Sechsunddreißig
Nicht der geringste Lichtschimmer drang in den kleinen Kellerraum. Karin versuchte ihre Hände zu bewegen, wenigstens zu ertasten, womit sie gefesselt war. Das Material fühlte sich weich an, fast wie eine gedrehte Gardinenkordel. Sie drückte mit aller Kraft die Handgelenke auseinander, wollte die Schnur lockern, aber alles zog sich nur noch mehr zusammen.
Zeit floss dahin, träge, bleischwer. Sie konnte nicht abschätzen, wie lange sie schon hier lag. Es gab nichts, was ihr einen Anhaltspunkt gegeben hätte. Kein wandernder Schatten lieferte Hinweise, kaum ein Geräusch von draußen. Einmal glaubte sie, dass weit entfernt ein Motor aufheulte. Dann wieder vernahm sie das rhythmische Summen eines Gabelstaplers. Waren da über ihr Schritte? Oder hörte sie in Wirklichkeit gar nichts, spielte ihr die Fantasie einen Streich?
Wieder versuchte sie, die Hände zu bewegen, die abgeschnürte Durchblutung halbwegs aufrechtzuerhalten. Wenn sie doch nur das Klebeband auf ihrem Mund erreichen könnte. Es juckte erbärmlich.
Was würde er jetzt tun? Chris auflauern? Ihn mit einem gezielten Schuss töten?
Zum wiederholten Mal brach ihr der Schweiß aus allen Poren. Panik überschwemmte sie bis zur Übelkeit. Chris! Er war so hektisch aufgebrochen heute früh — und so fröhlich. Hatte sich auf den Abend gefreut, auf das gemeinsame Wochenende.
Ihr manchmal so impulsiver Chris! Der so hinreißend lachen konnte, dass einem das Herz aufging. Der stundenlang reden und genauso lange zuhören konnte. Der in der Lage war, all die kleinen Wunder, die diese Welt zu bieten hatte, mit Begeisterung wahrzunehmen. Der zum Vulkan wurde, wenn sie sich liebten. So wie letzte Nacht.
Letzte Nacht. War das die letzte Nacht für sie beide gewesen? Heute Morgen der letzte Kuss? Ahnte Chris, dass Eickboom der Mann aus der Toskana war? Wusste er um die Gefahr, in der er schwebte? Sie sah ihn in einer Blutlache liegen, die verzerrte Fratze von Eickboom über seinem wächsernen Gesicht.
Plötzlich merkte sie, dass sie weinte, dass einfach Wasser aus ihren Augen lief. Nicht Bernie, nicht so. Zum Weinen hast du später Zeit genug! Sei vernünftig, denk nach! Entschlossen schluckte sie Tränen und Rotz hinunter.
Ganz deutlich hörte sie jetzt ein Poltern über sich. Es war albern, aber es beruhigte sie, und die letzten Tränen versiegten.
Wieso hatte Eickboom sie hierher gebracht? Wäre es nicht einfacher gewesen, sie gleich umzubringen und dann auf Chris zu warten? Benutzte er sie als Lockvogel? Warum? Und wenn, musste Chris wissen, dass ausgerechnet Eickboom der zweite Mann auf dem Foto war. Und dann würde er jetzt, in diesem Augenblick handeln, und er würde vorsichtig sein.
Nach mehreren erfolglosen Versuchen gelang es ihr, sich aufzusetzen. Sie ließ die Schultern kreisen. Wenigstens wurde so das Kribbeln in den Oberarmen weniger. Aber das harte Metallgelenk ihrer Prothese drückte schmerzhaft gegen den rechten Fußknöchel. Sie konzentrierte sich eine Weile auf den Schmerz, um die nächste Panikwelle abzuwehren.
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass es draußen still geworden war, dass auch die wenigen weit entfernten Geräusche verstummt waren. Was war los? Lag sie etwa schon so lange hier, dass jetzt Nacht war? Nein, unmöglich! Oder? Natürlich — Freitag! Heute war Freitag. Und wer immer es sich von den Arbeitsabläufen her erlauben konnte, läutete gegen Mittag das Wochenende ein. War also Mittag? Früher Nachmittag?
