Sechsundzwanzig

 

Der Parkplatz! Jetzt kam es also drauf an. Die Schnitte auf seiner Brust brannten wie Feuer. Ein Feuer, das ihn wütend machte. Aber der Zorn durfte nicht alles überschwemmen. Er brauchte einen klaren Kopf wie noch nie in seinem Leben.

„Motor aus. Aussteigen. Ganz langsam.“

Mechanisch kam Chris den Befehlen nach. Splitt knirschte unter seinen Sohlen, als er steifbeinig den Wagen verließ. Ganz automatisch wollte seine Hand die Verletzungen auf der Brust betasten. Aber er senkte den Arm wieder. Darum konnte er sich später kümmern.

„Nicht umdrehen. Geh!“

Langsam marschierte Chris los, zwang sich, an Karin zu denken, an Lachfalten und rote Krücken. Wenn er überhaupt eine Chance hatte, dann in den nächsten Minuten.

Er tauchte zwischen Bäumen ein. Wo hatte Brigitte Tönnessen wohl gelegen? Hier? … Oder hier? … Nur schemenhaft konnte Chris etwas erkennen. Kein Mond, nur fahles Sternenlicht drang durch das noch junge Blätterdach. Wann würde Gonzo über ihn herfallen?

Jetzt?

Oder jetzt?

Oder jetzt?

Wie weit war er hinter ihm? Einen Meter? … Zwei? … Drei?

Undeutlich nahm er linker Hand dichtes Gebüsch wahr. Dahinter schien der Boden abzufallen. Unter den Füßen von Gonzo knackte ein Ast überlaut, aber weiter entfernt, als Chris zu hoffen gewagt hatte.

Als er sprang, war jede rationale Überlegung abgeschaltet. Instinktiv tat er das, was zu tun war. Riss im Fallen die Pistole aus dem Hosenbund, lud durch, versuchte gleichzeitig den Sturz abzufedern, rollte einen Abhang hinunter.

Später hätte er schwören können, dass er das heiße Brennen in seinem Oberschenkel spürte, noch ehe der peitschende Knall des Schusses auf sein Trommelfell traf. Er kugelte weiter die Böschung hinunter, feuerte blindlings seine Waffe ab, drehte sich noch einmal. Ein weiterer Knall. Dort, wo er gerade noch gelegen hatte, spritzte Laub auf. Er kam auf die Beine, rannte los, um Distanz zwischen Gonzo und sich bringen. So viel Distanz, dass die Dunkelheit ihn verschluckte. Sonst war er verloren. Im Gegensatz zu ihm war Gonzo mit Sicherheit ein guter Schütze und würde ihn abknallen wie ein Karnickel.

Sirrend zischte etwas an seinem Ohr vorbei. Im Laufen bog er den Kopf nach hinten, sah erneut Mündungsfeuer aufblitzen. Er warf sich zur Seite, schoss seinerseits in Richtung des Blitzes, kam wieder hoch, rannte.

Mit der Schulter prallte er gegen einen Baum. Egal, der Schmerz spielte keine Rolle. Er musste nur weg von hier, weit weg. Er strauchelte über Wurzeln oder was auch immer, stolperte weiter, schlug mit dem Knöchel gegen einen Baumstumpf.

Kein Schuss mehr. Irgendwann wurde ihm bewusst, dass er keine Schüsse mehr hörte. Dass er gar nichts hörte, außer seinem eigenen pfeifenden Atem. Hatte Gonzo ihn verloren? Hatte er das Schwein getroffen?

Nicht stehen bleiben, Sprenger. Weiter! Und wenn dir die Lunge platzt.

Irgendetwas brachte ihn beinahe zu Fall. Mit den Händen konnte er gerade noch den Sturz abfangen und rappelte sich wieder hoch. Und wenn Gonzo jetzt dicht hinter ihm war? Wenn er im Kreis rannte? Ihm in die Arme lief? Ein heftiger Schmerz in der Seite ließ ihn zusammenklappen wie ein Taschenmesser. Es ist nichts, Sprenger. Nichts. Nur Seitenstechen. Nur deine Milz, die ihre Rechte anmeldet.

