Vier

 

Auf der kurzen Fahrt zu seiner Wohnung in der Piusstraße dachte Chris über Hans nach. Dieser seltsam unsichere und farblose Mann, der bewundernd an Annes Lippen hing und widerspruchslos alles tat, was von ihm verlangt wurde. Wohl die Art Mann, die Anne brauchte. Und die einzige Art Mann, die es mit Anne aushielt. Zumindest schien ihre Beziehung sehr harmonisch zu verlaufen. Anne und Chris dagegen hatten immer auf einem Vulkan getanzt. Anne, die selten eine andere Meinung als ihre eigene gelten ließ, und Chris, der nichts mehr hasste als Autorität.

Zum ersten Mal wurde ihm in aller Deutlichkeit bewusst, dass sich auch ihre Freundschaft dem Ende zuneigte — wenn es denn je eine Freundschaft gewesen war. Vielleicht hatte die Nähe zu Anne nur die Funktion gehabt, das bittere Gefühl abzumildern, dass er wegen eines anderen Mannes verlassen worden war. Ein niederträchtiger Gedanke, zweifellos. Hieß das doch, seine Welt wäre in Ordnung gewesen, hätte er Anne verlassen.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprintete er zu seiner Wohnung im ersten Stock hinauf. Kurz nach fünf, und er hatte noch nicht mal geduscht!

Gern hätte er den Tag in aller Stille ausklingen lassen, als Beginn eines wunderbar ruhigen Wochenendes. Außer dem Einkauf am Samstag keinerlei Verpflichtungen. Lesen, nette Musik auflegen, vielleicht ein paar Akten durcharbeiten und ansonsten nichts hören und nichts sehen. Einen Augenblick blieb er im Wohnzimmer stehen und blickte sehnsüchtig nach seiner Couch hin, auf der er ein Gutteil des Wochenendes zu verbringen gedachte. Dieses saubequeme, ausladende, riesige Ding. „Monströs“, wie Anne immer sagte.

Dann fiel sein Blick auf den Berg alter Zeitungen in der Fensternische. War der auch gestern schon so hoch gewesen? Es waren die banalen Dinge im Leben, die er nie in den Griff bekam, weil er sie einfach verdrängte. Und so quoll der „Gelbe Sack“ ständig über, die leeren Flaschen unter der Spüle schienen sich über Nacht auf wundersame Weise zu vermehren, und der Stapel Altpapier war plötzlich und völlig unerwartet so angeschwollen, dass er beinahe umfiel.

„Ihr habt´s gut“, murmelte Chris in Richtung der beiden gerahmten Bruno Bruni-Poster an der Stirnwand des Wohnzimmers, „hängt einfach nur da rum.“

Außer zwei stabilen Ikea-Regalen, die mit Büchern vollgestopft waren und dem futuristisch anmutenden Deckenfluter daneben waren die beiden fragil-zarten Aktzeichnungen das einzig Moderne in dem ansonsten antik eingerichteten Zimmer. Als er vor zwei Jahren auf Wohnungssuche gegangen war und kaum eigene Möbel besaß, weil er seinerzeit Hals über Kopf zu Anne gezogen war, starb seine Tante und vermachte ihm das gesamte bewegliche Inventar ihrer Eigentumswohnung. Der einzige Kommentar seiner Mutter, deren Schwester die Verstorbene immerhin war, lautete: „Wie praktisch, gerade jetzt!“

Die Möbel waren nicht nur wertvoll, sondern Chris fand sie auch wunderschön, und so hatte er plötzlich vor dem Problem gestanden, die passende Wohnung für Kirschholzsekretäre, Schränke mit hohen Aufbauten und eben diese Couch finden zu müssen, was nach einigen Schwierigkeiten auch gelungen war. Es war sicher nicht das beste Wohnviertel. Zu viele Häuser mit grauen Fassaden und bröckelndem Putz, zu viele Migranten, Döner-Buden und Kneipen. Aber die Altbauten boten viel Platz und hohe Decken, und sie waren halbwegs bezahlbar.

„Verdammt, Sprenger! Verdammt!“ Statt sich frisch zu machen stand er hier blöd rum und bewunderte seine Möbel. Er würde zu spät kommen — wie immer.

Nach einer eiligen Dusche und einer hastigen Rasur schlüpfte er in den nachtblauen Dreiteiler, der für die wirklich wichtigen Anlässe vorgesehen war. Die Weste spannte, und als er die farblich passende Fliege anlegte, verzog er angewidert das Gesicht. Er hasste Fliegen!

