Fünfunddreißig

 

Es zog sich länger hin als erwartet. Nicht zuletzt deshalb, weil Chris völlig unkonzentriert war, Aussagen wiederholen ließ, Fragen doppelt stellte und sich schließlich einen Rüffel vom Amtsrichter einhandelte.

Als es endlich vorbei war, fuhr er in die Piusstraße. Karin war natürlich längst weg und schlug sich mit den Kunden im Fotoladen herum.

Er holte das Handy und seine 38er aus der Nachttischschublade. Letztere hatte Karin nach langen Diskussionen und unter lautem Murren dort deponiert, unter der Voraussetzung, dass sie für ewig und alle Tage dort blieb, wenn sie schon nicht ganz verschwand.

Ewig und für alle Tage hatte bis heute Morgen gegolten. Bis zu einer Gewissheit, die so absolut war und doch durch nichts zu beweisen. Aber Chris war klar, dass Eickboom nun irgendwie reagieren musste, und da wollte er vorbereitet sein.

Dass er schon längst reagiert haben könnte, fiel ihm im Traum nicht ein. Er sah auch den Stock nicht, der wie ein Ausrufezeichen an der Garderobe hing. Immer noch stand er neben sich selbst, war so damit beschäftigt, das Unfassbare zu begreifen, dass für nichts anderes mehr Platz blieb.

Ohne anzuklopfen flog er in Susannes Büro, die erschrocken von ihrem Stuhl sprang.

„Hast du noch alle Tassen im Schrank? Da kriegt man ja ´nen Herzinfarkt!“

Hellwein schnellte ebenfalls in die Höhe, und sein Stuhl krachte gegen die Aktenregale hinter ihm. Aber er sagte erst mal nichts.

„Eickboom ist unser Mann!“, platzte es aus Chris heraus.

„Bitte — was? Nun mach mal langsam. Wer, um Himmels willen, ist Eickboom?“

Er versuchte, langsam zu machen, aber es fiel ihm nicht leicht. Schließlich brachte er es fertig, halbwegs zusammenhängend zu erklären, wer Eickboom war und die Szene vor dessen Haus wiederzugeben. Er vergaß auch nicht, den schwarzen zottigen Hund zu erwähnen.

Susanne hörte sich das alles mit zunehmend gerunzelter Stirn an. „Und was glaubst du, soll ich jetzt tun?“, fragte sie, als Chris fertig war.

„Na, nimm ihn hoch! Haussuchung, Vorladung, alles!“

„Nur mal angenommen, du hättest Recht!“

„Ich habe Recht, zum Teufel! Glaubst du, ich spinne oder was?“

„Keineswegs“, gab die Kommissarin ruhig zurück.

„Na also! Was soll das dann?“

„Mensch, Chris! Glaubst du, ich krieg ´ne Haussuchung durch, nur weil jemand dieses Jahr schon zwei Mal in San Filomento war? Der Aufsichtsratsvorsitzende von Felting & Grube? Du weißt doch genau, wie das ist.“

„Susanne! Ich weiß, was ich gesehen habe! Und ich weiß, dass er es weiß!“

„Nur, weil er dich heute früh komisch angeguckt hat — das reicht nicht.“ Sie rieb sich nachdenklich das Kinn. „Hör zu: Ich glaube dir. Wir müssen nur anders vorgehen. Wir brauchen …“

„Entschuldigung! Darf ich mal was sagen?“, fragte Hellwein mit seltsam belegter Stimme.

Weder Susanne noch Chris hatten darauf geachtet, dass er hektisch angefangen hatte, die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu durchwühlen. Jetzt stand er da mit einem Blatt Papier in der Hand. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren.

„Eickboom, Johannes?“, fragte er noch einmal nach, als die beiden ihm ihre Aufmerksamkeit schenkten.

