Neunundzwanzig

 

Als Susanne knapp vierzig Minuten später in der Piusstraße eintraf, hatten Chris und Karin alles geklärt. Sie wussten, was sie zu tun hatten, und waren gerade dabei, einen Koffer für ihn zu packen, um in Karins Wohnung umzusiedeln.

Chris hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. Wenn auch der Schock, versagt zu haben, tief saß — jetzt galt es zu handeln.

„Meine Aussage zum Auffinden der Ingeborg Maria Lautmann war falsch, Susanne“, sagte er in reinstem Polizistendeutsch. Einfach um die Bedeutung seiner Angaben zu unterstreichen. „In einem einzigen Punkt, einem einzigen Wort. Ich habe gesagt, sie hat zwei Mal nach Karin gerufen, aber das stimmt nicht. Sie sagte: `Karin hat …´ Hat! Ich habe mich bis heute einfach nicht daran erinnert, Susanne! Aber sie sagte: `Karin hat …´“

„Bist du ganz sicher?“, fragte die Kommissarin, nachdem sie vor Verblüffung zunächst kein Wort herausgebracht hatte.

„Absolut! Jetzt ja!“ Er nickte nachdrücklich.

Susanne stopfte die Hände in die Hosentaschen und fixierte ihren Freund scharf. „Verflucht noch mal, Chris! Das hat uns fast zwei Wochen gekostet!“ Dann fuhr sie sich mit beiden Händen durch das stumpfe Haar und atmete tief durch. „Vergiss es“, murmelte sie. „Ich weiß, wie schnell so was im Eifer des Gefechts untergeht.“

Überrascht zog er eine Augenbraue hoch. Verständnis für menschliches Versagen war ein völlig neuer Zug an ihr.

„Das heißt“, Susannes Blick wanderte zu Karin, die mit verschränkten Armen auf dem Sofa saß, „das heißt, dass Sie etwas besitzen oder auch besessen haben, was für unseren Freund äußerst wichtig ist.“

„Korrekt“, stimmte Karin zu. „Und nachdem er bei mir nichts gefunden hat, war Tönnessen dran.“

„Nicht so schnell!“, warf Susanne ein, ließ sich in einen Sessel fallen und streckte die Beine von sich. „Vielleicht hat er was gefunden, und Tönnessen war trotzdem dran, oder gerade deswegen.“

„Und was soll das gewesen sein, verdammt? Wonach soll ich suchen? Wie soll ich etwas finden, was womöglich gar nicht mehr da ist?“

Karin zog sich an ihren Krücken hoch und verschwand in die Küche. Sie hatte das alles schon mit Chris diskutiert, der sie schließlich davon überzeugen konnte, einen Versuch zu unternehmen. Jetzt aber brachen ihre Zweifel und ihre Unsicherheit heraus. Es hing von ihr ab, einzig und allein von ihr. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war das Unternehmen jedoch zum Scheitern verurteilt, ganz bestimmt. Und eine Karin Berndorf versagte höchst ungern!

Kaum dreißig Sekunden später kam sie zurück und setzte sich wieder. „`Tschuldigung“, murmelte sie und überließ ihre Hand bereitwillig Chris, der über den Tisch gegriffen hatte.

„Frau Berndorf!“ Die Stimme von Susanne klang eindringlich. „Wir jagen im Moment so ziemlich allem hinterher, was möglich ist. Aber wenn wir wüssten, was man Ihnen geklaut hat oder klauen wollte, wären wir der Lösung sehr viel näher. Vielleicht  hätten wir dann ein Motiv, und das ist die halbe Miete! Wir hätten einen Ermittlungsansatz, auf den wir uns voll konzentrieren können. Zurzeit wirbeln wir zwar viel auf, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass es nur Staub ist.“

Sie sah von Karin zu Chris. „Und jetzt erklär mir mal, in was du deine Nase so tief gesteckt hast, dass dir jemand deinen klugen Kopf wegblasen wollte.“

Im ersten Moment war er versucht, zu protestieren. Susanne dachte wieder einmal, er hätte einen Alleingang gemacht. Nur, dass es dieses Mal, dieses eine Mal ausnahmsweise nicht der Fall gewesen war.