Aber schließlich war Johannes Eickboom nicht irgendwer. Und wenn dieser stinkreiche Knacker mit dem Finger schnippte, hatte sein Anwalt zur Stelle zu sein. So wie heute. Das verwöhnte Söhnchen von Eickboom hatte sich betrunken hinters Steuer gesetzt und prompt einen alten Herrn überfahren, der einfach nur die Straßenseite wechseln wollte. Die Anklage lautete auf fahrlässige Tötung, und nächste Woche war der Prozess. Eickboom Senior bestand nun darauf, über die Verteidigungsstrategie von Chris aufgeklärt zu werden und hatte das mit einer Einladung zum Abendessen in seinem Haus verbunden. Deshalb die Fliege.

Als er seine Füße in die etwas zu engen Schuhe zwängte, machte sich sofort das Hühnerauge am kleinen Zeh bemerkbar. Aber es waren die einzigen Schuhe in seinem Bestand, die zu Dreiteiler und Fliege passten. Also biss er die Zähne zusammen, wünschte sich selbst einen „schönen Abend“ und machte sich auf den Weg.

Der „schöne Abend“ war auch nicht schlimmer als die vielen anderen, an denen er die Gastfreundschaft von Eickboom genießen durfte. Allein das protzige Haus mit Sauna, Pool und philippinischem Dienstmädchen, in dem er sich fehl am Platz vorkam. Frau Eickboom, die im viel zu tief ausgeschnitten schwarzen Seidenkleid dabeisaß und nicht zu Wort kam. Stefan Eickboom, der Junior, der absolut gelangweilt tat, obwohl es doch um seinen Hals ging. Und dann der Alte selbst. Laut, manchmal ungehobelt, manchmal charmant, oft unverschämt.

Zum Glück blieb es Chris heute Abend erspart, beim Kaffee eine dicke Havanna mit Eickboom rauchen zu müssen, von der ihm jedes Mal schlecht wurde. Vielleicht hatte der Alte ja endlich eingesehen, dass Chris seine Leidenschaft für Zigarren nicht teilte.

Vor fünf Jahren hatte der Aufsichtsratsvorsitzende und Hauptaktionär der „Felting & Grube Gummi- und Walzenwerke AG“ in einem Anfall von Panik Fahrerflucht begangen. Fahrerflucht deshalb, weil er mit seiner Geliebten im Auto saß statt mit seiner Frau. Wieso er sich dann von den damals sechstausend niedergelassenen Rechtsanwälten im Bezirk Köln ausgerechnet Chris herausgepickt hatte, war ihm immer noch schleierhaft. Ein Jahr zuvor hatte er sich gerade selbstständig gemacht und außer zwei kahlen Büroräumen (so vermessen, „Kanzlei“ zu sagen, war er bis heute nicht) im zweiten Stock eines Altbaus in der Innenstadt und einer einzigen Anwaltsgehilfin nicht viel vorzuweisen.

Wie auch immer: Er sollte die Verteidigung von Eickboom übernehmen und sah sich plötzlich einem Mann gegenüber, der regelrecht um sein Honorar pokerte. Nicht weil er geizig war. Im Gegenteil! Spielen, verhandeln, die Reaktionen seiner „Gegner“ auf geschickte Schachzüge waren seine Leidenschaft, wie er Chris gestand. Geld spielte dabei keine Rolle.

Er bot ihm ein Schwindel erregend hohes Honorar. Allerdings nur, wenn er mit einer relativ geringen Geldstrafe davonkommen sollte. Eine höhere Verurteilung, eine Bewährungsstrafe gar, hätte Chris nur ein „Butterbrot“ eingebracht.

Und damit fingen seine Probleme an. Die Honorare von Anwälten unterlagen der sogenannten „Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung“, kurz BRAGO. Ohne weiteres hätte Chris ein höheres Entgelt vereinbaren können, als dort vorgesehen war. Was jedoch als absolut standeswidrig galt, war ein „Erfolgshonorar“.

Er erklärte Eickboom sein Problem.

Der Alte war enttäuscht.

Chris versuchte, sein Angebot auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren — egal wie der Prozess ausging.

Eickboom sagte schlicht und ergreifend „Nein“.