Chris nickte, und der Blick von Hellwein glitt unsicher über das Blatt in seiner Rechten. „Er ist Schriftführer eines kleinen Vereins, der sich `Kamerafreunde´ nennt. Klippstein und Müller wollten nächste Woche mit ihm Kontakt aufnehmen.“ Hellwein sah auf. Irgendwie hatte sein Blick etwas von einem geprügelten Hund. „Sie wollten vor ein paar Tagen schon mit ihm reden, aber er war in Urlaub.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie alle die Bedeutung seiner Worte in ihrer ganzen Tragweite erfasst hatten.

„Na also“, sagte Susanne schließlich langgezogen. „Das sieht doch schon viel besser …“

Wieder wurde sie unterbrochen. Dieses Mal durch das Schrillen des Telefons. Sie riss den Hörer hoch und kläffte „Braun!“ in den Apparat.

Nach ein paar Sekunden reichte sie das Gerät an Chris weiter. „Für dich! Die Nix!“

„Was gibt es?“, fragte er irritiert in die Muschel. Wann hatte die Nixe jemals hinter ihm her telefoniert?

„Ach, Chef! Ich such Sie wie ´ne Stecknadel überall! Warum schalten Sie auch nie Ihr Handy ein? Da nervt mich den ganzen Morgen ein Herr Hagedorn. Er sagt, es wäre dringend.“

„Zum Henker! Ich kenne keinen Hagestolz!“ Er hatte jetzt wirklich anderes im Kopf.

„Dorn! Achim Hagedorn. Es geht irgendwie um Frau Berndorf!“

Etwas Eiskaltes kroch Chris über den Rücken bis zum Nacken hinauf. Klaus und Achim. Achim und Klaus. „Die Nummer!“, brachte er mühsam heraus.

Es dauerte Ewigkeiten, bis abgenommen wurde. Wahrscheinlich war der Laden wie immer rappelvoll.

„Foto Hagedorn und Pietsch!“

„Achim? Chris hier. Was ist los?“

„Das frage ich dich!“, rief Achim aufgebracht. „Karin wollte spätestens um elf da sein. Jetzt ist es fast eins! Wenn unser Notartermin platzt, können wir …“

Den Rest hörte Chris nicht mehr. Wortlos legte er auf und starrte die zerkratzte Platte von Susannes Schreibtisch an.

Erst als die Polizistin ihn am Arm fasste, wusste er wieder, wo er sich befand. „Karin ist weg“, sagte er tonlos.

„Wie meinst du das?“

„Sie sollte die Jungs im Fotoladen ablösen. Sie ist nicht da!“

„He, vielleicht ist ihr was dazwischen gekommen. Vielleicht … Nein — sie hält ihre Verabredungen ein, richtig?“

Chris gab keine Antwort.

Susanne umklammerte seinen Arm wie ein Schraubstock. „Okay, Chris! Jetzt komm zu dir. Wann bist du bei Eickboom weggefahren?“

„Kurz nach neun.“

„Wann sollte Karin um Fotoladen sein?“

„Elf.“

„Wart ihr zusammen? In welcher Wohnung?“

„Bei mir“, würgte er hervor.

„Dann lass uns hinfahren.“

Chris schüttelte den Kopf. „Ich war eben kurz zu Hause. Da war sie nicht.“

„Ist dir was aufgefallen? Hektischer Aufbruch? Ihr Auto vor der Tür? Irgendwas?“

„Nein, nichts!“

„Na gut! Wir fahren trotzdem hin. — Heinz! Frag nach, ob es heute Morgen Unfälle mit Personenschaden gegeben hat. Vielleicht ist ihr was passiert!“

 

Sie nahmen den Wagen von Chris, aber Susanne setzte sich wie selbstverständlich ans Steuer. Im Moment hatte eindeutig sie die besseren Nerven.

An einer roten Ampel warf sie einen kurzen Blick auf die Freisprechanlage am Armaturenbrett, murmelte etwas von „wie praktisch“ und klaubte das Handy aus ihrer Jackentasche. „Hier! Stöpsel mal ein! Wir haben die gleiche Marke. Hellwein wird gleich anrufen.“

Chris hatte dieses Ding noch nie benutzt, wie er auch das Handy kaum benutzte. Aber irgendwie schaffte er es, die beiden Geräte miteinander zu verbinden.

