Neununddreißig

 

Chris kniff die Augen gegen das grelle Sonnenlicht zusammen, das vom grünblauen Wasser zurückgeworfen wurde. In monotoner Regelmäßigkeit bauten sich weit draußen kleine Schaumkronen auf, rollten heran und umspülten seine nackten Füße.

Zwei Wochen nach dem Großbrand im Industriegebiet Ossendorf hatten sie seine Idee, damals im Labor von Karin geboren, in die Tat umgesetzt. Urlaub! Er hatte nur auf Frankreich bestanden, und alles andere Karin überlassen. Sie kam in ihrem Beruf so viel herum, dass sie mit Sicherheit die schönsten Fleckchen dort kannte.

Sie hatte etwas von „Vendée“ gemurmelt, zwei Telefonate geführt und ein Quartier organisiert. Der Patron des kleinen Hotels strahlte bei ihrer Ankunft über das ganze Gesicht, und seine Frau brach gar in Tränen aus, als sie nach vier Jahren ihre „Madame Bärdoff“ wiedersah.

Chris war nicht nur beeindruckt von der Herzlichkeit der Wirtsleute, sondern auch von der alten Villa, deren ebenerdige Gästezimmer alle Zugang in einen Garten hatten, den er im Stillen „Klein-Versailles“ nannte. Winzige, akkurat beschnittene Buchsbaumhecken umschlossen üppige Rosenbeete, die frisch geharkt und ohne jedes Unkraut waren. In der Mitte der Anlage befand sich ein Springbrunnen, umgeben von englischem Rasen, der aussah, als werde er regelmäßig mit der Nagelschere bearbeitet. Und jeden Abend zog der Patron mit einem feinen Rechen die Kieswege wieder glatt, die im Laufe des Tages von den Gästen zertreten worden waren.

Chris bohrte seine Zehen in den feuchten Sand und sah zu, wie die Sonne langsam sank. Er war immer noch fassungslos, dass er der Vendée, diesem schmalen Landstreifen zwischen Nantes und La Rochelle, bisher nie Beachtung geschenkt hatte. Für ihn war das immer nur plattes Land gewesen, trockengelegter Sumpf, Mückenplage und verödete Wiesen.

Dabei hatte die karge Landschaft einen ganz besonderen Reiz. Das Marschland war von Hunderten Kanälen durchzogen, gesäumt mit knorrigen Kiefern. Die Fischerhütten entlang der Treidelpfade — meist gewagte Holzkonstruktionen — standen auf morschen Stelzen über dem Wasser, und bei einsetzender Ebbe senkten ihre Besitzer blaue und rote Netze ins Wasser, mit denen sie dicke Krebse und Langusten aus dem Schlick zogen. Ein Schauspiel, an dem Chris sich kaum sattsehen konnte.

Beinahe ebenso gern saß er in einem kleinen Bistro an der Straße, die die Ile de Noirmoutier mit dem Festland verband und nur bei Ebbe befahrbar war. Sobald sich das Wasser zurückzog, waren der holprige, vom Meer ausgewaschene Weg und die Sandbänke zwischen Insel und Festland plötzlich so bevölkert wie die Kölner Fußgängerzone. In Gummistiefeln und Ölzeug schwärmten die Franzosen aus. Sie sammelten Miesmuscheln und Krebse, oder gruben diese platten Würmer aus dem Sand, die gebraten eine Delikatesse waren.

Stundenlang konnten Karin und Chris dort sitzen und einfach nur diesem Treiben zusehen. Und schon am dritten Tag holte der Wirt des Bistros einen besonderen Wein aus dem Keller, den sie unbedingt kosten mussten. Von da an setzte er sich immer eine Weile zu ihnen und nahm sich Zeit für einen gemütlichen Plausch.

Wenn sie nicht im Bistro saßen oder den Fischern zuschauten, machten sie lange Spaziergänge am Strand. Der feuchte harte Sand direkt am Wasser gab Karins Krücken den nötigen Halt, sodass sie es beinahe in den Nachbarort schafften. Heute waren sie allerdings zur Abwechslung in die andere Richtung gegangen und legten jetzt eine Zigarettenpause ein, bevor sie den Rückweg antraten.