Und dann hatte Chris die rettende Idee. Er schlug ihm ein festes Honorar für sich selbst vor und bei zufriedenstellendem Ausgang eine Spende zu Gunsten eines Projekts, das sich um drogenabhängige Prostituierte kümmerte. Eickboom lachte schallend, nickte und begann, um die Höhe der Spende zu feilschen. Ein Geplänkel, an dem auch Chris seinen Spaß fand. Die Geldstrafe fiel gering aus, und Eickboom überwies die Spende tatsächlich.

Danach hatte Eickboom ihn immer wieder in Anspruch genommen. Nicht als offiziellen Firmenanwalt für „Felting & Grube“, sondern für seine vielfältigen privaten Geschäfte. Chris handelte Verträge für ihn aus, klagte zahlungsunfähige Mieter aus seinen Eigentumswohnungen und kümmerte sich um diverse Ordnungsstrafen, weil der Alte zu schnell gefahren war oder irgendwo falsch geparkt hatte. Und jedes Mal spielten sie sein Spiel. Erst das Feilschen ums Honorar, dann die Spende. Zwei oder drei Mal hatten sie sogar im Büro von Chris mehrere Runden Poker gespielt — als Einsatz die jeweilige Spende, die Chris im Auge hatte.

Er hielt Eickboom für ein wenig verrückt, aber wenn dessen Glück davon abhing und er ihn so als Mandanten halten konnte, warum nicht? Seine Honorare waren mehr als üppig, und im Laufe der Jahre kamen verschiedene soziale Einrichtungen zu unvorhergesehenen Spendengeldern.

Soweit konnte er gut mit Eickboom leben. Dass er andererseits ein Arrogantling erster Güte war, der mit seinem Geld protzte und Chris ständig zu verstehen gab, was für ein kleiner Wicht er doch war, ließ ihm in unschöner Regelmäßigkeit die Galle hockkommen.

Heute Abend war es auch nicht anders. Und als Chris gegen elf Uhr den Heimweg antrat, war er genervt von der Art des Alten, vom Smalltalk und von seinem Hühnerauge. Außerdem hatte es auch noch angefangen zu regnen. Nein — es schüttete aus Kübeln.

„Verdammter Mistkerl!“, schnaubte Chris und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Irgendwann würde er sicher mal die Beherrschung verlieren und dem feisten Sack ins Gesicht sagen, was er wirklich von ihm hielt. Aber zum Teufel! Er brauchte Eickboom. Missmutig zündete er sich eine Zigarette an und blies den Rauch heftig gegen die Windschutzscheibe. Wenn er weiter für die Mädels arbeiten wollte, war er auf solche Eickbooms und ihre Honorare angewiesen.

„Seine“ Mädels! Mit Tinnis „Caribbean Club” und irgendeiner Steuergeschichte hatte es angefangen. Tinni hatte in die Gelben Seiten gesehen und die Nummer von Chris gewählt, weil ihr „der Name so gut gefiel“, wie sie heute noch behauptete. Die Sache mit dem Finanzamt war schnell geklärt. Aber kurz darauf wandte sich der Sozialdienst katholischer Frauen an ihn und bat um Unterstützung für eine drogenabhängige Prostituierte, die so oft im Sperrbezirk erwischt worden war, dass der Richter sie jetzt ohne Bewährung in den Knast schicken wollte, obwohl ihr ein Therapieplatz sicher war. Chris kümmerte sich, und die Welt, die er dabei kennenlernte, machte ihn traurig und wütend zugleich. Er sah Armut, Ausgrenzung, Krankheit, Drogenprobleme, Ausbeutung und Menschenhandel… Und dann war da die Sozialarbeiterin aus dem Frauenhaus aufgetaucht. Erzählte ihm von einer Bewohnerin, die ihren Mann wegen Vergewaltigung angezeigt hatte, absolut pleite war und einen Anwalt brauchte. Natürlich könne man auch über das Sozialamt und so, aber … Sie bettelte nicht, erbat nichts, erzählte nur.

Chris war den Verdacht nie losgeworden, dass Tinni ihm diese Frauen geschickt hatte. Wie auch immer — heute waren die meisten seiner Klienten Kleinkriminelle oder Frauen, und davon wieder lebten die meisten in katastrophalen Verhältnissen und hatten kaum das Nötigste. Wie die „lange Sabine“, die mit ihren 53 Jahren eigentlich zu alt für den Straßenstrich war. Die Geschäfte liefen für sie immer schlechter, die Miete konnte sie kaum noch aufbringen, und ihr einziger „Luxus“, eine private Krankenversicherung, wollte für ihre AIDS-Erkrankung nicht zahlen. Nach einem bitterbösen Briefwechsel zwischen Chris und der Krankenkasse zahlten sie dann letztendlich doch.