Kurz darauf meldete sich Hellwein tatsächlich. „Ein Zweiundneunzigjähriger ist heute Morgen vor Schreck von Rad gefallen, weil eine Ente über die Straße stolzierte. Ansonsten hatten wir nur Blechschäden. Ein Fahrzeug, das auf Karin Berndorf zugelassen ist, war nicht darunter.“

Die Wohnung war genauso, wie Chris sie eine knappe Stunde vorher verlassen hatte. Nichts deutete auf irgendwelche Besonderheiten hin. Der Frühstückstisch war abgeräumt, das Geschirr in der Spülmaschine, die Betten gemacht.

Dann aber, Susanne stand schon wieder im Treppenhaus, fiel sein Blick auf die Garderobe. Wie angewurzelt blieb er stehen, eine Hand um die Türklinke gekrampft.

„Was ist?“, fragte die Kommissarin ihren Freund.

„Der Stock, Susanne! Sie würde nie ohne ihren Stock nach draußen gehen!“ Die Haare auf seinen Unterarmen stellten sich auf, und er konnte sich erst von dem leuchtend blauen Gehstock lösen, als Susanne ihn hart am Arm fasste, und nach draußen zog.

Auch auf der Straße ließ sie seinen Arm nicht los. „Chris! Reiß dich zusammen! Wo steht ihr Auto?“

Er sah die Straße hinunter. Gestern Abend hatten sie den blauen Golf genau vor dem Kiosk von Hein abgestellt. Jetzt stand da ein weißer Corsa.

„Ist weg“, murmelte er. Dumpfe Panik breitete sich in ihm aus.

Susanne schien zu spüren, dass er völlig neben sich stand. Sie zerrte am Ärmel seines Sakkos und sagte eindringlich: „Chris! Angst haben ist völlig in Ordnung. Aber sie darf dich nicht beherrschen. Lass sie nicht in deinen Kopf, verstanden? Kotz von mir aus mitten auf die Straße, aber denk nach! Welches Auto fährt Eickboom?“

Er sagte ihr nicht, dass er das Kotzen schon hinter sich hatte. Er biss die Zähne aufeinander und versuchte, die Kieselaugen zu verdrängen. „Ich … ich glaube, einen weißen BMW.“

Susanne zerrte ihn ins Auto und fuhr langsam um den Block. In einer kleinen Parallelstraße stand ein 7er BMW, weiß metallic. In aller Unschuld.

Susanne hielt in einer Garageneinfahrt schräg gegenüber und gab Hellwein das Kennzeichen durch.

„Leg nicht auf!“, wies sie ihn an. „Ich bleibe dran!“

Sie hörten das Klappern einer Tastatur, einen leisen Fluch, nochmaliges Klappern.

Es dauerte zwei, drei Minuten. Dann wurde quietschend ein Stuhl zurückgeschoben, und Hellwein meldete sich wieder. „Susanne? Der Wagen ist auf Johannes Eickboom zugelassen.“

Die Polizistin schloss für einen Moment die Augen. „Also gut, Heinz!“, sagte sie betont ruhig. „Dann haben wir jetzt eine K 12!“

„Gott verdammt!“, kam es nach einer gewissen Zeitverzögerung zurück. „Maurer wird entzückt sein! Was schlägst du vor?“

„Wir sollten uns sein Haus vornehmen. Möglichst schnell und ohne großes Aufgebot. So blöd, sich dort mit ihr zu verschanzen, ist er nicht. Aber wir brauchen Hinweise, wo er sein könnte. Also Durchsuchungsbefehl und ein paar Leute, mehr nicht. Und Karins Wagen sollte als K 12 in die Fahndung. Und Heinz! Gib Gas! Eickboom steht mit dem Rücken zur Wand. Der kann sich alles Mögliche einfallen lassen. Wir bleiben hier und warten die Anweisungen ab.“

„Was soll das heißen: Anweisungen abwarten?“, schaltete Chris sich ein, als Susanne das Gespräch beendet hatte. Wieso hatte sie plötzlich keine Befugnisse mehr? Was war K 12? Er verstand nichts mehr.