Ganz sicher lief er im Kreis. Alle Menschen, die die Orientierung verloren hatten, taten das früher oder später. Was schlicht und einfach daran liegt, dass jeder ein unmerklich kürzeres Bein hat, das ebenso unmerklich die kleineren Schritte macht.

Jäh trat er ins Nichts. Verlor jeglichen Halt, schlitterte über feuchtes Laub einen steilen Abhang hinunter, prallte mit dem Kopf gegen etwas Hartes.

Benommen blieb er liegen, nahm den dumpfen Schmerz, der durch sein Gehirn zuckte, in sich auf. Stille. Absolute Stille. Nur sein pfeifender Atem, und das Blut, das in seinen Ohren rauschte. Aber keine Schritte, kein Knacken von Ästen, kein raschelndes Laub. Jetzt liegen bleiben und nie wieder aufstehen müssen. Warm und klebrig lief etwas an seinem rechten Auge herunter. Schlafen. Ausruhen. Einfach ausruhen und nichts mehr denken.

Unter dem Laub flitzte eine kleine Maus davon und brachte ihn zur Besinnung. Wie lange hatte er hier gelegen? Fünf Minuten? Eine Stunde?  Suchte Gonzo nach ihm? War er in der Nähe?

Karin …

Plötzlich erschien ihm der Wald wie ein kleines Kämmerchen, in dem er eingesperrt saß. Er musste raus hier. Nichts war plötzlich so wichtig, wie diese Bäume hinter sich zu lassen.

Als er versuchte, auf die Beine zu kommen, bohrte sich ein scharfer Schmerz in seinen Oberschenkel. In seinem Kopf arbeitete jemand mit einer Spitzhacke. Trotzdem waren seine Gedanken mit einem Mal wieder glasklar. Er brauchte Hilfe. Irgendeinen gottverdammten Menschen, der nicht flüsterte. Und er hatte sein Handy. Aber konnte er wagen, es zu benutzen? Wenn Gonzo in der Nähe war, wenn er das Leuchten des Displays sah …

Es war ein Risiko. Trotzdem fummelte er es aus der Hosentasche und löste zittrig die Tastatursperre. Keine Sendeleistung. Nichts! Saß er etwa in einem der berüchtigten Eifeler Funklöcher? Eine gefühlte Ewigkeit hielt er das Gerät ans Ohr. Aber er bekam kein Freizeichen. Vielleicht hatte er ein Signal, wenn keine Bäume mehr um ihn herum waren?

Er lief weiter. Setzte ein Bein vor das andere. Rechts, links, rechts, links. Weiter, immer nur weiter. Irgendwann riss er entsetzt die Arme nach oben, als irgendetwas sein Gesicht berührte. Aber es war nur das weiche Geäst eines jungen Baumes.

Die Spitzhacke war zum Presslufthammer geworden, als er zwischen den Bäumen ein silbriges Band schimmern sah. Asphalt im Sternenlicht. Er hätte heulen können vor Erleichterung.

Immer noch blieb das Handy tot. Was jetzt? Welche Richtung? Egal! Eine Straße führte irgendwo hin, zu Häusern, einem Dorf. Er wandte sich nach rechts, hinkte am Fahrbahnrand entlang und hielt dabei das Handy im Auge. Ob er mit einem Smartphone, oder wie die Dinger hießen, Empfang hätte? Er hatte keine Ahnung von so was, sich mühsam damit vertraut gemacht, wie man mit seinem Gerät einfach nur telefonierte. Für eine SMS müsste er mit Sicherheit in der Bedienungsanleitung nachsehen.

Karin … Er wollte ihren warmen Körper spüren, ihr in die teuflisch schönen Augen sehen, nicht hier in diesem verdammten Wald herumlaufen wie ein Idiot. Und er wollte, dass derjenige, der bei jedem Schritt ein Messer in seinem Oberschenkel herumzudrehen schien, endlich damit aufhörte.

Plötzlich das Geräusch eines Motors. Scheinwerfer zuckten zwischen den Bäumen hindurch. Eine Welle der Erleichterung durchflutete Chris. Er brauchte jetzt nur den Wagen anhalten und … Zur Hölle! Dieses Gebrumm kannte er, das leichte Nageln dahinter. Schnell ließ er sich in den Straßengraben gleiten. Zwei Sekunden später huschte die Silhouette seines alten Nissan vorbei. Gonzo!