Er war froh, dass er für all diese Frauen etwas tun konnte. Aber jedes Mal stand er vor einem Problem. Schließlich musste auch er von irgendetwas leben, eine Mitarbeiterin und die Miete fürs Büro bezahlen. Außerdem saß ihm auch hier wieder die „BRAGO“ im Nacken, denn nicht nur Erfolgshonorare galten als standeswidrig, sondern auch, wenn er zu wenig verlangte. Frauen wie Sabine waren jedoch nicht einmal in der Lage, das Mindesthonorar, das die „BRAGO“ vorschrieb, aufzubringen. Also „vergaß“ Chris oft einfach einen Teil der Leistungen, die er erbrachte.

Und genau deshalb war ein gewisser Stamm zahlungskräftiger Klienten so wichtig. Die Eickbooms dieser Welt sicherten nicht nur halbwegs sein Einkommen, sondern auch sein Engagement für die Frauen, die die Gesellschaft ausgrenzte. Eigentlich hätte er also zufrieden sein müssen. Wenn er in letzter Zeit nicht immer öfter das Gefühl gehabt hätte, sich in der Nussschale totzuarbeiten. Wenn der Sozialdienst fünf illegale Russinnen von der Straße geholt hatte und er Aufenthaltsgenehmigungen, vielleicht noch Arbeit und Wohnung besorgte, oder Geld für das Ticket nach Hause, rückten zehn andere nach. Und waren es keine Russinnen, dann kamen Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien, oder, oder, oder…

Schluss damit, Christian Sprenger! Mach, dass du nach Hause kommst! Wochenende! Feierabend! Der Regen prasselte immer heftiger auf das Blech seines alten Nissan. Die Scheibenwischer führten mit ihrem satten „Flapp-Flapp-Flapp“ einen fast aussichtslosen Kampf dagegen. Streckenweise stand das Wasser auf der Fahrbahn, und er spürte, wie der Wagen sekundenlang zu schwimmen schien. Sehen konnte er so gut wie nichts mehr.

Er hatte die Abkürzung durch das Industriegebiet Ossendorf genommen, eine trostlose Gegend, in der es nachts außer Fabrikschloten und Lagenhallen nur parkende LKWs und Ratten gab. Der Wagen holperte über Kopfsteinpflaster. Jetzt nur noch diesen blöden Anzug loswerden, dessen Wollstoff an seinen Beinen kratzte und die verdammten Schuhe von den Füßen schleudern, zwei Finger breit Glenfiddich ohne Eis, und in einer heißen Badewanne das Wochenende einläuten. Das war alles, wonach ihm der Sinn stand.

„Verdammt!“, presste er plötzlich durch die Zähne und trat behutsam auf die Bremse. Trotzdem geriet der Wagen einen Augenblick ins Rutschen. Ein Stück vor ihm war im Regenschleier eine verschwommene Figur aufgetaucht, die er zunächst nur als helles Hemd wahrnahm. Die Gestalt verharrte einen Moment lang auf der Fahrbahn, ging dann — nein, taumelte auf den Bürgersteig zu und verschwand zwischen parkenden LKWs.

„Besoffenes Schwein“, murmelte Chris wütend und fuhr übervorsichtig weiter. Fehlte gerade noch, dass der ihm in den Wagen lief. Aufmerksam beobachtete er den Straßenrand, entdeckte schließlich einen hellen Fleck, einen Körper, der an einer Hauswand zusammengesunken war.

Muss ganz schön geladen haben, dachte er. Hat nicht mal ´ne Jacke an bei dem Regen. Verrückter Kerl!

Kerl? Irgendwas … dieser Gang, diese Gestalt … Egal! Auch eine besoffene Frau ging ihn nichts an. Badewanne und Whisky gingen ihn was an … Und wenn die Frau gar nicht betrunken war? … Also gut, von der nächsten Telefonzelle aus würde er die Polizei anrufen. Wieso nahm er auch nie sein Handy mit? Er musste es ja nicht einschalten, aber in so einem Fall … Wo mochte in dieser gottverlassenen Gegend eine Telefonzelle sein? Gab es überhaupt noch Telefonzellen?