Die Stille wurde erdrückend. Wer würde sie hier finden? Chris? Wann? Wenn sie verfault und vermodert war? War es das? Hatte Eickboom sich längst abgesetzt und ließ sie hier verrecken? Sie wollte schreien, aber aus ihrem zugeklebten Mund kam nur ein leises Winseln. Jetzt erst spürte sie die Kälte und die Feuchtigkeit, die aus dem Boden in ihre Kleider kroch. Plötzlich fror sie, klapperte am ganzen Körper. Oder war es doch nur die Angst, die ihre Muskeln außer Kontrolle geraten ließ?
Ein leises Trippeln ließ sie aufhorchen. Hoffentlich nur eine Maus. Davor hatte sie keine Angst. Aber wenn es eine Ratte war …? Sie lauschte angestrengt. Das Trippeln kam jetzt von der anderen Seite, Rascheln, dann Stille.
Das Knirschen der Eisentür erschien ihr überlaut. Unwillkürlich hielt Karin die Luft an, als die Tür aufschwang. Mit Eickboom kam hartes, blendendes Licht in den Raum.
Er hatte Jackett und Weste ausgezogen und die Ärmel des weißen Hemdes bis zu den Ellbogen aufgerollt. Er schien entspannt, ja, beinahe guter Laune. Mit einem Ruck riss er das Klebeband von ihrem Mund. Es brannte wie Hölle, und sie schmeckte Blut von der aufgerissenen Lippe.
„Verzeihen Sie“, murmelte er. „Aber ich konnte doch nicht riskieren, dass Sie schreien, nicht?!“
Er zwinkerte ihr zu, als er die Fußfesseln löste und wartete, bis sie ihr rechtes Bein so lange geschüttelt hatte, dass es ihr wieder gehorchte. Ihre Hände ließ er auf dem Rücken gebunden, aber er half ihr mit einem überaus charmanten Lächeln, auf die Beine zu kommen. Ein zuvorkommender, aufmerksamer Gastgeber.
Was machte ihn so fröhlich? Hatte er die erste Hälfte erledigt? Chris erledigt? Übelkeit stieg in ihr hoch. Nicht! Bitte nicht!
Über eine Hintertreppe führte er sie ins obere Stockwerk der Halle, drängte nicht, als sie langsam und unsicher nach oben stieg.
In krassem Widerspruch zu dem nüchternen Äußeren des Gebäudes und dem modrigen Keller, lagen hier in den gut ausgeleuchteten, hellen Fluren flauschige Teppichböden in edlem Grau. Die Wände zierten riesige Poster der romanischen Kirchen in Köln, Sankt Pantaleon, Groß Sankt Martin, Maria im Kapitol.
Eickboom schob sie in ein großes Büro, stellte einen Stuhl in die Mitte und befahl ihr, sich zu setzen. Dann riss er die zarte Seidengardine aus den Führungsschienen und band ihre noch immer gefesselten Hände am Stuhl fest. Die Mühe, ihre Beine zu fixieren, machte er sich nicht mehr, wie Karin voller Sarkasmus feststellte.
Als er wortlos den Raum verlassen hatte, sah sie sich hektisch um. Irgendetwas musste es hier doch geben, das sie erreichen, mit dem sie sich befreien konnte. Auf dem überdimensionierten Nussbaumschreibtisch stand ein Telefon. Aber wie dahin kommen? Wie es bedienen? Die Regale, in denen sich Aktenordner um Aktenordner reihten, halfen ihr auch nicht weiter. Neben dem Schreibtisch stand eine mannshohe Vitrine, in der Dutzende Elefanten aus Holz, Porzellan oder Plüsch ausgestellt waren. Wenn sie es schaffte, sich mitsamt Stuhl näher an die Vitrine zu schieben … sie könnte sich dagegen fallen lassen, das Glas würde vielleicht bersten, und vielleicht würde sie eine Scherbe in die Finger bekommen, mit der sie ihre Fesseln durchschneiden konnte.