„Ich weiß es nicht, Susanne“, antwortete er ehrlich, „ich weiß es wirklich nicht. Ich habe nichts, was du nicht auch wüsstest!“

Sie grinste bitter. „Das würde mich wundern, Doktor Sprenger!“

„Verdammt! Ich habe keinen blassen Schimmer!“

Die Kommissarin warf ihm einen misstrauischen Blick zu, keineswegs überzeugt. „Okay“, sagte sie jedoch. „Dann lass uns anders anfangen. Punkt eins: Du hast Informationen gesammelt. Wo und bei wem?“

„Herrgott! Ich hab mich mit zwei Prostituierten und einem Penner unterhalten. Alle drei völlig harmlos.“

„Punkt zwei: Du bist auf die Kundenliste gestoßen.“

„Das war am Samstag! Glaubst du allen Ernstes, irgendeiner wartet dann bis Dienstag, um mich mundtot zu machen?“

„Nein“, musste Susanne zugeben. „Ich wüsste trotzdem gern, wer die drei sind und von wem du die Liste hattest!“

„Vergiss es, Susanne! So läuft das Geschäft nicht, und das weißt du. Wenn ich anfange, die Leute zu verpfeifen, krieg ich nie wieder eine vernünftige Information. — Und du ebenfalls nicht!“

Sie schluckte die Kröte ohne jeden Kommentar. „Also weiter. Was hast du Sonntag, Montag, Dienstag gemacht?“

„Mich betrunken, unter anderem“, gab Chris zurück, mit einem Seitenblick auf Karin, die verschmitzt grinste. Ob sie sich auch betrunken hatte? Er würde sie danach fragen.

„Was noch?“

„Ich war im Industriegebiet Ossendorf.“

„Warum?“

„Ich … ich weiß nicht. Einfach so … Ich wollte mir ein Bild machen. Tagsüber, wenn´s hell ist. Ich dachte, ich lauf da ein bisschen rum, vielleicht hab ich ´ne Eingebung.“

„Und?“ So ganz schien Susanne seiner Ahnungslosigkeit immer noch nicht zu trauen.

„Nichts!“

„Du warst also dort, gut. Was hast du genau getan?“

„Ich hab ´ne Weile vor der Frielingsdorf KG gestanden. Dann bin ich weitergefahren zu dem Wohnblick in der Mathias-Brüggen-Straße. Später war ich bei Gesekes Großhandel. Schließlich bin ich zurück zum Auto und zu Witte gefahren.“

„Hm“, machte Susanne. Und noch einmal: „Hm! Geseke also!?“

„Ja! Aber das würde voraussetzen, dass er mich kennt, dass er Angst vor mir hat. Aus welchem Grund? Und was hat dann Karin damit zu tun?“ Konnte es noch verworrener werden? Je tiefer sie gruben, desto weniger passte zusammen.

Susanne legte Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und schloss die Augen. Nach einer Weile sagte sie müde: „Denk nach, Chris! Hast du Montag oder Dienstag mit jemandem ausführlich über den Fall gesprochen? Hast du Telefonate geführt? Andeutungen gemacht?“

„Nein, zum Teufel! Ich war in Ossendorf und bin von da aus wieder ins Büro gefahren.“

„Also schön. Hör zu: Wir haben da so gut wie jeden Stein rumgedreht. Wir haben die Mitarbeiter der ansässigen Firmen befragt, wir haben uns die Fahrer vorgenommen, die dort be- und entladen. Wir haben den alten Teil des Westfriedhofs nach Spuren abgesucht. Dort gibt es jede Menge alter Familiengruften. Ideale Plätze, jemanden zu verstecken und zu foltern. Bei all dem war einzig und allein die Aussage des Pförtners brauchbar, der Inge in Begleitung eines untersetzten Mannes gesehen hat, von Geseke jetzt mal abgesehen.“

Sie holte tief Luft. „Hat es deiner Meinung nach Sinn, noch mal von vorn anzufangen?“

„Ich hab keine Ahnung, Susanne“, antwortete er beinahe verzweifelt. „Ich kann dir nur sagen, was ich getan habe, und was ich nicht getan habe.“

„Okay! Ich werde das in unserem Ermittlungsteam zur Diskussion stellen. — Eins hätte ich dann noch!“

Jetzt erst fiel ihm der braune Umschlag auf, den Susanne die ganze Zeit in den Händen gehalten hatte.