Sie ließ sich Zeit mit der Antwort, kramte erst eine Packung Zigaretten aus der einen Jackentasche und dann das Feuerzeug aus der anderen.

„K 12 ist unser internes Kürzel für Geiselnahme, Chris“, erklärte sie dann. Sie zündete zwei Zigaretten an. Feine Aschekrümel regneten dabei auf ihre beigefarbene Hose und hinterließen dunkle Streifen, als sie sie achtlos wegwischte. „Es gibt nur vier hohe Beamte bei der Kölner Polizei, die in so einem Fall den Einsatz leiten dürfen. Einer von ihnen ist Hans Maurer, Leiter der Kripo. Ich kann ihm Vorschläge machen, weil ich intensiv mit dem Fall befasst war. Ob er sie letztlich annimmt, ist seine Entscheidung. Aber ich sehe nicht, was dagegen spricht, und Maurer ist ein guter und umsichtiger Polizist!“

Sie reichte eine Zigarette zu ihm hinüber und sah besorgt in sein totenblasses Gesicht. „Chris! Er wird alles tun, um Karin da rauszuholen, glaub mir! Jeder Bulle weiß genau, wie er sich bei einer K 12 zu verhalten hat. Wenn zum Beispiel jemand ihren Wagen sieht, wird er ihn nicht anhalten. Wir beobachten, warten, verhandeln. Wir tun nichts, was eine Geisel gefährden könnte!“

„Das sagt ihr immer“, gab Chris tonlos zurück und starrte durch die Windschutzscheibe auf den weißen BMW, dachte an Gladbeck; den entführten Linienbus vor ein paar Jahren …

Danach breitete sich lähmendes Schweigen im Wagen aus. Seine Zigarette schmeckte wie Stroh, und er warf sie angewidert aus dem Seitenfenster, schaute einem kleinen Jungen hinterher, der mit seinem Dreirad im Zickzackkurs über den Bürgersteig kreuzte, einer alten Frau, die trotz des strahlenden Sonnenscheins einen dunklen Wollmantel trug — und sah doch nur Karin vor sich. Kieselaugen.

Es waren sicherlich die längsten zehn Minuten seines Lebens, ehe Hellwein sich wieder meldete. Er klang gehetzt und angespannt. „Maurer hat sein Okay gegeben. Ich habe acht Leute. Klippstein ist unterwegs für den Durchsuchungsbefehl.“

„Klasse!“ Susanne startete den Nissan. „Wir treffen uns bei Eickboom. Keiner geht rein, bevor wir da sind!“

 

Sie stießen auf Hellwein und die angeforderten Beamten etwa fünfzig Meter vor Eickbooms Haus. Susanne hatte alle Geschwindigkeitsbegrenzungen ignoriert und bog fast zeitgleich mit den anderen in die Allee ein. Sie stellte den Wagen ein Stück hinter der Einfahrt ab und ging zu ihren Kollegen. Chris folgte langsamer, immer noch wie betäubt.

Links und rechts der Straße säumten weiß getünchte Mauern die meist parkähnlich angelegten Grundstücke. Die Häuser waren weit zurückgebaut, vor neugierigen Blicken durch Hecken und Bäume geschützt. Im Schatten der Kastanien auf dem Mittelstreifen standen drei Streifenwagen. Hellwein lehnte an seinem neutralen dunkelgrünen Dienstwagen, umgeben von sechs uniformierten Beamten und dem kleinen Müller. Eine stämmige Polizistin mit langen blonden Locken hatte ihre Mütze weit in den Nacken geschoben. Müller trippelte nervös umher.

„Klippstein schon da?“, erkundigte sich Susanne kurz angebunden.