Nein, es würde einen Höllenlärm machen. Eickboom hatte das Gebäude mit Sicherheit nicht verlassen und würde es sofort hören. Sie horchte angestrengt. Es war totenstill im Haus. Auch draußen regte sich nicht viel. Wo war er? Was hatte er vor?
Eickboom kam mit einem grauen Kanister unter dem Arm zurück. Ohne sie zu beachten, drehte er aus mehreren Blättern einer alten Zeitung, die auf dem Schreibtisch gelegen hatte, eine Wurst, schraubte den Behälter auf und träufelte ein wenig Flüssigkeit auf das Papier.
Sofort stieg Karin beißender Benzingeruch in die Nase. Sie erstarrte innerlich. In ihrem Mund wurde es staubtrocken, als sie sah, dass er die Papierwurst wie einen Docht in die Tülle des Kanisters steckte.
Offenbar zufrieden mit seinem Werk, wandte er sich Karin zu. „Molotowcocktail á la Eickboom“, grinste er. „Das ist übrigens mein Büro.“
Sie konzentrierte sich mit aller Macht auf diesen letzten Satz, um das, was der Benzinkanister in ihr auszulösen drohte, wegzudrücken. Sein Büro! Soweit sie wusste, befand sich Felting & Grube auf der anderen Rheinseite. Was meinte er also mit „mein Büro“?
„Haben Sie vielleicht Hunger, Frau Berndorf?“ Wieder war er der liebenswürdige Gastgeber.
Hunger? Sollte es eine Henkersmahlzeit geben? Hunger und Benzinkanister — wie ging das zusammen?
Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
„Ihre Hasselblad ist ein ausnehmend schönes Stück, wissen Sie das?“, sagte er lächelnd und setzte sich ihr gegenüber.
Er hatte das Stichwort geliefert; den Rest erledigte Karins rotierender Verstand. Sie wollte es wissen! Alles! Begreifen. Endlich verstehen, warum Inge sterben musste, Brigitte Tönnessen. Was es rechtfertigte, zwei Menschen zu töten —vier, wenn nicht bald etwas geschah. Sie wollte Klarheit, und wenn es nur dazu diente, ein wenig schlauer in die Urne zu steigen.
„Musste Inge deshalb sterben?“, fragte sie mit einer Stimme wie Sandpapier.
„Inge? Mein Gott, Inge sollte nicht sterben. Wahrhaftig nicht!“
Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Es war ein Missverständnis, ein Irrtum. Und dann ist einfach alles aus dem Ruder gelaufen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände …“
Er seufzte und Karin wartete mit angehaltenem Atem, ob er weitersprechen würde. Aber nach einem kurzen Zögern brach die Geschichte wie ein Wasserfall aus ihm heraus.
Eickboom hatte Inge bei einem Geschäftsfreund kennen gelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Ein in die Jahre gekommener Mann, der seinen zweiten oder dritten Frühling in den Knochen spürte. Sie begannen eine heftige Affäre, in der sie unbesorgt und ungeschützt miteinander schliefen. Einfach, weil Inge behauptete, sie wolle den Mann, den sie liebte, in sich spüren, so wie er war. Und er benahm sich wie ein Idiot, ließ sich darauf ein und verschwendete keinen Gedanken an ein Kind.
Als sie dann schwanger war, bestand er auf Abtreibung, sie aber wollte Geld. Viel Geld. Als Startkapital, um sich selbstständig zu machen. Damit eröffnete sie unbewusst Eickbooms Lieblingsspiel, in dem es nur eine Regel gab: Kein Geld ohne Gegenleistung. Also bestand er auf einen adäquaten Ausgleich. Er machte keinerlei Vorgaben, sondern wollte mit fast wissenschaftlichem Interesse beobachten, was sie sich einfallen ließ. Schon nach ein paar Tagen präsentierte sie dem leidenschaftlichen Sammler alter Kameras ein Geschenk, das es in sich hatte. Wie hätte sie auch ahnen sollen, was die aufgeschweißte Namensplakette in ihm auslöste?
