Vierunddreißig

 

Karin hatte nicht die geringste Chance.

Sie suchte gerade alles zusammen, was sie für einen Tag im Fotoladen brauchte, als es schellte. Sie rechnete mit dem Postboten oder der Nachbarin, der sie gestern mit zwei Eiern ausgeholfen hatten, nicht aber mit einem  Mann, der neben der Wohnungstür an der Wand gestanden haben musste, jetzt vorsprang und ihr eine Pistole an die Kehle hielt.

Seltsamerweise schien er beinahe so erschrocken wie sie selbst. Aber er fasste sich schnell, schob sie rückwärts in die Wohnung und schloss die Tür mit der linken Hand. Mit der rechten drückte er die Waffe hart an Karins Hals.

Sie erkannte ihn sofort. In Sekundenbruchteilen setzte ihr fotografisches Gedächtnis verschiedene Mosaiksteine zusammen. — Der zweite Mann aus der Toskana! Sie wagte kaum zu schlucken, spürte das kalte Metall an ihrem Kehlkopf.

„Wo ist er?“, zischte er. „Wo ist Doktor Sprenger?“

Als sie nicht antwortete, drückte er den Pistolenlauf noch ein wenig fester an ihren Hals. „Er war vor einer Stunde bei mir. — Wo ist er jetzt?“

„Bei Gericht“, würgte Karin heraus. Ihr Atem ging flach und stoßweise. Sie konnte nicht ausweichen, fühlte im Rücken die Wand, vorn das kalte Metall. Obwohl die Angst sie zu überfluten drohte, schaltete sie schnell. Wenn Chris bei ihm gewesen war, konnte dieser zweite Mann hier nur Eickboom sein.

Sie schloss einen Moment die Augen. So nah! Er war die ganze Zeit so nah gewesen! Und damit war gleichzeitig Chris ihm nahe gekommen. Unbewusst so nahe, dass Viego ihn umbringen sollte. Und heute? Was war heute passiert? Ihr Magen krampfte sich zusammen.

Nein, nein! Wenn er Chris suchte, hatte er ihm noch nichts angetan. Noch nicht!

Die Wut kam ganz plötzlich. Eiskalte, blanke Wut. Da stand der Mann vor ihr, der zwei Frauen auf dem Gewissen hatte und jetzt hinter Chris her war. Chris! Ohne zu zögern hätte sie in diesem Moment den Pflasterstein aufgehoben und zugeschlagen.

Sie versuchte, ihre Wut festzuhalten. Zorn war besser als Angst. Angst lähmte, halbwegs kontrollierter Zorn setzte Denkprozesse in Gang.

Wenn sie den Gehstock erreichen könnte, der an der Garderobe hing! So tun, als könnte sie ohne ihn kaum einen Schritt machen. Vielleicht hatte sie die Chance, ihm eins überzuziehen.

Eickboom überlegte offensichtlich. Starrte ihr mit gerunzelten Brauen ins Gesicht und dachte nach. Feine Schweißperlen standen auf seiner gebräunten Stirn.

Ihr war klar, dass er eigentlich nur Chris wollte. Stattdessen war ihm jetzt die alte Berndorf vor die Flinte gelaufen. Und er konnte nur noch zwei Dinge tun: Zuerst ihr den Kopf wegpusten und dann Chris. Hart schlug ihr Puls in der Halsschlagader. Die Wut entglitt ihre beinahe wieder, drohte von neuerlicher Angst erstickt zu werden.

Plötzlich verzog sich das Gesicht von Eickboom zu einem spöttischen Grinsen. „Nun gut! Wir beide werden eine kleine Spazierfahrt machen“, sagte er und lockerte den Druck der Waffe etwas. „Sie werden sich ganz ruhig verhalten. Keine Zicken! Wir beide gehen jetzt sehr eng aneinander geschmiegt zu Ihrem Auto. Und glauben Sie mir: Diese Pistole ist währenddessen ganz nah an Ihrem Herzen. Ganz nah!“

Er ließ sie los, blieb aber dicht bei ihr stehen, die Waffe nur Millimeter von ihrem linken Rippenbogen entfernt. Instinktiv wollte sie nach ihrem Stock greifen, zuckte aber im letzten Moment zurück. Der leuchtend blaue Gehstock war der einzige Hinweis, den sie Chris geben konnte. Er wusste genau, dass sie ohne diesen Stock keinen Schritt vor die Tür setzte. Wenn er ihn sah, würde er sich Gedanken machen, Schlussfolgerungen ziehen, bei Achim und Klaus anrufen, die auf sie warteten … Wenn er ihn sah …

Eickboom folgte ihr auf der Treppe so dicht, dass sie seine Körperwärme spüren konnte. Im Stillen fluchte Karin. Wäre sie nur beweglicher! Dann hätte sie vielleicht eine Chance. Ein gesunder Mensch konnte zur Seite springen, versuchen, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen, irgendwas tun. Sie jedoch war genug damit beschäftigt, sich einfach nur auf den Beinen zu halten. Ohne den Stock waren ihre Schritte unsicher, und sie fürchtete ständig, zu stolpern, hinzufallen.