„Nein“, wurde sie von Hellwein beschieden. „Muss aber jeden Moment kommen. Maurer will spätestens alle halbe Stunde unterrichtet werden. Das SEK Dortmund ist in Bereitschaft.“

„Na, läuft doch“, knurrte die Kommissarin. „Also Leute! Macht euch eins klar!“ Sie schaute in die Runde, um sich zu vergewissern, dass alle zuhörten. „Wir suchen ausnahmsweise mal keine Tatwaffe, keine Drogen und auch keine Leiche in der Kühltruhe. Alles, was wir brauchen, ist ein Anhaltspunkt auf seinen Aufenthaltsort. Also achtet vor allem auf Fotos, Hotelrechnungen, Mietverträge, et cetera. Haltet euch nicht mit Äußerlichkeiten auf. Geht vom Keller bis zum Dachboden. Aber bringt mir einen gottverdammten Hinweis!“

Noch einmal sah sie ihre Leute der Reihe nach an. „Auf geht´s also! Doktor Sprenger und ich machen die Spitze!“

Stefan Eickboom öffnete ahnungslos die Haustür und wurde völlig überrumpelt. Fassungslos starrte er auf die Uniformen und gezückten Dienstausweise. Und dann auf Chris.

Susanne drängte ihn in den erstbesten Raum, einen kleinen Salon mit plüschigen Sesseln und bis zur Erde reichenden Samtvorhängen. Chris und der kleine Müller folgten ihnen, während sich die anderen im Haus verteilten. Allen war die Anspannung anzumerken. Karin war seit mindestens vier, wenn nicht gar fünf Stunden in Eickbooms Gewalt. Jede Minute, die sie hier vergeudeten, konnte eine Minute zu viel sein.

„Wo ist Ihr Vater?“, blaffte Chris den jungen Eickboom an, der offenbar überhaupt nicht realisierte, was vor sich ging. Er war in einen der Sessel gefallen und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

„Wa … was? Was weiß ich?“

„Wo ist er?“ Die Stimme von Susanne war schneidend scharf.

„Weg … weggefahren. Gleich nachdem er hier war.“ Er bedeutete mit einer Kopfbewegung zu Chris, wer mit „er“ gemeint war.

„Wohin?“

Eickboom zuckte die Achseln, schien sich aber langsam von seinem Schrecken zu erholen. „Er war irgendwie komisch. Sie waren kaum weg“, wandte er sich jetzt direkt an Chris, „da ist er kurz in sein Arbeitszimmer gerannt und dann Hals über Kopf davongestürzt.“

Er biss sich auf die Lippen, und flammendes Rot schoss ihm in die Wangen. Langsam schien ihm aufzugehen, dass sein Vater in ernsten Schwierigkeiten steckte.

„Hat er noch eine Wohnung? Ein Haus? Seine Büros?“

„Wir haben ein Wochenendhaus bei Königswinter. Sonst … Unsere Immobilien sind alle vermietet, soweit ich weiß. Aber er hat mich nie … Von seinen Geschäften hab ich keine Ahnung!“

„Gut. Wie ist es mit Waffen? Hat er eine Waffe?“

Eickboom schüttelte spontan den Kopf, dann blinzelte er jedoch verunsichert und sagte: „Er … er hat eine uralte Pistole in seinem Schreibtisch, ein höllenschweres Ding.“

„Ist außer Ihnen noch jemand im Haus?“

„N … nein! Meine Mutter … meine Mutter ist verreist. Was ist denn überhaupt …?“

„Müller! Lass dir die Adresse des Wochenendhauses geben von ihm hier. Die Kollegen aus Königswinter sollen das beobachten. Nur beobachten, hörst du? Sollte jemand dort sein, müssen sie sich sofort zurückziehen!“

„Chef? Doktor Sprenger?“ Hellwein stand etwas atemlos in der Tür. Er hatte sich das Sakko ausgezogen und über die Schultern gelegt. „Ich glaube, ihr solltet euch das ansehen.“

Er führte sie über eine weiß geflieste Treppe in den Keller, zu einem großen, aber spartanisch eingerichteten Raum. Halogenstrahler waren in die holzgetäfelte Decke eingelassen und leuchteten bis in den letzten Winkel. An einem Tisch mit verschrammter Glasplatte stand ein einzelner Sessel. Ein alter Schrank mit gedrechselten Füßen nahm eine Querwand ein. Auf den beiden Längsseiten standen mannshohe, offene Vitrinen, in denen zum Teil seltsam anmutende Geräte aufgebaut waren. Zwischen Projektoren, Vergrößerungsgeräten und Entwicklern standen an die dreißig Fotoapparate. Man sah ihnen das Alter an, aber offensichtlich wurden sie gepflegt und regelmäßig poliert.