„Wissen Sie eigentlich, wen Sie da fotografiert haben in der Toskana?“, fragte er leise.
„Manuel Viego“, gab Karin zurück. „eine Art spanischer Mafioso. Aber es wäre nie jemandem aufgefallen, wenn die beiden Frauen nicht gestorben wären.“
„Richtig!“ Eickboom lachte gequält auf. „Jetzt weiß ich das auch! Jetzt, wo es beinahe zu spät ist, nicht wahr? Viego und ich haben seit langer Zeit — sagen wir mal — Geldtransaktionen durchgeführt. Schwarzgeld, Sie verstehen schon. Drei oder vier Mal im Jahr haben wir uns in San Filomento getroffen, um alles Nötige zu besprechen. Als Sie dann mit der Kamera hinter dem Felsen aufgetaucht sind, war er völlig außer sich. Er glaubte sich entdeckt, von der Konkurrenz, von Interpol, von was weiß ich. Ich hatte das Ganze als das verstanden, was es wohl auch war: Als einen saudummen Zufall.“
Zufall, dachte Karin. Zufall, Schicksal, Karma, Kismet. Wie auch immer man es nannte, sie alle waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Nicht mehr und nicht weniger. Sie glaubte nicht an den allwissenden, gütigen, vor allem allmächtigen „Einen Gott“. Wenn er so gütig und allmächtig wäre, hätte er die ersten zehn Jahre ihres Lebens anders gestaltet. So viel stand fest. Allerdings konnte auch sie nicht bestreiten, dass es häufig Ereignisse gab, die auf unerklärliche Weise miteinander verbunden zu sein schienen. „Synchronizitäten“ sagten die Psychologen, „schicksalhafte Begegnungen“ die Romantiker. Wenn sie einen Beweis für dieses Phänomen gebraucht hätte — der weitere Bericht von Eickboom lieferte ihn.
Viego wollte an den Zufall nicht glauben und bestand darauf, die Frau mit dem Fotoapparat zu identifizieren. Da es im Ort nur drei Hotels gab, machte das keinerlei Probleme. Eickboom drückte dem Portier zwanzig Euro in die Hand und erzählte ihm, der Frau seines Lebens begegnet zu sein, wüsste aber nicht, wie sie heißt und so weiter. Der Mann hinter dem Tresen verriet ihm nicht nur den Namen und den Wohnort von Karin, sondern gab weitere umfassende Auskünfte. Er erzählte, dass die Dame Fotografin ist und vor ein paar Jahren schon einmal in ihrem schönen Dorf gewesen war. Und natürlich waren die Einwohner entsprechend stolz, dass ihre faszinierende Umgebung nun schon zum zweiten Mal in einem Buch präsentiert werden sollte. Ja, er holte sogar aus einem Hinterzimmer den Bildband, der damals mit Karins Fotos erschienen war und zeigte ihn Eickboom mit leuchtenden Augen.
Das alles bestärkte ihn in seinem Glauben an einen dummen Zufall. Und als der Portier ihm dann auch noch vertraulich ins Ohr flüsterte, ob er denn wisse, dass die Signora schwer behindert sei und nur ein Bein habe, war er vollends sicher. Wer hinter dem meistgesuchten Verbrecher Spaniens her war, würde mit Sicherheit keine einbeinige Frau durch die Felsen klettern lassen.
All das überzeugte schließlich auch Viego. Außerdem wollte er jedes Aufsehen vermeiden. Und ein Einbruch in Karins Hotelzimmer, der Diebstahl ihrer Filme hätte Aufsehen erregt. Sie rechneten beide mit einer völlig normalen Reaktion: Die Fotografin würde die unbrauchbare Aufnahme vernichten und alles wäre gut.
