Dreiunddreißig
Es war hektisch an diesem Morgen. Sie hatten verschlafen, weil die Batterie des Weckers sich irgendwann in der Nacht entschlossen hatte, den Dienst zu quittieren.
Chris hatte um zehn Uhr einen Gerichtstermin, musste aber vorher noch einige Unterlagen zu Eickboom bringen. Der Sachverständige, der die Mängel an seiner Eigentumswohnung bewerten sollte, hatte das Gutachten zwar Chris zugestellt, Eickboom aber vergessen. Und Chris hatte versprochen, dem vielbeschäftigten Unternehmer eine Kopie zu bringen, damit er sich übers Wochenende damit befassen konnte.
Karin sollte ab elf Achim und Klaus im Laden ablösen, damit die beiden einen Notartermin wahrnehmen und danach noch durch die Stadt bummeln konnten. Eine Gelegenheit, die sich nur ergab, wenn Karin den Laden schmiss.
Chris sollte sie gegen achtzehn Uhr abholen, und dann würden sie mit Lea im „Mainzer Hof“ das Wochenende einläuten.
Ein flüchtiger Kuss, ein „Ich freu mich auf heute Abend“, das war alles, was vom Morgen übrig blieb.
Der Tod von Ingeborg Lautmann lag genau fünf Wochen zurück, aber Chris hatte alles, was damit zusammenhing, in die hinterste Schublade verbannt. Er war viel zu sehr mit der wunderbarsten Frau, die er je kennen gelernt hatte, beschäftigt, und sein sonst so klarer Verstand war weich verpackt in Schäfchenwolken.
Er war erfüllt von Liebe, Stolz und einer fast gluckenhaften Besorgtheit um sie. Am liebsten hätte er ihr jeden Handgriff abgenommen. Immer wieder musste er sich zur Ordnung rufen, ihr nicht die Flasche Sprudel aus der Küche zu holen, den Apfel, die Keksdose aus dem Vorratsschrank. All die Kleinigkeiten, für die ein gesunder Mensch Dutzende Male hin und her lief, ohne sich Gedanken zu machen; die man problemlos tragen konnte, wenn man die Hände frei hatte. Es kostete ihn eine Menge, den Tisch nicht selbst zu decken, den Aschenbecher, den Karin durchaus leicht erreichen konnte, nicht näher zu schieben und keinen Wein nachzuschenken, bevor sie sich nach der Flasche streckte. Er war hin und her gerissen zwischen Rührung und Besorgnis, wenn Karin ihn aus dem Büro abholte und die zwei Stockwerke bewältigte, statt im Auto zu warten. Und er war beinahe wütend, wenn Achim und Klaus wie selbstverständlich von ihr vertreten werden wollten und sie nach solch einem Tag völlig erschlagen nach Hause kam.
Natürlich, er würde sich daran gewöhnen. Karin war eine erwachsene Frau, die selber wissen musste, wie viel sie sich zumuten konnte. Sie lebte fast dreißig Jahre mit nur einem Bein und war all die Zeit allein zurechtgekommen.
„Mein Gott, Sprenger! Du bist auch nicht anders als die Leute auf der Straße, die Karin anstarren“, murmelte Chris gegen die Windschutzscheibe, als er in die breite Allee einbog, an deren Ende Eickbooms Villa stand.
Das war nicht unbedingt eine schmeichelhafte Erkenntnis, wie er sich eingestehen musste. Aber immerhin hatte er das Problem erkannt und würde nun daran arbeiten können.
Er stellte den Nissan schlampig vor der imposanten Einfahrt ab. Aber er würde ja hier keine Hütten bauen. Es war kurz vor neun, und wenn er pünktlich im Gericht sein wollte, durfte er sich höchstens zehn Minuten hier aufhalten.
Das hohe, schmiedeeiserne Tor war geschlossen. Kaum hatte er seine Hand auf die Klinke gelegt, als aus dem Garten ein großer Hund heranstürmte. Der kräftige Labrador-Mischling stürzte zähnefletschend und bellend auf ihn zu. Sein Fell war gesträubt wie eine Klobürste. Chris blieb draußen stehen. Allein durch das schwarze, zottige Fell wirkte der Hund furchterregend.
Sekunden später brach ein junger Mann in blauer Latzhose und mit einem Spaten bewaffnet zwischen den Büschen im Garten hervor. „Harro! Harro! Aus! Aus! Wieso bist du nicht in deinem Zwinger, du Lump?“
Er packte den Hund am Halsband und Harro gab Ruhe, beäugte Chris aufmerksam, plötzlich nicht einmal unfreundlich.
„Tschuldigung“, murmelte der Mann, der vermutlich Eickbooms Gärtner war. „Normalerweise ist er immer hinten im Zwinger! Sie können jetzt ruhig reinkommen.“
Ganz wohl war Chris nicht. Große Hunde flößten ihm gehörigen Respekt ein. Er hatte noch nie böse Erfahrungen mit ihnen gemacht. Trotzdem war schon seit seiner Kindheit eine gewisse Grundangst vorhanden. Vielleicht weil sein Vater nach einem Hundebiss fast panisch reagiert und dem kleinen Christian das entsprechende Vorbild geliefert hatte.