Er ließ sie auf der Beifahrerseite einsteigen und rüber rutschen. Wartete geduldig, bis sie das linke Bein über die Konsole gehoben hatte.

Wohin würde er mit ihr fahren? Sie spürte das kalte Metall durch den dünnen Blusenstoff an ihrer Seite. In den Arloffer Wald? Nein, das war zu billig! Das war der Stil des Auftragskillers, nicht der von Eickboom, dem „Zocker“, als den Chris ihn beschrieben hatte. Er würde versuchen, sein Spiel zu spielen. Nur welches, war die Frage. Mit Sicherheit aber würde er gezinkte Karten aus dem Ärmel schütteln, beobachten, was der Gegner tat, versuchen, ihn in die Falle zu locken.

Plötzlich wurde ihr klar, dass Eickboom sie noch brauchte. Nur sie allein auszuschalten, nützte ihm nichts. Außerdem war er nicht blöd, und die Tatsache dass sie in der Wohnung von Chris gewesen war, ließ auf ein engeres Verhältnis schließen. Und jetzt sollte sie der Köder sein. Etwas, das Chris zu Hochform auflaufen ließ. Sie war das Objekt, das Chris jede Möglichkeit zu einer eigenständigen Aktion nahm und nur noch Reaktion zuließ.

Er dirigierte sie mit knappen Worten durch die Stadt. Jetzt erst merkte Karin, wie sehr sie schwitzte. Die Kleidungsstücke klebten auf ihrer Haut, lähmten ihre Bewegungen. Sie müsste einfach aus dem Wagen springen bei passender Gelegenheit. Wie ein Tonnengewicht hing die Prothese plötzlich an ihrem Oberschenkel. Und wieder einmal dachte sie, ohne diesen leblosen Klotz am Bein, der so viele gute Dienste leistete, wäre sie beweglicher.

Sie fuhren durch enge Straßen, vorbei an einer Schule, deren Pausenhof voller Kinder war. Der Lärm, den sie machten, übertönte das Motorengeräusch des blauen Golfs.

Karin presste die Zähne aufeinander, bis es wehtat. Chris! Er wollte Chris! Und sie hing wie ein dicker Wurm an der Angel. Er brauchte sich nur noch still hinzusetzen und abzuwarten, bis Chris danach schnappte!

Was war heute früh geschehen zwischen ihm und Eickboom? Wie lange würde es wohl dauern, bis er merkte, dass etwas nicht stimmte? Würden Achim und Klaus sich bei ihm melden, weil sie händeringend auf Karin warteten? Würde er den Gehstock sehen? Und würde er dann, wenn er begriffen hatte, was geschehen war, blindlings vorwärts stürmen? — Natürlich würde er das! Ohne zu überlegen und mit dem Kopf durch die Wand. Er würde zuerst schockiert sein, dann kurz seinen Verstand einschalten, aber schließlich nur noch aus Gefühl bestehen. Chris eben! Die Straße verschwamm plötzlich vor Karins Augen.

Eickboom lotste sie jetzt durch das Straßengewirr im Industriegebiet Ossendorf. Also hatte Chris von Anfang an Recht gehabt. Irgendwo hier hatte alles begonnen. Und irgendwo hier würde es enden. So oder so.

Er ließ sie über mehrere Höfe von Speditionen fahren und dann hinter einer lang gestreckten, von außen riesig wirkenden Halle anhalten. Als er ausgestiegen war, befahl er ihr, ebenfalls auf der Beifahrerseite nach draußen zu kommen. Wieder wartete er, bis sie die Prothese über den Schaltknüppel des Automatikgetriebes bugsiert hatte.

Eine schmale, steile Außentreppe führte in den Keller der Halle. Feuchte, modrige Luft schlug ihr entgegen. Eickboom tastete an der Wand entlang, ohne sie aus den Augen zu lassen. Dann flammte eine nackte Glühbirne auf, die einen engen Gang in diffuses Licht tauchte. Wieder war er so dicht bei ihr, dass sie die Hitze seines Körpers spürte.

Er sah kurz den Gang hinunter und stieß sie in einen kleinen Abstellraum. Ihr linker Schuh blieb irgendwo hängen. Sie stolperte und schlug der Länge nach hin.

Bevor sie sich aufrappeln konnte, war er über ihr, riss ihre Arme auf den Rücken, band sie zusammen. Ebenso verschnürte er ihre Beine. Und ehe sie auch nur ein einziges Wort des Protestes herausgebracht hatte, klebte irgendetwas auf ihrem Mund.

Kaum sechzig Sekunden, nachdem sie gefallen war, schlug Eickboom die schwere Eisentür von außen zu.