Eickboom vergaß die Geschichte beinahe — bis Inge die Gegenleistung brachte. Die Hasselblad mit der Namensplakette. Er geriet außer sich, vermutete ein abgefeimtes Spiel. Er ging auf sie los, drohte ihr, sprach von einem Negativ, das er haben wollte. Und Inge begriff sofort, dass hier ein Missverständnis vorlag, und dass sie mit ein wenig Geschick jede Menge Geld aus diesem Missverständnis machen konnte. Die Frau mit dem naiven Schmollmund behauptete eiskalt, dass sie das Negativ hatte und wollte fünfzigtausend Euro, bevor sie es herausrückte.
„Heute ist mir klar, dass sie nur geblufft hat.“ Eickboom sprach jetzt so leise, dass Karin Mühe hatte, ihn zu verstehen. „Ich habe sie darauf gebracht, ihr die Worte in den Mund gelegt, und sie hat sie clever genutzt. Dabei hatte sie keine Ahnung, um was es wirklich ging. Aber ich war so panisch, dass mir das nicht aufgefallen ist. Ich habe Viego angerufen, und der schickte gleich seinen Neffen Carlos los. Der sollte das verdammte Negativ besorgen, koste es, was es wolle. Bis zu seinem Eintreffen sollte ich Inge hinhalten, mit ihr verhandeln. Als Carlos dann hier war, schnappte er sie sich in meinem Haus. Mein Gott — sie hat vorher noch mit Harro im Garten gespielt.“
Eickboom senkte den Kopf und schluchzte auf. Das trockene, verzweifelte Weinen eines Mannes, der durch eine einzige Dummheit eine Kettenreaktion ausgelöst hatte, die nicht mehr zu stoppen war.
„Zwei Tage hat er Inge ausgequetscht — hier im Keller übrigens. Aber sie sagte ihm kein Wort. Wie konnte sie auch? Sie wusste doch nichts! Manuel und ich wollten so wenig Aufsehen wie möglich. Deshalb hatte Carlos auch den klaren Auftrag, sie nicht zu töten. Er sollte ihr eine Abreibung verpassen und das Negativ besorgen, mehr nicht. Aber irgendetwas ist dabei wohl aus dem Ruder gelaufen. Nach dem Tod von Inge war Manuel in Sorge, dass die polizeilichen Ermittlungen auf seine Spur führen könnten. Deshalb ermahnte er seinen Neffen, vorsichtiger zu sein. Also ist Carlos Ihnen nicht direkt auf den Pelz gerückt, sondern bei Ihnen eingebrochen. Er fand auch tatsächlich die Negative, die San Filomento und Umgebung zeigten. Aber bei der Durchsicht war schnell klar, dass es die Falschen sein mussten. Sie hatten eine alte Kirche aufgenommen, aber ich wusste, dass man sie vor drei oder vier Jahren abgerissen hat.“
Karin hatte also ihr Leben einem der meistgesuchten Verbrecher Spaniens zu verdanken. Erneut wurde ihr übel. Eine Gänsehaut kroch ihr bis in die Haarwurzeln. Ohne die Order von Manuel Viego läge sie jetzt neben Inge und Brigitte Tönnessen. Das war sicher.
Und was wäre wohl passiert, wenn diese Kirche noch gestanden hätte? Wäre dann Ruhe gewesen, weil sie glaubten, die aktuellen Bilder zu haben, und gar nicht fotografiert worden zu sein? Würde dann zumindest Tönnessen noch leben?
„Und warum Brigitte Tönnessen?“, fragte sie laut.
„Tönnessen?“ Eickboom stand auf und lehnte sich an den Schreibtisch. Sein Gesicht war aschfahl. „Carlos hatte sich sehr gründlich in Ihrer Wohnung umgesehen und versicherte, dass es dort keine anderen Negative aus der Toskana gab. Und zu diesem Zeitpunkt sind wir ja noch davon ausgegangen, dass Inge das Negativ hatte. Also beschloss Manuel zu warten. Entweder die Sache war erledigt, oder aber Inge hatte Helfer gehabt, und die würden sich früher oder später mit einem erneuten Erpressungsversuch melden. Dann erst wollte er entscheiden, wie wir vorgehen. Aber plötzlich tauchte diese Tönnessen bei mir auf und sagte mir auf den Kopf zu, dass ich Inge geschwängert und sie deshalb umgebracht hätte. Keine Ahnung, wie sie dahinter gekommen ist, dass Inge und ich … Sie wollte Schweigegeld, verstehen Sie? Stellen Sie sich vor, sie wäre mit diesem Verdacht zur Polizei gegangen? Das hätte wieder einen ganzen Rattenschwanz von Ermittlungen ausgelöst, an dessen Ende Manuel stand. Von dem Skandal mal ganz zu schweigen. Deshalb bekam Carlos den eindeutigen Befehl, diese Tönnessen auszuschalten.“
Also war auch sie ein Opfer ihrer eigenen Gier geworden. Nur eines passte immer noch nicht.