„Hellwein hat sich dafür ziemlich den Hintern aufgerissen.“ Sie legte den Umschlag auf den Tisch und sah Chris mit ruhigem Ernst an. „Das Gesicht von deinem Gonzo.“

„VICLAS?“, fragte er tonlos zurück. Eine Stimme war eine Sache, das dazu passende Gesicht eine andere. Plötzlich war er wieder in seinem Auto, hatte die Pistole im Genick, spürte das Messer, das seine Haut ritzte. Sofort schob er die Erinnerung beiseite und wischte sich die mit einem Mal schweißnassen Hände an der Hose ab.

„VICLAS, ja. Die heisere Stimme, der leichte Akzent und dein Hinweis, dass es spanisch sein könnte, waren ein Volltreffer.“

„Wick — was?“, schaltete Karin sich ein.

„VICLAS“, korrigierte Susanne, kramte Zigaretten aus der Jacke und bot sie den beiden an. „Ein Computerprogramm, in dem wir bestimmte Merkmale der Tat und des Täters erfassen, um Handlungsmuster miteinander vergleichen zu können. Bisher war eine eindeutige Zuordnung nicht möglich. Die heisere Stimme und die Angaben von Chris haben jetzt den Ausschlag gegeben.“

Langsam öffnete sie den Umschlag und legte ein Foto vor Chris. Er war unscheinbar. Ein ganz normaler Mann, etwa Mitte vierzig mit vollem, dunklen Haar und runden Wangen. Kein Höllengesicht aus einem billigen Horrorfilm, kein Teufelshorn auf der Stirn. Chris war beinahe enttäuscht.

Trotzdem war seine Stimme nicht ganz fest, als er fragte: „Und wer ist dieser Typ?“

Susanne kramte ihren allgegenwärtigen Block aus der Tasche. Als sie endlich auch ihre Brille gefunden hatte, vergewisserte sie sich mit einem kurzen Blick, dass sie die volle Aufmerksamkeit der beiden hatte.

„Also! Sein Name ist Carlos Viego.“ Ihre Stimme war geschäftsmäßig, stellte Abstand her. „Vater Spanier, Mutter Deutsche. Viego ist in Deutschland geboren und hat mal in dem einen und mal in dem anderen Land gelebt. Im Alter von zehn Jahren erkrankte er an einer Kehlkopfentzündung, die zu spät erkannt und behandelt wurde. Seitdem kann er sich nur flüsternd verständlich machen. Nach Abschluss einer Schlosserlehre ist er endgültig nach Spanien gegangen. Dort verliert sich seine Spur für sechs, sieben Jahre. 1995 wird er zum ersten Mal mit organisiertem Verbrechen in Verbindung gebracht. Er macht den Drogenkurier für Stoff, der aus Marokko über Spanien nach Mitteleuropa gebracht wird. Kurz bevor er hochgenommen werden kann, taucht er unter.

Drei Jahre später erscheint er wieder auf der Bildfläche. Er erledigt alles an Drecksarbeiten, was anfällt. Schutzgelder kassieren, Auftragsmorde. Vermutlich gehen zwölf Morde auf sein Konto. In Spanien, Frankreich und den Niederlanden. In acht Fällen hat er seine Opfer zuvor auf die verschiedensten Arten gefoltert.

2008 unterläuft ihm der erste Fehler: Er erschießt den falschen Mann. Danach hat man ihn wohl nicht mehr eingesetzt. Bis jetzt! In unserer Kartei gibt es zwar keinen genetischen Fingerabdruck von ihm, aber wir sind trotzdem sicher, dass er unser Mann ist. — Chris!“ Sie machte eine längere Pause und legte die Fingerspitzen aneinander, millimetergenau.

„Chris! Wir sollten dich jetzt irgendwo sicher unterbringen“, begann sie dann langsam. „Viego ist ein Auftragskiller, der vor nichts zurückschreckt! Du weißt, wir haben diverse Möglichkeiten. Häuser, Wohnungen …“

„Quatsch!“ fuhr Chris auf. „Er ist verletzt und muss erst mal seinen eigenen Arsch in Sicherheit bringen. Das hatten wir doch schon. Sag mir lieber, wer sein Auftraggeber ist.“

„Chris, bitte …“ Susanne warf Karin einen Blick zu, die aber nicht reagierte.

„Der Auftraggeber!“, verlangte er wieder, eine Spur kälter als beim ersten Mal.