Chris drückte die Kippe in den Sand und begann, sein Handtuch zusammenzurollen. Wenn sie nicht im Stockdunkeln beim Auto anlangen wollten, wurde es Zeit für den Aufbruch.

Karin starrte aufs Meer und seufzte plötzlich auf.

„Was ist?“, fragte Chris irritiert.

„Ach — ich dachte nur gerade, ob ich denn bald meine Hasselblad zurückkriege. Das Farbenspiel hier wäre was für die alte Dame!“

„Na, Susanne hat doch versprochen, Dampf zu machen. Es gibt keinen Grund, sie als Beweisstück festzuhalten. Eickboom ist tot, und Carlos wird in Spanien vor Gericht gestellt. Du wirst sehen, wenn wir zurück sind, hat Susanne deine alte Dame sicher schon auf dem Schreibtisch liegen.“

Karin zog das rechte Bein an und stützte ihr Kinn aufs Knie. „Meinst du, sie werden noch alle Details klären können? Wo Carlos sich in Köln aufgehalten hat, woher er ein Auto hatte und so weiter.“

Chris zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich nicht. Ich nehme an, Eickboom hat das alles organisiert. Aber den kann nun keiner mehr fragen. — Wollen wir zurückgehen, bevor´s dunkel wird?“

Er stand auf und wartete, bis Karin sich aufgerappelt hatte. Inzwischen kannte er seine Freundin gut genug, um zu wissen, dass es weder die Hasselblad noch Carlos waren, die Karin so nachdenklich machten.

Aber wie immer dauerte es eine Weile, bis Karin aussprach, was sie wirklich beschäftigte. Sie waren schon beinahe wieder am Parkplatz, als sie plötzlich stehen blieb und sagte: „Weißt du, ich glaube, Eickboom hat Inge wirklich gemocht. Er wollte sicher nicht, dass sie stirbt. Aber als es dann passiert war, kam eins zum anderen. Eine Kettenreaktion, die nicht mehr zu stoppen war.“

„Ist das nicht immer so? Löst nicht jede unserer Handlungen wiederum eine Handlung aus, die weder abzusehen noch beeinflussbar ist?“

„Du meinst: Inge fällt das Notizbuch aus der Hose, und wir lernen uns kennen. Ich erzähle dir was von Edelnutte, du gehst daraufhin zu Tinni, und letztendlich bist du an die Kundenliste gekommen, und so weiter und so weiter.“

„So ähnlich, ja!“ Chris nickte und sah auf den blutroten Ball, der sich Zentimeter um Zentimeter dem Meer näherte. „Wenn du´s genau nimmst, kannst du das bis ins Unendliche fortsetzen. Hätte ich kein Abitur gemacht, wären meine Eltern nie auf die Idee gekommen, zu sagen: `Studier was Vernünftiges´. Hätten sie das nicht gesagt, wäre ich kein Jurist geworden. Wäre ich kein Jurist geworden, hätte ich Eickboom nicht kennen gelernt, und, und, und. Alles, was wir tun, hat Folgen, und jede Folge ist das Resultat einer anderen Folge.“

„Du!“ Karin wandte sich zu ihm, und die Kiesel waren ernst wie selten. „Ich bin verdammt froh, dass Inge ihr Notizbuch verloren hat.“

Sagte die Frau, die „grundsätzlich keine Liebeserklärungen macht“. Und Chris hoffte, dass es schon dunkel genug war, um seine Ergriffenheit zu verbergen. Er nahm sie in die Arme, und sie blieben lange Zeit so stehen.

Bis der Ball ins Meer gefallen war.

So wie jeden Abend.

 

Bevor sie ins Auto stiegen, kam dann das Unvermeidliche.

„Chris?“

„Hm?“

„Jetzt ist es doch vorbei, oder? Ich meine: Eickboom ist tot, Carlos verhaftet …“

„Ich denke, ja. Manuel Viego wird froh sein, wenn sie ihn nicht finden und im Untergrund bleiben.“

„Dann könnten wir doch jetzt unsere Vereinbarung treffen, nicht? Keine gefährlichen Ermittlungen mehr!“

„Äh …“

„Chris!“

Der warnende Unterton in ihrer Stimme ließ ihn einlenken. „Okay, okay! Ich versprech´s dir ja“, beteuerte er schnell. „Ich schwöre bei Grete, der Fischfrau!“

Sehr überzeugend klang es nicht …