicht die geringste Chance. Aber draußen. Im Wald. Er hatte die Pistole, von der Gonzo nichts wusste. Und wenn es ihm gelang, ein paar Meter zwischen sich und ihn zu bringen …
Gonzo befahl ihm von, der Autobahn abzufahren und lotste ihn dann im kürzesten Winkel durch Euskirchen. — Er kannte sich aus.
Ein metallisches Schnappen hinter ihm ließ Chris erneut zusammenfahren. Der Druck in seinem Nacken löste sich, dafür blitzte eine Klinge vor ihm auf, und er hielt die Luft an. Die Klinge senkte sich, setzte auf dem Brustkorb an, gerade da, wo die Behaarung am stärksten war. Dann fuhr sie schräg hoch über das Schlüsselbein und verharrte auf der rechten Schulter. Es war nur ein leichtes Ritzen der Haut, löste ein kaum merkliches Brennen aus.
So also fängt es an, dachte er nüchtern. Erst die kleinen Einschnitte, die kaum bluteten. Und dann würde es tiefer und tiefer gehen. So lange, bis er um das Ende betteln würde. So sehr betteln, dass Gonzo „Erbarmen“ hatte. „Ein einziger Schuss aus nächster Nähe ins Genick. Das war eine Hinrichtung, Chris.“ Wie ein Echo hallte die Stimme von Susanne durch seinen Kopf.
Sie fuhren jetzt über verlassene Landstraßen. Kein Auto, kein Dorf, keine Lichter, nichts. Nur Gonzo und er.
Der zweite Schnitt ging tiefer, von der Kehle gerade nach unten. Chris biss sich auf die Lippen, um nicht aufzuschreien. Wann waren sie endlich an diesem Parkplatz, zum Teufel? Er musste raus aus dem Wagen. Raus!
„Gefällt dir das?“, flüsterte Gonzo. „Gleich sind wir da. Und dann wird´s erst richtig gut, glaub mir, cabrón.“
Der dritte Schnitt ging quer über den Brustkorb.