Aber da er nun die beiden Eickbooms in der Haustür stehen sah, alarmiert von dem Aufruhr, doch ansonsten völlig gelassen, sagte er sich, dass Harro unter Kontrolle sein musste.
Die beiden Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der junge Eickboom lehnte lässig am Türrahmen, in hellen Hosen und dunklem Hemd, das beinahe bis zum Bauchnabel aufgeknöpft war. Der Alte dagegen stand sehr aufrecht da und war korrekt gekleidet wie immer: anthrazitfarbene Beinkleider und die passende Weste über dem weißen Hemd. Seine Halbglatze und seine Nase glühten bräunlich-golden. War er etwa schon wieder im Urlaub gewesen? Vor nicht langer Zeit hatte der Sohn doch erst irgendwas von Italien gemurmelt. Auf jeden Fall aber schien es ihm besser zu gehen als vor ein paar Wochen, stellte Chris erleichtert fest.
Er stapfte die drei Stufen zur Tür hoch und sagte pflichtschuldigst zur Begrüßung: „Oh, wo auch immer die Sonne geschienen hat — sie ist Ihnen gut bekommen!“ Die Eickbooms dieser Welt bei Laune halten war die Devise.
Stefan Eickboom plapperte munter drauflos, sah von der Seite her stolz auf seinen Vater. „Dabei waren das nur ein paar Tage Spanien! Er macht ja immer nur Kurzurlaube, wissen Sie. Dieses Jahr war er schon zwei Mal in San Filomento in der Toskana, und jetzt eben Spanien! Drei Wochen in der Sonne, und er sähe aus wie ein Neger, glauben Sie mir!“
Es war wie ein Schlag ins Genick. Unwillkürlich griff Chris mit einer Hand an den Türrahmen, um zu verhindern, dass er die Stufen nach unten taumelte. „Wir haben Hundehaare auf ihrer Kleidung gefunden. Schwarze Hundehaare!“ Von irgendwoher kam Susannes Stimme wie ein Echo. „Sie waren beide so um die sechzig. Halbglatze und Bauchansatz“, hörte er Karin aus einer anderen Ecke. Ihm brach der Schweiß aus allen Poren, während sich in seinem Magen Müsli und Obst vom Frühstück miteinander verknoteten. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, der Boden würde ihm unter den Füßen weggezogen.
„San Filomento?“, echote er blöd.
Der junge Eickboom schien nichts zu bemerken. „Ja!“, rief er fröhlich. „Mein Vater liebt dieses Nest!“
Müsli und Obst wurden zu einem schmerzenden Klumpen, als Chris den Alten ansah. Er war wie versteinert. Eine Statue mit maskenhaftem Gesicht. Starrte Chris an, wie der ihn anstarrte. Und in beider Augen stand eine schreckliche Erkenntnis.
Chris gab die Unterlagen hastig ab und verabschiedete sich überstürzt. Ging steifbeinig die mit Kies belegte Einfahrt hinunter zu seinem Auto. Spürte den Blick von Eickboom zwischen seinen Schulterblättern brennen.
Er schaffte es mit dem Wagen bis zur übernächsten Kreuzung. Dann hielt er an, öffnete die Fahrertür und kotzte Obst und Müsli auf die Straße.
So sehr er sich auch später darum bemühte, er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er zum Gerichtsgebäude an der Luxemburger Straße gekommen war. Er konnte sich nicht ein einziges Detail der Strecke ins Gedächtnis rufen, keine rote Ampel und schon gar keinen Gedanken.
Er fand sich auf dem Herrenklo des Amtsgerichts wieder, spülte sich den Mund und hielt seine Handgelenke unter kaltes Wasser, bis es wehtat. Fassungslosigkeit und Entsetzen rotierten in seinem Gehirn wie ein kreiselndes Ungeheuer. Das konnte einfach nicht sein! Johannes Eickboom! Das war unmöglich, ganz und gar unmöglich! Der Vorstandsvorsitzende und Hauptaktionär eines der größten Arbeitgeber der Stadt! Einer, der eiskalt Mordaufträge erteilte? Der seinen eigenen Anwalt umbringen lassen wollte? Warum? Was hatte ihn dazu bewogen? Was hatte Chris getan vor ein paar Wochen, dass man ihm Viego auf den Hals hetzte? Was hatten Lautmann und Tönnessen getan? Warum war deren Todesurteil gefällt worden? War Eickboom der Liebhaber von Inge gewesen? Der Vater ihres ungeborenen Kindes? Gleichzeitig ein fanatischer Sammler alter Kameras?
In Sekundenabständen wurde ihm heiß und kalt. Nein, er irrte sich. Ganz sicher irrte er sich! Wenn nur dieser Blick nicht gewesen wäre. Genauso erschüttert und bestürzt wie der seine. Das Wissen in diesen Augen.
Weil sein Handy mal wieder zu Hause schlummerte, rannte Chris zwei Minuten vor Prozessbeginn ins Foyer des Gerichtsgebäudes und enterte einen der wenigen öffentlichen Fernsprecher, die es dort noch gab. Er wählte Susannes Nummer, hörte nur das Besetztzeichen und kam völlig atemlos im Gerichtssaal an.