„Aber etwas ist mir unklar!“, hakte Karin nach. „Was hat Doktor Sprenger mit der ganzen Geschichte zu tun?“
Wieder dieses bittere Lachen. Er sah auf die Uhr und klemmte sich den Benzinkanister unter den linken Arm, hielt ihn genau auf Herzhöhe. Aus der Jackentasche zog er ein billiges Feuerzeug.
Dann erst erklärte er: „Das ist nun wieder ganz einfach. Carlos hat Inge verfolgt, als sie ihm weglief, hat kurz das Gesicht des Mannes gesehen, der sie fand und dass dieser Mann einen dunklen Wagen fuhr. Mehr nicht. Mein Gott, wenn ich geahnt hätte, dass ausgerechnet Doktor Sprenger …“
Er ließ offen, was er dann getan hätte. Die nächste Synchronizität, überlegte Karin, vielleicht die größte in dieser ganzen Geschichte.
„Und dann stand er plötzlich hier auf dem Parkplatz“, berichtete Eickboom weiter. „Lehnte an seinem schwarzen Nissan und beobachtete die Halle. Carlos war hier bei mir, hat aus dem Fenster gesehen und ist plötzlich fast durchgedreht. Er behauptete steif und fest, dass das der Mann war, der Inge gefunden hatte. Ich war wie erschlagen und wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Wir hatten doch keine Ahnung, ob Inge in der Nacht noch mit ihm geredet hat, ob sie das Negativ hatte, ob ich auch mit auf dem Bild war. Ich … ich dachte …“
Er fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn. Eine Bewegung, die Resignation ausdrückte. „Ich dachte, er hätte alles irgendwie herausgefunden. Er stand da wie eine einzige Provokation und …“
„ … und da haben Sie Carlos den Auftrag gegeben, Doktor Sprenger zu töten“, vollendete Karin. „Schon klar. Und wann haben Sie gemerkt, dass er gar nichts wusste?“
„Als nichts mehr passiert ist. Er hatte Carlos eine üble Schulterwunde zugefügt, also musste der sich absetzen. Die Tage vergingen, und trotzdem ist die Polizei nicht bei mir aufgetaucht. Verstehen Sie?“ Er lachte auf. „Spätestens nachdem Carlos versucht hatte, ihn umzubringen, hätte Doktor Sprenger doch der Polizei etwas gesagt. Aber es ist nichts geschehen.“
Jetzt seufzte er auf. „Und dabei wäre es wohl auch geblieben, wenn mein blöder Sohn heute früh nicht von der Toskana angefangen hätte.“
Er senkte den Kopf und verfiel in Schweigen. Hatte das Ende einer Kette von Fehleinschätzungen erreicht. Und auch das Ende einer Geschichte, die Karins ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatte.
Nun aber sah sie mit einem Mal wieder den Benzinkanister und blickte auf das Feuerzeug wie das Kaninchen auf die Schlange. Sie versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen, um eine weitere Panikwelle zu unterdrücken.
Eickboom konnte nicht wissen, was Feuer für sie bedeutete. Und ihm zu zeigen, was in ihr vorging, war das Dümmste, das sie hätte tun können. Dass sie Mühe hatte, nicht zu schreien, nicht wie verrückt an ihren Fesseln zu zerren. Dass sich in ihrem linken Oberschenkel plötzlich pochende Schmerzen breitmachten. Dass sie dabei war, völlig den Kopf zu verlieren.