Und wieso war die Frau hier? In diesem Viertel gab es Handwerksbetriebe, Lagerhallen, Speditionen, Dienstleistungsbetriebe aller Art, aber nur einen einzigen Wohnblock, und der war drei Straßen entfernt. Ansonsten keine Kneipe, kein Kiosk, nichts, wo sich freitagnachts Menschen aufhielten.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Dieses Mal trat Chris die Bremse voll durch. „Du lernst es nie Sprenger! Nie! Wieso kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Mist?“

Hinter dem Wagen stoben Wasserfontänen empor. Der alte schwarze Nissan kam schlingernd zum Stehen. Krachend warf er den Rückwärtsgang ein und gab Gas. In der Einfahrt zu einem Möbellager würgte er hektisch den Motor ab und sprang nach draußen. Sofort schoss ihm ein stechender Schmerz bis in die rechte Wade. Diese verfluchten Schuhe!

Kaum zehn Meter von ihm entfernt hockte die Gestalt, triefend vor Nässe. Turnschuhe, Jeans, weiße Bluse. Die Leuchtreklame von „Frielingsdorf KG, Autolackiererei“ über ihr tauchte die Szene in diffuses blaues Licht.

„Hallo, Sie!“, rief Chris und humpelte näher.

Der Kopf der Gestalt fuhr hoch, ihr Körper presste sich gegen die Hauswand, als wollte sie hineinkriechen. Dann zog sie beide Arme über den Kopf.

Tatsächlich eine Frau, erkannte er jetzt. Was tat sie hier? Vielleicht eine Verrückte?

Der Wind trieb eine Plastiktüte über den Bürgersteig vor das Einfahrtstor des Möbellagers. Das klatschende Geräusch ließ die Frau heftig zusammenfahren. Regen rann Chris in den Hemdkragen, lief ihm kalt in den Nacken. Als er sich vor die Gestalt hockte und deren Handgelenke umfasste, spürte er, wie Wasser durch das dünne Leder seiner Schuhe drang.

„Was ist mit Ihnen? Kann ich Ihnen helfen?“ Er wollte die Arme wegziehen, aber die Frau hielt mit erstaunlicher Kraft dagegen. Also doch eine Verrückte?

Leise, bemüht, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen, sagte Chris: „Na, kommen Sie. Ich tu´ Ihnen doch nichts!“

Die Tüte rutschte weiter, verfing sich an einem LKW-Reifen, blähte sich auf und fiel schließlich in sich zusammen. Noch einmal zog Chris mit sanfter Gewalt an den Armen. Zunächst senkten sie sich nur widerstrebend, dann aber rutschten sich schlaff herunter. Zwei riesengroße, fiebrig glänzende Augen starrten Chris an. Flackernde Angst im Blick, Panik. Dann sah er die blutige Schramme am Kinn. Die Haut über dem linken Wangenknochen schimmerte eigenartig. Sogar im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung waren rote Striemen zu erkennen, die sich um den schlanken Hals zogen. Unter dem zerrissenen Ärmel der Bluse zeigte sich eine klaffende Wunde.

„Gottverdammt!“, brachte Chris hervor. „Wer hat das getan? Welches Schwein hat das getan?“

Werd jetzt nicht panisch, Sprenger! Bleib um Himmels willen ruhig, ganz ruhig. Sekundenlang kämpfte er mit seinem Entsetzen, das nach Polizei und Notarzt rief. Und immer noch diese riesengroßen Augen, die nicht aufhörten, ihn anzustarren. Zwei Unterteller aus weißem Porzellan.

„Okay“, sagte Chris dann und merkte selbst, wie brüchig seine Stimme klang, „okay. Ich bringe Sie ins Krankenhaus!“

Die Augen begannen zu flackern, und die Hände der Frau krallten sich in die Ärmel seines Sakkos. „Nein, nein! Nicht … Krankenhaus … Nicht!“ Ihre Stimme war überraschend klar. „… Sie finden … mich … kein Krankenhaus.“

„Hören Sie, Sie sind verletzt und brauchen Hilfe!“

„Nein …“ Der Kopf der Frau pendelte hin und her. „… muss … hier weg … Karin … Karin hat …“

Chris umfasste den pendelnden Kopf mit beiden Händen. „Ruhig, ganz ruhig“, sagte er dabei. „Ich bringe Sie erst mal ins Auto. Können Sie aufstehen?“

Keine Antwort. Im Bruchteil einer Sekunde hatte Chris sich entschieden. Diese Frau musste in ärztliche Behandlung, so viel stand fest. Das Marienkrankenhaus war ganz in der Nähe, näher jedenfalls als die nächste Möglichkeit zu telefonieren, und Anne hatte Nachtdienst.