Susanne resignierte. „Höchstwahrscheinlich Manuel Viego, sein Onkel. Er war einer der führenden Köpfe in Spanien, hatte sich auf Drogenhandel, Prostitution und illegale Einwanderung spezialisiert. Konkurrenten oder Leute, die aussteigen wollten, wurden gnadenlos von Carlos und Konsorten eliminiert. Die spanischen Kollegen sind Manuel Viego vor etwa zehn Jahren ziemlich auf die Pelle gerückt. Seitdem ist er wie von Erdboden verschluckt. Aber es ist anzunehmen, dass er weiterhin seine Fäden zieht und auch eine schützende Hand über seinen Neffen hält.“

„Drogenhandel — Prostitution — Tönnessen — Geseke“, schaltete Karin sich ein.

„Richtig“, bestätigte Susanne. „Es ist gut möglich, dass Tönnessen sich auf irgendwas eingelassen hat, was ihr letztlich nicht bekommen ist. Wir sind in engem Kontakt zur spanischen Polizei. Wenn wir eine Verbindung Geseke — Spanien — Viego herstellen können, klärt sich vielleicht einiges. Vielleicht! Ihr beide passt zwar dann immer noch nicht ins Bild. Aber ich fürchte, das werdet nur ihr allein klären können!“

 

Karin stand mitten in ihrem Wohnzimmer und hatte den Beinstumpf auf den Griff der einen Krücke gelegt, um die Balance zu halten. Die andere Krücke drehte sie nervös hin und her. Sie wusste ebenso wenig wie Chris, was sie jetzt tun sollte. Wer hat schon alle seine Bücher im Kopf, seine CDs, Videos, abgelegten Rechnungen? Wer weiß schon, ob von den alten Briefen, die man in einem Schuhkarton verwahrt, einer fehlt, oder ob die Steuerunterlagen noch komplett sind? Man kann vielleicht sagen: „Ich hatte zwölf Suppenteller, und jetzt sind es nur noch elf“. Oder: „Meine blaue Bluse mit den hellen Streifen ist weg“. Aber das war´s dann fast auch.

„Denk nach, Karin!“, verlangte Chris.

„Was glaubst du, was ich die ganze Zeit tue?“, knurrte sie zurück.

Aber er ließ sich nicht beirren. „Inge war hier. Sie klaut die Kamera und Geld. Im Gegenzug versteckt sie hier etwas. — Wo?“

„Wenn´s was Größeres wäre, hätt´ ich´s längst gesehen, nicht? Wenn´s also was Kleines ist — überall!“ Sie machte eine weit ausholende Bewegung, die jeden einzelnen Gegenstand in ihrer Wohnung umfasste und die Hoffnungslosigkeit dieses Unterfangens noch unterstrich.

Chris ließ sich mit gerunzelter Stirn in einen der Rattansessel fallen. Das Pflaster auf seiner Stirn spannte. So ging das auf gar keinen Fall. Und welche „Kleinigkeit“ sollte Inge auch hier versteckt haben? Für ein Briefchen mit zehn Gramm Kokain ermordete man niemanden.

In der Nacht, als Karin ihn angerufen hatte, waren ihm spontan ihre Fotos eingefallen. Wenn es sowieso keinen Anhaltspunkt gab, wieso sollte er dann diesen Gedanken nicht wieder aufgreifen?

„Fang mit den Negativen an“, schlug er deshalb vor.

„Was?“

„Fang mit deinen Negativen an“, wiederholte er. „Du bist Fotografin, Karin! Du fotografierst Landschaften, Industrieanlagen, Menschen, alles.“

„Oh Chris! Das ist Quatsch. Ich hab dir doch gesagt, das meiste davon ist uralt.“

„Und was nicht uralt ist?“

„Mein Privatvergnügen“, erklärte sie ungehalten. „Das haben wir doch schon mal durchgekaut. Es sind so Sachen wie die holsteinische Seenplatte. Und dann die berühmten Hochzeiten und neunzigsten Geburtstage. Die Negative behalte ich grundsätzlich.“

„Aha!“

Karin verdrehte die Augen. „Meinst du, auf der vorletzten Hochzeit hab ich aus Versehen Al Capone geknipst, oder was?“

„So ähnlich, ja.“ Chris nickte breit grinsend.

