Einunddreißig

 

Sie waren zu erschöpft und zu müde, um noch großartig nachzudenken und dem Gehirn irgendwelche Verrenkungen zuzumuten. Zwei Zigarettenlängen bei mehr als gut gefüllten Whiskygläsern und ein bisschen kuscheln, das war alles, wozu sie noch in der Lage waren.

Chris saß auf der Couch und hatte die Beine auf den Glastisch gelegt. Mit einer Hand kraulte er Karins Locken, die lang ausgestreckt dalag und ihren Kopf in seinen Schoß gebettet hatte.

„Wie macht sie das bloß?“, fragte sie unvermittelt und schob das Whiskyglas auf ihrem Bauch hin und her.

„Wer? Was?“

„Na, die Braun! Sie ist mindestens so lange auf den Beinen, wie du und ich. Viel Schlaf hat sie die letzten beiden Wochen sicher auch nicht gehabt. Nur, wir beide sind völlig am Ende, und sie rennt mit dem Abzug los und gibt diese Nacht sicher nicht eher Ruhe, bis der Typ identifiziert ist. Woher nimmt sie, verdammt noch mal, die Energie?“

„Vielleicht ist Energie nicht ganz der richtige Ausdruck. Besessenheit passt wahrscheinlich besser.“

„Wie meinst du das?“

„Susanne war mal eine charmante, attraktive Frau, sprühte vor Witz, irgendwie hinreißend. Sie hat großen Wert auf ihr Äußeres gelegt und eine Menge Geld für schicke Klamotten ausgegeben. Ob du´s nun glaubst oder nicht. Ihr Mann Peter war ebenfalls Polizist, Hauptkommissar im Wach- und Wechseldienst. — und er war mein bester Freund. Ich hatte gerade mit dem Studium angefangen, da haben wir uns auf einem Juraseminar kennengelernt. Wir hatten gleich einen Draht zueinander. Dass er ein paar Jahre älter war, spielte irgendwie nie eine Rolle. Er war …“

Chris schluckte hart. Es war immer noch schwer, über Peter zu sprechen, ohne dass ihm das Herz bleischwer wurde. „Er war für mich so was wie der große Bruder, weißt du. Ohne ihn hätte ich mich sicher auch nicht auf Strafrecht spezialisiert. In meinen Augen war sein Job der spannendste auf der ganzen Welt. Bulle wollte ich aber nicht werden. Also Strafrecht, dachte ich. Das hatte ja auch was mit seiner Arbeit zu tun. Vor ein paar Jahren dann … Er ist bei einer Alkoholkontrolle erschossen worden, von einem Kleinkriminellen, der in Panik geraten war. Gegen ihn lag nur ein Haftbefehl wegen Hehlerei vor, weiter nichts. Jetzt sitzt er fünfzehn Jahre. Was Peter jedoch auch nicht wieder lebendig macht.“

„Und seitdem ist Susanne so wie sie ist!“, schloss Karin aus seinen Worten.

„Ja! Peter hatte mal zu mir gesagt, ich soll mich um `seine Süße´ kümmern, falls ihm was passiert. Ich hab´s versucht, ehrlich. Ich dachte, wenn wir zusammen trauern, über ihn reden … Aber Susanne hat komplett dichtgemacht. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, tut sie das bis heute. Sie hat seinen Tod wohl nie verwunden, und ich glaube, jeder Todesfall in dieser Stadt wird in ihren Augen zu Peter. Und dann überschreitet sie alle Grenzen.“

„Chris?“

„Hmh?“

„Ich … du … Herrgott, Chris! Ich möchte nicht mein Leben lang Angst um dich haben. Ich möchte nicht, dass du …“

„Dein Leben lang?“, unterbrach er sie weich. „Hab ich lebenslänglich von dir bekommen.“

Karin richtete sich auf, und die Kiesel bohrten sich in seine Augen. „Ja“, sagte sie nur.

Er nahm ihr Gesicht sanft in beide Hände. „Ich bin Strafverteidiger, Karin. Es wird immer mal wieder Situationen geben, in denen ich ermitteln muss, Zeugen auftreiben, Befragungen durchführen und so was.“

„Okay, okay! Aber du musst dich nicht unbedingt in Sachen einmischen, die dich nichts angehen, oder?“

„Nein“, gab er zu und biss sich auf die Lippen.