Chris rannte zum Wagen, riss die Beifahrertür auf und hastete zurück. Er schob den linken Arm in den Rücken der Frau, den rechten unter die Kniekehlen. Nur mit Mühe brachte er sich mit diesem schlaffen Bündel auf den Armen in die Senkrechte und stöhnte unwillkürlich auf. Im Film sah das alles so verteufelt einfach aus. Da trug John Wayne stundenlang einen verletzten Kameraden durch die Wüste, und Clark Gable nahm die berühmte Treppe auf Tara mit federnder Leichtigkeit, während Scarlett in seinen Armen lag. Bei den Dreharbeiten zu dieser Szene hatte er allerdings einen Bandscheibenvorfall erlitten. Kein Wunder, dachte der eher schmächtig gebaute Chris ernüchtert. Knappe zehn Meter, und du glaubst, du brichst in der Mitte auseinander!

Unsanfter als beabsichtigt ließ er die Frau auf den Beifahrersitz fallen, hob die Beine hinein und drehte die Rückenlehne ein Stück herunter. Eine Decke! Wieso hatte er keine Decke im Wagen? Schnell schlüpfte er aus seinem Sakko und legte es über den leblosen Körper. Es war nass, aber sicher besser als nichts. Noch ehe er um das Auto herumgelaufen war, waren Weste und Hemd durchweicht. Egal, nicht zu ändern. Er sprang hinter das Lenkrad und brauste mit durchdrehenden Reifen los. Immer noch hämmerte der Regen stakkatoartig auf das Blech. Er ließ Gebläse und Heizung auf höchster Stufe laufen. Trotzdem beschlugen jetzt die Scheiben. Es roch nach nasser Wolle.

Besorgt warf er einen Blick nach rechts. Die Augen der Frau waren geschlossen. In feinen Rinnsalen lief Wasser aus den dunklen Haaren in den Kragen der Bluse. Chris begann plötzlich zu zittern und redete sich ein, es läge an seinen völlig durchnässten Sachen.

Wie alt sie wohl sein mochte? Anfang dreißig vielleicht. Lag da, wie ein schmollendes Kind, die vollen Lippen zusammengepresst. Wie blass sie war.

Knappe drei Minuten nachdem er an Clark Gable gedacht hatte, bog Chris in die breite Einfahrt der Notaufnahme ein. Mein Gott, wie oft hatte er das schon getan? Damals. Wenn er Anne abholte, die todmüde und zerschlagen vom Dienst kam.

Er hielt die Frau neben sich fest und bremste unsanft vor den hell erleuchteten Glastüren. Loser Splitt spritzte von den Reifen hoch und schlug prasselnd an die Karosserie. Immer noch stand über dem Eingang „Ambulanz N taufnahme“. Die Leuchtstoffröhre im „o“ war seit Jahren kaputt.

Noch während Chris ausstieg, trat ein junger Mann in weißen Hosen und ebenso weißem T-Shirt nach draußen.

„Ein Notfall!“, rief Chris ihm entgegen. „Doktor Bovolet …“

Augenblicklich trat der Mann den Rückzug an, und Sekunden später kam Leben in den Flur hinter den Glastüren. Weiß gekleidete Männer und Frauen, eine Trage auf Rollen, die pummelige, zu klein geratene Anne mit wehendem Kittel und wehendem Haar, das sie jetzt hektisch hinten zusammenband.

Als sie Chris erkannte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihre grünen Augen weiteten sich erschrocken. Aber Chris schüttelte den Kopf und sagte: „Im Auto.“ Er fühlte sich plötzlich nur noch müde. Und ihm war so verdammt kalt, dass er beinahe mit den Zähnen klapperte.

Anne hatte die Beifahrertür aufgerissen und beugte sich in den Wagen. Nach ein paar Sekunden tauchte sie wieder auf, warf Chris das Sakko zu und rief über die Schulter: „Macht den kleinen OP fertig!“ Dann verschwand ihr Kopf wieder in dem Nissan. Chris stand ein wenig abseits und spürte kaltes Wasser in Bächen aus seinen Haaren rinnen.

Anne richtete sich endgültig auf, nickte den beiden Männern mit der Trage zu und trat zur Seite. „Ringerlösung auf Schuss und gleich eine Kreuzprobe. Lasst Doktor Sieger ausrufen. Ich komme sofort nach.“ Ihr Gesicht war völlig verändert. Da war nichts mehr von der Weichheit, die Chris irgendwann einmal gemocht hatte, sondern nur noch angespannte Konzentration.