„Okay! Aber es sind Hunderte von Filmen mit jeweils sechsunddreißig Negativen!“

„Fang einfach mit den neuesten an“, entschied er. „Für alte Schinken interessiert sich wohl niemand mehr. — Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Allerdings“, sagte sie und lächelte verschmitzt. „Erstens: Kaffee kochen. Zweitens: Für nette Musik sorgen. Drittens: Mich mindestens halbstündlich küssen. Ab jetzt!“

Er stand auf, nahm lachend ihr Gesicht in beide Hände und kam der Aufforderung nach. Mehrmals. Bis Karin mit geschlossenen Augen zwischen zwei Küssen murmelte: „Wenn du jetzt nicht aufhörst, wird das nix mit den Negativen.“

„Was hättest du sonst noch auf dem Programm?“, murmelte er zurück.

„Eine ganze Menge, mein Schatz, eine ganze Menge!“ Karin legte ihre Stirn behutsam an das breite Pflaster auf seiner Stirn. „Aber du wirst dich etwas gedulden müssen. Ich will nämlich, dass das hier aufhört, dass keine Bullen mehr vor unserer Tür stehen müssen, dass du … Herrgott, ich will, dass es vorbei ist, in Ordnung?“

Chris kam seinen Pflichten akribisch nach. Zunächst setzte er die Kaffeemaschine in Gang, dann stand er lange vor den Regalbrettern mit den CDs. Nicht, weil er sich nicht hätte entscheiden können, sondern weil er von der peniblen Ordnung fasziniert war. Klassik und Unterhaltungsmusik waren sauber voneinander getrennt und alphabetisch geordnet. Die Sampler standen wieder in einer extra Reihe, unterteilt in Instrumental, Blues, Evergreens, Pop. Chris nahm sich — wieder einmal — vor, ordentlicher zu werden.

Er legte schließlich eine leichte Instrumentalmusik auf. Die konnte nebenherlaufen, ohne abzulenken. Danach brachte er Karin einen Becher Kaffee. Er hielt die Kusspausen pünktlich ein und steckte ihr ab und an eine Zigarette zwischen die Lippen. Während seiner „Freizeit“ lag er im Sessel, die Beine auf dem Glastisch und vertiefte sich in einen ihm noch unbekannten Krimi von Ruth Rendell.

Er wusste, dass er absolut nichts tun konnte. Es war einzig und allein Karins Ding. Er hoffte nur, dass er mit den Negativen auf der richtigen Fährte war. Sonst würde sie wirklich jedes einzelne Teil in dieser Wohnung in die Hand nehmen und begutachten müssen.

Karin hockte derweil auf dem Boden in ihrem Arbeitszimmer, um sich herum einige eng gefüllte Karteikästen und mehrere Stapel gelber Mappen, in denen die Negative fein säuberlich in säurefreien Hüllen abgelegt waren. Es war eine monoton-leise Geräuschkulisse, die Chris beim Lesen begleitete. Das Klappern der Karteikarten in den Kästen, das knisternde Umschlagen der Negativhüllen, die sirrende Spannung, die über allem lag.

Umso erschreckender war es, als diese Geräusche verstummten. Es dauerte eine ganze Weile, bis er mitten in Ruth Rendells „Besucherin“ die Stille wahrnahm. Dann jedoch mit solcher Gewalt, dass es fast in den Ohren wehtat.

Mit einem Satz war er aus dem Sessel. Karin saß an die Wand gelehnt, zwischen Regal und Schreibtisch. Das rechte Bein hatte sie angezogen und massierte mit beiden Händen den linken Oberschenkel.

Chris hockte sich vor sie.

„Es ist nichts — geht gleich wieder vorbei.“

„Kann ich was für dich tun?“

„Kuss?“

„Karin!“

„He — es war bloß ein bisschen viel die letzten Tage, das ist alles! Andere Leute kriegen Migräne, wenn sie Stress haben, mir tut halt mein Bein weh! Wo, zum Teufel, ist der Unterschied?“

Er biss sich auf die Lippen und dachte an Onkel Zimmer, dem oft der Fuß, den er längst nicht mehr hatte, so höllische Schmerzen bereitete, dass ihm Tränen in die Augen traten.

„Chris! Bitte! Ich bin nicht aus Porzellan. Also fang nicht an, mich in eine Vitrine zu setzen, klar!?“

Er schluckte und brachte ein heiseres „Klar!“ heraus.

„Gut! Wie ist das jetzt mit dem Kuss?“

Er ließ sich das nicht zwei Mal sagen. Aber irgendwie dämmerte ihm, dass es nicht nur Karin war, die eine Menge zu lernen hatte.