War das also die Straße, die zum Parkplatz führte, und dieser Verrückte fuhr jetzt in aller Seelenruhe nach Köln? Oder suchte er ihn, fuhr durch die Gegend?

Ächzend krabbelte Chris aus dem Graben und schleppte sich weiter. Als die Straße einen scharfen Bogen beschrieb und gleichzeitig steil anstieg, blieb er einen Moment stehen. Neben den rotweißen Warnschildern ging ein breiter Waldweg ab, an dessen linker Seite ein mächtiger Stapel Holz lag. Kannte er das nicht? War er hier nicht langgefahren, und hinter der Kurve lag gleich der Parkplatz?

Ein paar Schritte weiter sah er die befestigte Fläche, die Eiche in der Mitte, die Bank und den Tisch darunter. Er war also tatsächlich im Kreis gelaufen. Was aber jetzt? Wie weiter? Ganz automatisch fiel sein Blick auf das Handy. Ein einzelner kleiner Strich! Reichte das, um eine Verbindung aufzubauen? Er sank erschöpft auf die Bank und legte die Pistole, die er immer noch in einer Hand hielt, neben sich. Stopp! Wenn Gonzo  ihn suchte und nochmal vorbeifuhr, würde er ihn hier pflücken wie eine reife Pflaume.

Schnell raffte er die Waffe und hastete über den kleinen Platz. Erst als er sich hinter dichten Ginsterbüschen verkrochen hatte, wagte er, das Telefon zu bedienen. Freizeichen! Er hatte ein Freizeichen! Mit zitternden Fingern gab er die einzige Kurzwahl ein, die er wirklich im Kopf hatte.

Sei zu Hause! Werd wach! Geh ran, bitte geh ran! Er umklammerte das Gerät wie einen Rettungsring. Das Dröhnen in seinem Kopf wurde schier unerträglich.

Schon beim dritten Klingeln wurde abgenommen und eine hellwache, ungehaltene Stimme bellte „Braun!“ in den Apparat.

„Sanne … ich … Sanne!“

„Was? … Chris? Chris! Was ist los?“

“Dieses … dieses Schwein … der Typ hat mein Auto!“

„Wer hat dein Auto? Chris? Was ist passiert? Wo steckst du denn?“

„Ich … auf dem Parkplatz!“

„Verdammt noch mal! Bist du besoffen? Wovon redest du? Was für ein Parkplatz?“

Die plötzliche Schärfe in Susannes Stimme ließ irgendetwas in seinem Gehirn einrasten und er antwortete halbwegs fest: „Im … im Arloffer Wald.“

„Großer Gott!“ Es war nicht mehr als ein Murmeln. Aber es drückte alles aus. Entsetzen. Angst.

Sekundenlanges Schweigen auf der anderen Seite des Funkstrahls. Dann: „Okay, Chris! Ganz ruhig jetzt. Bist du … verletzt?“

„Ja … nein … ich weiß nicht … nein.“

„Chris!“

Sie hatte Recht, verflucht! Wer sollte aus diesem Gestammel schlau werden? „Nein“, sagte er klar und deutlich und hoffte, dass es stimmte. „Nur … nur ein paar Kratzer.“

Susanne sog hörbar die Luft ein. „Gut“, sagte sie dann. „Gut. Hör zu, ich rufe jetzt die Kollegen in Münstereifel. Die sollen …“

„Warte!“, unterbrach er sie, mit einem Mal völlig klar im Kopf. Vielleicht weil das Dröhnen darin nachgelassen hatte? Er hatte absolut kein Verlangen nach irgendwelchen Dorfsheriffs. Und reden wollte er auch nicht. Über Gonzo schon mal gar nicht. Aber irgendetwas hätte er Susannes Kollegen erzählen müssen. „Warte! Kannst du mich nicht holen? Ich hab keine Lust, denen meine halbe Lebensgeschichte zu erzählen.“ 

„Bist doch sonst nicht so mundfaul!“ Seine Freundin seufzte vernehmlich. „Also gut! Weil du es bist. Ich bin schon fast unterwegs.“

Erleichtert ließ er das Gerät sinken und schloss die Augen. Ruhe! Er wollte nur noch Ruhe. Dann jedoch stockte ihm der Atem. Da war was. Irgendwas. Er horchte angestrengt. Ein eigenartiges Geräusch, ein Rappeln, das ihm völlig fremd war.  Beinahe hätte er laut gelacht, als ihm klar wurde, dass er es selbst war. Er klapperte doch tatsächlich mit den Zähnen! Jetzt erst merkte er, dass seine Hose durchnässt und voller Matsch war, sein Hemd komplett durchgeschwitzt —und dass diese Nacht erbärmlich kalt war.