„Wer ist das?“, fragte sie ihn, während die Frau aus dem Wagen gehoben wurde. Auf ihrem kupferroten Haar glitzerten Regentropfen.

„Keine Ahnung!“ Chris hob die Schultern. „Ich hab sie auf der Straße gefunden.“

Annes Blick wurde unnachsichtig und vorwurfsvoll. Dieser typische „So-was-kann-auch-nur-dir-passieren“ –Blick, der ihn so oft zur Weißglut gebracht hatte. Dann lief sie eilig hinter der Trage her.

Er folgte langsam durch die Glastüren in den Flur. Augenblicklich legte sich der scharfe Geruch von Desinfektionsmitteln auf seine Bronchien. Rote und gelbe Markierungen auf dem hellen Steinboden wiesen den Weg. Rot stand für Notaufnahme, wie ein Schild neben der Tür verkündete, gelb für Ambulanz. Chris ging entlang der roten Markierung weiter.

„Wollen mal sehen, dass wir trockene Sachen für Sie kriegen, Doktor Sprenger“, sagte eine alte, brüchige Stimme neben ihm.

Erschrocken fuhr Chris zusammen und sah in ein freundliches, zerfurchtes Gesicht. Schwester Hilde war so etwas wie das Faktotum der Notaufnahme und mindestens so alt wie Methusalem. Dieses von Franziskanerinnen geleitete Krankenhaus konnte schon lange nicht mehr alle Mitarbeiterinnen aus den eigenen Reihen rekrutieren. Die wichtigsten Verwaltungsposten waren noch von Ordensfrauen besetzt, beinahe alle Krankenschwestern jedoch weltlich. Schwester Hilde war eine der wenigen Nonnen, die im Pflegebereich ihren Dienst taten. Sie hätte sich schon längst in ein Kloster zurückziehen und ihren Lebensabend genießen können — müssen! Aber niemand brachte es fertig, ihr das nahe zu legen. Sie gehörte seit vierzig Jahren in dieses Krankenhaus, dreißig davon hatte sie in der Notaufnahme verbracht. Und Chris war sicher, sie in ein Kloster abzuschieben, hätte sie innerhalb von drei Monaten umgebracht. Man hatte sie nicht einmal dazu bewegen können, keine Nachtdienste mehr zu machen, wie Anne vor kurzem erst erzählte. Also wurde sie beschäftigt. Nicht mehr mit der Alltagshektik, den Sturzbetrunkenen, die durch Scheiben fielen oder sich den Kopf aufschlugen, nicht mehr mit Unfallopfern oder verprügelten Frauen. Sie war einfach da, besorgte hier ein Bett, brachte dort etwas in Ordnung, kochte Tee, beantwortete Telefonate oder sorgte eben für trockene Klamotten.

Schwester Hilde hakte sich bei Chris unter und führte ihn den Gang hinunter. „So was bringt einen ganz schön durcheinander, nicht?“, sagte sie weich, schob ihn in Annes Zimmer und schlurfte davon.

Nichts war verändert in dem Raum, den er seit zwei Jahren nicht mehr betreten hatte. Der mit Papieren und Fachzeitschriften übersäte Schreibtisch. Wer sollte da jemals etwas wiederfinden? Die schmale Liege, deren weißes Laken noch unbenutzt war. Daneben die kleine Kommode mit der Leselampe darauf und dem silbernen Bilderrahmen. Und immer noch steckte darin eine Fotografie von Chris. Eine in die Kamera lachende schlanke Gestalt, mit dunkelblonden, vom Wind zerzausten Haaren und grünen Augen. Neben dem Rahmen lag ein Buch mit hellem Einband. Mit Sicherheit Tolstoi oder Dostojewski. Anne liebte die Russen. Chris tippte auf Tolstoi, verdrehte den Kopf, um den Titel zu entziffern und zog die Nase hoch. Ihm war immer noch elend kalt in dem triefenden Anzug.

Mit einem „Ich hoffe, es passt einigermaßen“, kam die alte Nonne zurück, legte ein weißes Bündel auf die Liege und verschwand ebenso lautlos, wie sie gekommen war.

Weiß! Wieso war in Krankenhäusern immer alles weiß? Das war keine Farbe, die zu Leid und Tod passte. Sogar das Handtuch ganz oben auf dem Bündel war weiß.