Chris stockte der Atem. Sekundenlang drehte sich der Raum vor ihm, und er schien über dem Boden zu schweben. Als er wieder klar sehen konnte, steuerte er zielstrebig auf eine hohe, rechteckige Kamera zu, deren geöffnete Frontklappe eine breite Linse freigab, die auf einer Art Ziehharmonika zu sitzen schien.

„Eine Hasselblad 6x6 mit Balgenauszug“, summte Karins Stimme in ihm. Er hatte noch nie im Leben eine Hasselblad in der Hand gehabt oder auch nur gesehen, schon gar nicht diese, aber er war trotzdem völlig sicher.

Er hörte noch, wie Susanne hinter ihm sagte: „Nicht Chris! Die Spurensicherung!“, aber da hatte er die Kamera schon in der Hand. Sie war schwer, als ob Bleigewichte in ihr steckten. Die kleine polierte Messingplatte auf dem rückwärtigen Gehäusedeckel verschwamm vor seinen Augen.

Bisher war er wie betäubt gewesen. Hatte reagiert, gedacht, geredet wie ein Automat. Karin war in Eickbooms Gewalt, ja. Aber das war nur in seinem Kopf angekommen, nicht bis in den Bauch gerutscht. Als er jetzt aber den eingravierten Namen der Frau las, zu der er in den letzten Wochen eine so gewaltige Zuneigung entwickelt hatte, da sickerte Gefühl ein, viel zu viel Gefühl. Angst. Entsetzliche, nackte Angst.

Er sah die Kieselaugen vor sich, den leichten Spott darin, die Begeisterung, wenn es um Fotografie ging, das Leuchten, wenn sie ihn anschaute …

Susanne nahm ihm behutsam die Kamera ab und stellte sie auf den Tisch. Dann legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. „He, wir finden sie! Glaub mir. Wir stellen diese ganze, verdammte Stadt auf den Kopf. Wir lassen keinen Stein auf dem anderen. Wir …“

„Hör auf damit!“ Chris schüttelte ihre Hand ab. „Er hat sie längst … Es ist zu spät, Sanne, sie …“

„Okay, Christian Sprenger. Das reicht jetzt!“, sagte sie hart. „Schalt dein Gehirn wieder ein!“

Hellweins Funkgerät begann zu knarren, und sie wartete, bis er sich damit in den Kellergang verzogen hatte, bevor sie weitersprach. „Er wollte dich, Chris! Sie war bei dir zu Hause. Und er hat sie nicht einfach abgeknallt, sondern mitgenommen. Was schließt du daraus?“

„Dass er …“ Chris schluckte den Klumpen in seiner Kehle herunter. „Er braucht sie.“

„Gut! Für was?“

Die betonte Härte, mit der die Kommissarin sprach, ließ keinen Platz mehr für Angst. Entschlossen drückte er die Sorge um Karin beiseite. „Er wollte mich zum Schweigen bringen. Aber er hat nicht gewusst, wo ich zu finden bin. Also hat er es auf gut Glück bei mir zu Hause versucht. Da trifft er jedoch nur Karin an. Fatal ist dabei, dass sie sein Gesicht kennt. Also muss er letztendlich auch sie beseitigen. Aber er hat eine Idee. Wenn er mich nicht findet, muss er dafür sorgen, dass ich ihn finde. Und dafür braucht er Karin.“

„Weiter! Was tut er? Welche Idee hat er? Du kennst ihn. Du bist der Einzige hier, der ihn einschätzen kann!“

„Er … er ist ein Spieler, Susanne. Jedes Mal, wenn wir zusammen waren, haben wir gespielt. Um mein Honorar, das Strafmaß. Wir haben gepokert, manchmal geblufft, manchmal hatte einer von uns ein As im Ärmel. Wenn er mich jetzt will, muss er notgedrungen wieder pokern. Allerdings hat er mit Karin ein Full House.“

„Und wo ist dein Royal Flush? Los, denk nach! Du weißt, wo er steckt! Im Prinzip weißt du es! Du musst nur drauf kommen!“ Susanne, klang wie der Einpeitscher auf einer Galeere. Und sie spornte ihren einzigen Sträfling zu Höchstleistungen an.