„Chris?“, hörte er verzerrt und aus weiter Ferne. Er wollte das Handy wieder aufnehmen, aber dann war alles nur noch schwarz.

 

Er kam zu sich, weil ein harter Lichtstrahl ihn durch die geschlossenen Lider mitten ins Hirn traf und da in einem bunten Sternenregen explodierte. Er riss die Augen auf, sah in den Lichtkegel und dahinter nichts als Dunkelheit.

Gonzo! Die Stimme! Stinkender Atem! Seine Waffe! Er brauchte nur seine Waffe zu heben und in diesen Lichtkegel zielen, dann hätte „Mister Muppet“ es hinter sich.

Das Licht schwenkte zur Seite und eine warme Hand legte sich auf seine Wange, sanft wie ein Schmetterling. Gleichzeitig wurde sein rechter Arm festgehalten.

„He, Kumpel! Ich bin´s! Knall deine beste Freundin nicht ab.“

Susanne nahm ihm die Pistole aus der Hand und ließ sich neben ihn ins Gebüsch sinken. Auf dem Parkplatz stand ein Wagen, dessen Scheinwerfer die Bäume in helles Licht tauchten.

Bäume! Er konnte keine Bäume mehr sehen. Nach dieser Nacht würde er wahrscheinlich nie wieder einen Wald betreten.

Seine eiskalten Finger gruben sich in den Ärmel von Susannes Jacke. „Dieser Typ ist krank, Susanne! Der hat echt nicht mehr alle Tassen im Schrank. Du musst ihn finden! Wenn der noch mehr …“

„Komm, reg dich ab!“, wurde er unterbrochen. „Dein Wagen ist in der Fahndung. Mehr können wir im Moment nicht tun.“

Sie schaltete die Taschenlampe wieder ein. Der Lichtkegel erfasste seinen Kopf, ohne ihn jedoch zu blenden, wanderte hinunter, verharrte einen Moment auf seinem zerrissenen Hemd und etwas länger auf seinem Bein.

„Nur ein paar Kratzer, ja?“, knurrte sie und zog vorsichtig den zerfetzten Hosenstoff auseinander. Der Lichtkegel wanderte wieder höher. „Du gehörst in ein Krankenhaus, und zwar gleich!“

„Dann fahr wenigstens zu Anne“, verlangte er.

„Verdammt! Ich brauche von hier aus fast eine Stunde bis ins Marienkrankenhaus!“

„Komm, mach schon!“

„Chris!“

„Bitte!“

„Du bist der dickschädeligste, sturste Hund … Gott, vergiss es! Also gut! Kannst du aufstehen?“

Mit ihrer Hilfe kam er auf die Beine, stolperte über den Platz zum Wagen. Irgendwie. Das letzte, was er wahrnahm, war der Geruch von Benzin und Öl, den die schwere Decke verströmte, die Susanne über ihn legte.

 

Weiß! Schon wieder! War es möglich, dass es so viel Weiß auf der Welt gab? Die Wände, die Decken, die Tür gegenüber? Fast wohltuend hob sich über dem Türrahmen der braune, ans Kreuz genagelte Christus ab. Ein deutliches Zeichen, dass er sich nicht in einem städtischen Krankenhaus befand.

„Na, du Murmeltier“, sagte eine leise Stimme neben ihm.

Als er den Kopf in Richtung der Stimme drehte, stieg eine leichte Welle Übelkeit in ihm hoch. Er schloss für einen Moment die Lider. Als er sie wieder öffnete, schaute er in rotgeränderte, ernste Kieselaugen. Karins Gesicht war grau vor Müdigkeit. Seine rechte Hand lag in zwei warmen, großen Pranken.