Nur mühsam gelang es Chris, sich aus den nassen Sachen zu schälen. Dort, wo er gestanden hatte, hinterließ er eine kleine Pfütze. Er rieb sich kräftig bis die Haut rot wurde, dann rubbelte er das Haar halbwegs trocken.

Schwester Hilde hatte nicht nur an T-Shirt, Unterwäsche und Hosen gedacht, sondern sogar an Socken und Pantoletten. Aber als Chris umgezogen war, fror er immer noch. Dann erinnerte er sich, dass Anne den kleinen Wandschrank neben dem Waschbecken mit einem Kollegen teilte. Er öffnete eine Tür, und neben drei blütenweißen Kitteln fand er, was er suchte. Eine graue, grob gestrickte Jacke, die schon auf den ersten Blick wie ein Sack aussah. Als er sie angezogen hatte, reichte sie ihm bis zu den Oberschenkeln und seine Hände verschwanden komplett in den Ärmeln. Als er die Ärmel ein gutes Stück hochkrempelte, fiel ihm auch wieder ein, wer der Kollege war. Ein Hüne von fast zwei Metern Größe und mit Schultern wie ein Bodybuilder. Nun, Chris wollte ja schließlich keinen Schönheitspreis gewinnen. Als er sich auf die Liege fallen ließ, fiel sein Blick wieder auf den Bilderrahmen. War es nicht längst an der Zeit, einen lachenden Hans dort hineinzustecken?

Schwester Hilde tappte wieder herein mit einem großen Becher brühheißen Tees, Aufnehmer und Eimer. Als Chris aufspringen und selbst die Pütze beseitigen wollte, brummelte sie nur: „Ihr süßer kleiner Arsch bleibt, wo er ist!“ und fing an zu wischen. Auch das gehörte zu Schwester Hilde: Eine Wahrnehmung und Ausdrucksweise, die ihre Oberin wahrscheinlich zutiefst entsetzt hätte. Oder auch nicht, überlegte Chris, während er versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.

Die Pütze war schnell beseitigt, und die alte Frau nahm kommentarlos die nassen Sachen von Chris mit hinaus. Vielleicht gab sie sie in die Wäscherei der Klinik, und die steckten alles in den Trockner. Chris stellte sich vor, wie ein sündhaft teurer Schurwollanzug wohl aussehen mochte, wenn er aus dem Trockner kam. Auch egal — er hatte das Ding schon immer gehasst. Jeans und ein alter Pullover, das war eigentlich alles, was er zum Anziehen brauchte. „Keine angemessene Kleidung für einen Anwalt! Auch nicht in deiner Freizeit!“ Der Spruch stammte natürlich ebenfalls von Anne.

Chris wärmte sich die Hände an dem heißen Teebecher und wartete. Wartete, dass die eisigen Schauer, die immer noch durch seinen Körper jagten, aufhörten. Wartete auf Anne. Wartete, dass seine Erschöpfung ein wenig nachließ.

Draußen auf dem Gang lief jemand eilig vorbei, quietschende Gummisohlen auf Steinboden. Die Chirurgie war immer noch auf der Suche nach Doktor Sieger, wie eine verzerrte Lautsprecherstimme meldete.

Wer mochte die Frau so zugerichtet haben? Ihr Mann? Nein, hatte sie nicht gesagt „Sie finden mich“? Also mehrere Personen. Aber wer? Und warum?

Chris spürte seine Kopfhaut kribbeln, als ob tausend Ameisen darauf tanzten. Er wusste nur allzu gut, was dieses Kribbeln zu bedeuten hatte. Das war weder Kälte noch Erschöpfung. Es war Wut, maßlose Wut, die ihn packte, wenn Menschen andere Menschen halb totschlugen. Und es war die Gewissheit, dass er das Ganze nicht in drei Tagen vergessen haben würde. Die Gewissheit, dass diese Geschichte ihn noch mehr beschäftigen würde, als ihm lieb war.

Chris kannte den Gesichtsausdruck, mit dem Anne eine halbe Stunde später das Zimmer betrat. Er kannte und fürchtete ihn. Acht Jahre lang hatte er dieses müde, eingefallene, aschfahle Gesicht gefürchtet, diesen absolut leeren Blick. Und er hatte Anne gefürchtet, die an solchen Tagen ihren Beruf, das Krankenhaus, die ganze Welt verfluchte und in ihrer Aggressivität unberechenbar war, aus dem Nichts heraus Streit anfing, Gläser an die Wand warf …