„Susanne?“ Hellwein schob sich wieder herein. „Das Haus in Königswinter ist leer.“

„Mist! — Also, Chris! Wo sind deine Asse? Du warst ihm schon mal ganz nah, als dir Viego deinen klugen Kopf wegblasen sollte.“ Sie stützte sich schwer auf die Sessellehne. „Was war das, Chris? Was? Wo hast du deine Karten? Mach! Ohne diesen klugen Kopf ist Karin verraten und verkauft!“

Die Nacht im Arloffer Wald. Am Tag zuvor hatte er mit Stefan Eickboom telefoniert, der ihm vom Italienurlaub seines Vaters erzählt hatte. Beinahe hätte Chris laut aufgelacht. Italien! Toskana! Aber das war´s nicht. Ganz gewiss nicht. Zu weit weg, damals eine an Harmlosigkeit nicht zu überbietende Bemerkung. Danach war der Alte selbst bei ihm gewesen. Aber über mehr als einen Scheidungsanwalt hatten sie nicht gesprochen.

Und der Arloffer Wald? Sollte er dorthin …? Nein, das war nicht seine Art. So plump ging Eickboom nicht vor. Er würde es feiner, geschickter anstellen. Und er wollte sein Spiel zu Ende bringen, so viel war klar. Er würde nicht versuchen, sich abzusetzen, seine Haut zu retten — jedenfalls nicht, bevor er Chris den entscheidenden Stich abgenommen hatte. Obwohl er auf verlorenem Posten stand, versuchte er, seine Karten über die Runden zu bringen. Das setzte voraus, dass er ziemlich sicher war, wie Chris reagieren würde. Ging er davon aus, dass er nicht zur Polizei gegangen war? Das Spiel allein ausfechten wollte? Dafür musste er jedoch sicher sein, das Chris ihn fand. Was war das? Wo?

Anders, Chris. Denk andersherum. Fang vorne an, ganz vorne!

Die Nacht, in der er Inge gefunden hatte, das Essen vorher hier in diesem Haus. Nein, auch das war zu weit weg. Dazwischen lag Brigitte Tönnessen, deren Tod keinen Sinn ergab, wenn an diesem Abend irgendetwas gewesen sein sollte. Und doch, Inge Lautmann, angestrahlt von blauen Lettern.

„Was ist mit dem Industriegebiet?“, schlug er vor.

Aber Susanne und Hellwein stöhnten gleichzeitig auf.

„Hör damit auf!“, explodierte die Polizistin. „Wir haben da jeden Stein rumgedreht. Wir haben die Mitarbeiter der ansässigen Firmen befragt, die Firmennamen und deren Geschäftsführer mit der Lautmannliste verglichen. Nach der Sache mit dir haben wir das alles nochmal aufgerollt. Außer Geseke war da nichts! Absolut nichts!“

Geschäftsführer?

Lautmann … Frielingsdorf KG … Firma … KG … OHG … Geschäftsführer …

Wie in den kleinen Bilderbüchern, deren Figuren sich plötzlich zu bewegen scheinen, wenn man die Seiten schnell genug durch Daumen und Zeigefinger gleiten lässt, sausten Paragrafen des Handelsgesetzbuches durch sein Gehirn. Irgendwas war da. Ewigkeiten nicht mehr gebraucht, vielleicht das letzte Mal im Examen, weil er sich danach auf Strafrecht spezialisiert hatte … Firma … Geschäftsführer …

In dicken Lettern stand plötzlich ein Wort vor seinen Augen. Ein einziges Wort, das alle Fragen beantwortete.

„Mein Gott, die Kommanditisten!“, murmelte er und rannte hinaus.