Irgendwas war da gewesen. Gonzo … Wald … Nacht … Karin … Wo kam Karin her? Er versuchte, die Watte es seinem Kopf zu scheuchen. Watte? Wieso waberte Watte durch sein Gehirn? Und dieses raue Gefühl in der Kehle, die wunden Schleimhäute. Das musste Durst sein. Irgendwie fühlte sich so Durst an.

„Trinken.“ Er war nicht sicher, ob das, was er gedacht hatte, auch so aus seinem Mund kam.

Aber Karin schien ihn verstanden zu haben. „Kalten Tee, oder soll ich dir was anderes besorgen?“, fragte sie.

„Tee!“ Auch dieses Wort schien er ausgesprochen zu haben, denn Karin begann, mit irgendetwas zu hantieren neben seinem Kopf. Das Klappern des Porzellans klang überlaut in seinen Ohren.

Reiß dich zusammen, Sprenger! Watte hin oder her, er biss die Zähne zusammen und zog sich an der Affenschaukel über ihm hoch. Atmete die aufsteigende Übelkeit weg, das dumpfe Pochen in seinem Schädel.

Karin setzte sich auf die Bettkante, griff mit der einen Hand in seinen Nacken und hielt mit der anderen die Tasse.

Eiskalter, ungesüßter Tee! Krankheit und Siechtum! Und trotzdem wurde mit jedem Schluck sein Kopf klarer, machte sich die Watte nach allen Himmelsrichtungen davon, zog an dünnen Fäden die Erinnerung hoch. Susanne neben ihm, das fehlende O in „Notaufnahme“, Sanitäter, das besorgte Gesicht von Anne, eine heisere Stimme. Ein Flüstern, das er nie wieder vergessen würde.

Die zweite Tasse schmeckte absolut scheußlich. Das machte ihm mehr als bewusst, dass er noch lebte. Mit seinem Kopf war irgendwas, und in seinem Oberschenkel zwickte es heftig. In seinem linken Handrücken steckte eine Kanüle und offenbar trug er so ein hinten offenes Krankenhausleibchen. Aber er lebte ganz eindeutig! Und Karin war bei ihm.

„Stell mir dieses Mistding höher“, verlangte er ungeduldig, obwohl sich sein Kopf immer noch schwammig anfühlte.

Leicht grinsend stellte Karin das Kopfteil seines Bettes auf die gewünschte Höhe. „Tee weckt also doch deine Lebensgeister!“

„Noch ein Schluck davon und ich sterbe“, antwortete er heiser, gegen den Schwindel ankämpfend. „Wie spät?“

„Halb drei ungefähr — nachmittags.“

Das mit dem Wald war nachts gewesen. 1:12 Uhr Abfahrt Euskirchen. Dieser Verrückte mit der Knarre in seinem Nacken!

Unwillkürlich fasste er nach Karins Hand, sah in das graue Gesicht und scheuchte den nächsten Wattebausch aus seinem Gehirn. „Du siehst so müde aus“, stellte er fest.

„Och, ich hatte halt ´ne unruhige Nacht“, versetzte sie trocken. „Susanne hat mich angerufen. Sie dachte, ich sollte es wissen.“

„Und du sitzt die ganze Zeit hier.“ Auch das war eine Feststellung, keine Frage.

Karin senkte den Blick, stierte auf das Bettlaken. „Weißt du“, murmelte sie und flammende Röte schoss ihr ins Gesicht, „ich konnte einfach nicht aufhören, dich anzuschauen.“

Chris brauchte ein, zwei Sekunden, bis er begriffen hatte. Dann setzte sein Herzschlag einen Moment lang aus und eine warme Welle durchflutete ihn bis in die Zehenspitzen.

„War das jetzt eine Art … Liebeserklärung?“, fragte er leise.

„Ich mache grundsätzlich keine Liebeserklärungen!“, blaffte Karin das Bettlaken an.