Schweiß sickerte plötzlich in ihre Augen, brannte dort wie Feuer … Feuer. Irgendwie musste sie dieses Wort aus dem Kopf bekommen.
„Und … und was passiert jetzt?“ Ihre Kehle fühlte sich an wie ein Reibeisen.
„Jetzt? Jetzt warten wir auf Doktor Sprenger.“ Erneut schaute Eickboom auf seine Uhr und lächelte. „Er dürfte nicht mehr lange brauchen. Ich habe schon immer seinen brillanten Kopf bewundert.“
Karin lachte auf. „Glauben Sie etwa, er kommt allein? Er wird jeden Polizisten dieser Stadt hinter sich her schleppen, wenn es sein muss!“
„Könnte er, ja. Wird er aber nicht! Glauben Sie mir!“
„Sie kommen nicht weit!“, behauptete sie. „Die Polizei …“
„Die Polizei wird beschäftigt sein mit zwei verkohlten Leichen, die man hier findet!“, herrschte er sie an. „Bis dahin bin ich längst in Spanien. Manuel Viego lässt seine Leute nämlich nicht im Stich!“
War das auch wieder eine Fehleinschätzung? Seine letzte? Glaubte er wirklich, es bis nach Spanien zu schaffen?
„Was soll das alles? Sie könnten schon fast in Spanien sein. Stattdessen vertrödeln Sie hier Ihre Zeit und warten auf Doktor Sprenger!“ Hitzig forderte Karin ihn heraus. Die einzige Möglichkeit, ihre Angst halbwegs unter Kontrolle zu halten. „Sie müssen sich so oder so absetzen! Wieso sind Sie nicht längst weg?“
Er starrte sie mit einem Blick an, der auf ihrer Haut brannte, als wäre sie mit Trockeneis in Berührung gekommen. „Ich verliere nicht gern, Frau Berndorf. Mal ein Spiel oder auch zwei. Aber niemals eine ganze Partie! Doktor Sprenger könnte Ihnen bestätigen, dass ich zumindest immer ein Remis heraushole. So wie jetzt. Wir alle werden auf gewisse Weise unser Leben verlieren. Damit wären wir dann quitt!“
Mit gesundem Menschenverstand hatte dass alles nichts mehr zu tun. Und Karin spürte, dass er fertig war, längst nicht so selbstsicher, wie er vorgab. Das zeigten ihr nicht nur die Schweißflecke unter seinen Achseln, sondern vor allem seine extremen Stimmungswechsel. Von lachen, schluchzen, Liebenswürdigkeit bis zu eisiger Kälte war alles dabei gewesen. Sie kannte das von den anderen Patienten, damals in der Psychiatrie. Es waren immer Menschen gewesen, denen im Grunde nichts anderes mehr geblieben war als Verzweiflung. Eickboom in diesem Zustand — das konnte eine Chance sein. Gleichzeitig aber machte es ihn absolut unberechenbar.
„Und wenn Doktor Sprenger nicht kommt?“, provozierte sie weiter.
„Wird es nur eine verkohlte Leiche geben, Frau Berndorf!“
Seine Stimme war hart geworden. Hart und schneidend. Die Hand mit dem Feuerzeug hielt er direkt unter der Lunte. Was auch immer passieren würde, er hätte Zeit genug, einmal mit dem Daumen das Rädchen zu bewegen, das benzingetränkte Papier anzuzünden.
„Warum knallen Sie mich nicht einfach ab?“ Karin hatte ihre Stimme kaum noch unter Kontrolle.
Eickboom schaute an sich hinunter, zu der Pistole, die in seinem Hosenbund steckte, und lächelte. „Das ist eine alte Armeewaffe. Sie ist nicht geladen, denn es gibt keine Munition mehr dafür.“
Karin lief der Schweiß in Bächen an den Schläfen entlang, als sie hervorstieß: „Verdammter Schweinehund!“
Und dann ging alles sehr schnell.