Aber Chris lächelte nur selig-blöde. „Könntest du´s trotzdem noch mal sagen?“

„Ich … ich bin nicht der Typ für so was“, brummelte sie, immer noch an das Laken gerichtet. „Ich kann …“

Plötzlich hob sie den Blick und grinste schief. „Tut´s vielleicht auch ein Kuss, Doktor Sprenger?“

Oh ja, der tat´s. Und wie! Chris war ziemlich außer Atem, als Karin sich nach einer viel zu kurzen Ewigkeit von ihm löste.

„Mach weiter“, murmelte er mit geschlossenen Augen.

Karin lachte. Ihr dunkles, volles Lachen. „Den Teufel werd ich tun! Du sollst dich nicht aufregen, hat Anne gesagt.“

„Oh Scheiße! Ich bin die Ruhe selbst!“

„Lügner!“ Sie zog ihre Pranke mit seiner Hand darin unters Kinn. „Ich soll sie übrigens holen, wenn du Lebenszeichen von dir gibst!“

„Wen?“

„Anne!“

„Oh nein! Bitte! Gib uns noch fünf Minuten allein.“

„He, wir haben noch alle Zeit der Welt, du und ich.“

Erneut geriet sein Herz aus dem Takt. „Also keine Affäre?“, fragte er rau.

„Keine Affäre.“ Karin schluckte schwer und stammelte: „Ich weiß nicht, ob ich … Gott, Chris! … Ich meine … ich hab noch nie …“ Noch einmal schluckte sie und sagte dann fest: „Ich weiß nicht, ob ich das kann, Chris. Ich bin mein Leben lang Einzelgängerin gewesen. Vielleicht bin ich einfach versaut für so was wie ´ne Beziehung. Ich fürchte, ich hab da eine Menge zu lernen. Aber wenn schon … Ich meine … Ich würd´ den Lehrgang gern mit dir machen, Chris!“

Zärtlich strich er ihr eine dieser widerspenstigen Locken aus der Stirn. „Lektion eins“, grinste er. „Küsse deinen Partner so oft wie möglich!“

Auffordernd reckte er den Kopf.

 

Annes Blick galt als erstes Karin. Eine Mischung aus Zyankali und Fliegenpilz. Karin hielt ihm stand ohne ein einziges Blinzeln, kühl, überlegen beinahe. Dann erst erntete Chris diesen „Kannst-du-denn-nie-auf-dich-aufpassen“- Ausdruck, den er hasste wie die Pest.

Der weiße Kittel der Ärztin hatte tiefe Knitterfalten, und sie sah nicht weniger müde aus als Karin. Eine kupferrote Strähne war aus dem Haarband gerutscht. Als sie sich auf die Bettkante setzte, schob sie sie mit einer geübten Bewegung hinters Ohr. Sie fühlte seinen Puls, horchte das Herz ab, leuchtete mit einer kleinen Lampe in seine Augen.

Dann erst ließ sie sich zu der Frage herab: „Wie fühlst du dich?“

„Als hättet ihr mich ganz schön ausgeknockt.“ Ihm war längst klar, woher diese Watte gekommen war, deren letzte Flöckchen immer noch in seinem Kopf saßen.

Anne erlaubte sich nicht einmal ein Lächeln. „Wir konnten anfangs nicht einschätzen, wie schwer deine Kopfverletzung ist, und sind auf Nummer Sicher gegangen. Außerdem hatten wir allerlei zu flicken. Also haben wir dich schlafen geschickt.“

Sie bedachte Karin mit einem weiteren giftigen Blick, auf den Chris sich keinen Reim machen konnte, ehe sie sich wieder ihm zuwandte. „Willst du wissen, ob du durchkommst?“

Sie lächelte auch jetzt nicht. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass ein Eisblock auf seiner Bettkante saß. Aber er brachte es fertig, lässig zu antworten: „Bring´s mir schonend bei!“

„Du hast eine wunderschöne Platzwunde an der Stirn, drei Stiche. Meines Erachtens hat das allerdings nicht mal für ´ne Gehirnerschütterung gereicht.“ War da jetzt Enttäuschung in ihrer Stimme? „Dir wird ein bisschen der Schädel brummen, aber das war´s dann auch. Streifschuss am rechten Oberschenkel. Sechs Stiche, aber es ist nicht sehr tief. Ansonsten: leichte Unterkühlung, Prellungen, oberflächliche Schnittwunden im Brustbereich. Da du aber eine Konstitution wie ein Pferd hast, ist zu befürchten, dass du´s überlebst.“

„Du bist eine wahre Freundin“, stöhnte Chris. „Wann gehe ich nach Hause?“

„Da reden wir morgen drüber!“ Anne stand auf, wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

Aber so leicht wollte er sich nicht geschlagen geben. „He! Heute Abend, ja?“

„Nein!“

„Ich will hier raus, Anne!“

„Nein!“

„Ich pack dich sowieso gleich wieder ins Bett“, griff Karin plötzlich ein, die bisher nur schweigend seine Hand gehalten hatte.

„Dann ist es wenigstens mein Bett“, beharrte Chris.

Anne holte tief Luft und blähte die Nasenflügel. Dann schien sie sich zu besinnen. „Mach was du willst“, brummte sie und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte sie sich noch mal um. „Kann ich dir die Braun auf den Hals hetzen? Die hat ziemliche Sehnsucht nach dir!“

„Gern!“, erwiderte er. „Vorausgesetzt, du könntest mir zuerst was zu essen auf den Hals hetzen!“

„Wie bitte?“

„Essen! Mangiare! Happi-Happi! Dein Patient hat Hunger!“

Anne riss die Tür auf und stürmte hinaus. Fast tat sie ihm Leid. Aber nur fast. Dann erinnerte er sich an Zyankali und Fliegenpilz. „War was zwischen euch?“, erkundigte er sich bei Karin.

„Nichts Besonderes“, gab sie leichthin zurück.

„Karin!“

„Na ja, wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit.“ Sie drehte nervös das Bettlaken zwischen den Fingern.

„Und?“

„Ach — sie wollte, dass ich nach Hause gehe, damit du absolute Ruhe hast.“

„Ja!?“

„Na ja.“ Sie fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. „Ich hab nicht eingesehen, was dich stören könnte, wenn ich nur still hier sitze.“

„Weiter!“

Karin grinste schief. „Nichts weiter! — Ich bin hier, oder?“

Er lachte verhalten, gerade so, dass ihm der Schädel nicht brummte. Er stellte sich die „kleine Meinungsverschiedenheit“ vor. Wenn zwei Menschen wie Karin und Anne aufeinander prallten, hatte wahrscheinlich das Krankenhaus gebebt. Zwei asiatische Kampfhähne mit sporenbewehrten Krallen, die, kurz bevor sie sich die Augen auskratzten, von Schwester Hilde zur Vernunft gebracht worden waren.

Eine Schwester brachte eine Tasse Brühe und zwei Toast. Absolute Schonkost, damit ihm nicht schlecht wurde, falls er doch eine leichte Gehirnerschütterung hatte, erklärte sie lapidar.

Na, Klasse! Am liebsten hätte er ihr das Tablett hinterhergeworfen, stand doch vor seinen Augen ein saftiges Rumpsteak mit Fritten. Aber die Schwester konnte schließlich nichts dafür. Wahrscheinlich hatte er diese Plörre den Rachegelüsten von Anne zu verdanken. Trotzdem aß er mit Heißhunger, während Karin von irgendwoher Rasierzeug besorgte.

Als er sich die Stoppeln abschabte, besprach er mit ihr die Organisation der nächsten Tage, und sah sich vor die Tatsache gestellt, dass sie ihm schon für eine Woche komplettes Arbeitsverbot erteilt und mit der Nixe alles Nötige besprochen hatte. Er widersetzte sich nicht, denn er fühlte sich plötzlich so erschöpft, dass er sich nur noch einrollen und schlafen wollte.

Aber da war Susanne vor, die kurze Zeit später ins Zimmer stürmte. Ihre Jeans war verwaschen und an den Knien ausgebeult. Das T-Shirt schien dagegen neueren Datums zu sein, hatte mit den silbrigen Applikationen auf beiden Schultern sogar einen gewissen Schick.

Sie ersparte Chris jeden noch so kleinen Vorwurf und schien erleichtert, dass es ihm einigermaßen gut ging. Hinter ihr schob sich Anne ins Zimmer. Mit Sicherheit keine medizinische Vorsichtsmaßnahme, sondern die pure Neugier, wie er vermutete. Aber egal, er würde das jetzt hinter sich bringen, weil die Polizei seine Aussage dringend brauchte, und dann wollte er nur noch nach Hause.

Er bemühte sich um äußerste Präzision, nannte Uhrzeiten, Einzelheiten wie den leichten Akzent, die seltsame Stimme. Es war ein minutiöses Protokoll des Schreckens. Der haargenaue Bericht eines Erlebnisses, das er seinem ärgsten Feind nicht wünschte und ihn innerlich immer wieder erschauern ließ.

Susanne hörte zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen, machte sich nur Notizen. Erst als er verstummte, nickte sie wie zustimmend. Das Arbeiten ihrer Wangenmuskeln deutete als einziges auf eine Gefühlsregung hin.

„Möchtest du mit unserem Psychologen reden?“, fragte sie.

„Ich will keinen Seelenklempner — ich will nach Hause“, knurrte Chris unwirsch.

„Wie du meinst.“ Sie fuhr sich müde über die Augen. „Ich hab dich um 3:41 Uhr hier abgeliefert“, begann sie dann. „Zehn Minuten später hatten wir dich unter Polizeibewachung. Bei Anbruch der Dämmerung haben wir mit der Spurensicherung im Arloffer Wald angefangen. Dass es der gleiche Parkplatz war wie bei der Tönnessen, brauche ich euch, glaube ich, nicht erst zu sagen.

Deinen Wagen haben wir vor zwei Stunden in der Innenstadt gefunden, mit ziemlich viel Blut auf dem Fahrersitz. Hauptsächlich im Rückenpolster. So, wie es aussieht, hast du ihn wohl in die Schulter getroffen. Hoffen wir, dass er einen Arzt braucht, und hoffen wir, dass dieser Arzt sich bei uns meldet. Die Spurensicherung ist dran, und ich wette meinen Kopf, dass die DNA des Blutes mit der der Haare bei Lautmann und Tönnessen übereinstimmt. Tja, ein Gutes hat die Sache: Die SOKO „Lautmann“ hat jetzt alle verfügbaren Kräfte bekommen, und ich kann dich eine Weile unter Polizeischutz stellen.“

Chris verdrehte die Augen. „Ich will keinen Uniformhansel, der in meinem Wohnzimmer sitzt und in der Nase bohrt.“

„Chris!“

„Nein! Zwei Leute, die das Haus überwachen oder du lässt es ganz! Wenn er verletzt ist, hat er mit Sicherheit was anderes zu tun, als mir noch mal aufzulauern.“

Auf der Stirn von Susanne bildete sich eine steile Falte, und sie wandte sich an Karin. „Wissen Sie eigentlich, was Sie sich mit diesem Sturkopf antun?“ Und zu Chris sagte sie: „Wenn du es also unbedingt darauf anlegen willst, bitte! Zwei Leute vorm Haus. Falls du´s dir anders überlegst, brauchst du nur was zu sagen.“

Sie stand auf und stopfte die Hände in die Hosentaschen. „Wir haben gestern übrigens Martin Geseke festgenommen. Es scheint eine ziemlich große Drogengeschichte zu sein. Wir gehen davon aus, dass er irgendeinen Killer beauftragt hat.“

„Und wie passt dann der Anschlag auf mich da rein?“, fragte Chris. „Ich kenne weder Geseke, noch weiß ich irgendwas über Drogengeschichten. Da läuft doch was falsch, Susanne.“

„Wir werden sehen …“

„Das reicht jetzt!“, unterbrach Anne sie schroff. „Ihr könnt euch in ein, zwei Tagen die Köpfe heißreden. Aber jetzt ist es genug.“

Keiner protestierte. Schon gar nicht Chris, der am Ende seiner Kräfte war.

An der Tür drehte Susanne sich noch mal um. „Eins noch! Hast du eine Idee, wie ich dem Staatsanwalt erklären soll, dass du auf unseren Freund geschossen hast? Du hast meines Wissens keinen Waffenschein!“

„Hab ich nicht noch was gut bei dir?“

Mit etwas, das sich anhörte, wie: „Scheiße! Jetzt bleibt wieder alles an mir kleben“, verließ die Kommissarin schnell das Zimmer.