„Könnten wir dann eine Abmachung treffen? Wenn das hier vorbei ist? Keine Sachen mehr, die nicht unmittelbar mit deiner Arbeit zu tun haben?“

„Wenn das hier vorbei ist, ja“, antwortete er zögerlich.

 

Es war schon heller Tag, als Chris aufwachte. Karin schlief tief und fest neben ihm. Ihr Gesicht war völlig entspannt, und in den Mundwinkeln hingen kleine Bläschen, die beim Einatmen zusammenschrumpften und sich beim Ausatmen aufblähten.

Er widerstand der Versuchung, sie zärtlich mit dem Finger wegzuwischen und schlich stattdessen in die Küche. Während die Kaffeemaschine blubberte, deckte er leise den Tisch mit dem blau-weißen Geschirr und pfiff dabei ebenso leise vor sich hin. Es war ein strahlend schöner Tag mit glasklarem Himmel, über den die Mauersegler schreiend ihr Zickzack flogen und wie toll den Insekten hinterherjagten.

Als der Kaffee fertig war, füllte er zwei Tassen und ging ins Schlafzimmer zurück. Während er sich vorsichtig auf der Bettkante niederließ, schwenkte er die Tasse mit viel Milch unter Karins Nase.

Aber es dauerte eine Weile, bis sie, ohne die Augen zu öffnen, murmelte: „Wenn man so geweckt wird, kann der Tag nur wundervoll werden.“

„Wenn du die Augen aufmachst, könntest du sehen, wie wundervoll dieser Tag schon ist.“

„Hm“, brummte sie. „Ist mir zu hell.“

Sie tastete nach seiner Hand und legte sie sich über die Augen.

„Bist du sicher, dass du den neuen Tag so sehen kannst“?, fragte Chris lachend.

„Absolut! Hab heimlich durch deine Finger geschaut.“ Sie zog seine Hand weg und strahlte ihn an. Dann schob sie ihre Rechte unter seinen Bademantel, verharrte eine Weile auf dem Oberschenkel, bevor sie Richtung Innenseite glitt, weiter nach oben und schließlich jeden klaren Gedanken in Chris löschte.

„Wie geht es deinem Bein?“, fragte Karin, als sie endlich beim Frühstück saßen.

„Gut! Warum?“

„Gut genug für einen Spaziergang? Ich muss mich irgendwie bewegen.“

„Was schlägst du vor?“

„Königsforst? Wildgehege?“

„Halt ich aus. Und du?“

„Ohne mein altes Mädchen kein Problem. Aber was ist mit deinen Bodyguards da draußen?“

„Die werden wohl oder übel mitlaufen müssen. Obwohl ich das Ganze wirklich für Quatsch halte. Carlos ist über alle Berge, darauf gehe ich jede Wette ein.“

Sie gingen außen um das Gehege herum. Der Weg war zwar länger, aber man hatte Chancen, eine friedliche Rotte Wildschweine zu sehen, die sich vor den Menschenströmen im Inneren bis an den äußeren Zaun zurückzogen.

Karin hatte nicht übertrieben, als sie die Reaktion ihrer Mitmenschen beschrieb. Die meisten der anderen Spaziergänger warfen der einbeinigen Frau Blicke zu. Manchmal mitleidig, manchmal ablehnend, manchmal fasziniert. Chris starrte jedes Mal auf die gleiche Weise zurück. In neunzig Prozent der Fälle erreichte er zumindest ein Niederschlagen der Augen.

Schon seit dem Frühstück war Karin schweigsam. Viel zu schweigsam für sein Gefühl. Und obwohl sie sich auf einem Waldlehrpfad befanden, an dessen Rändern viele außergewöhnliche Gewächse blühten, war sie noch kein einziges Mal stehengeblieben, hatte weder etwas betrachtet noch erklärt.

Erst als sie schon fast die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, rückte sie mit dem heraus, was sie beschäftigte. „Kann es sein, dass Inge sterben musste, nur weil ich aus Versehen dieses dämliche Foto gemacht habe?“

Er legte seine Hand auf Karins Linke und passte seine Schritte an. „Was soll das, Karin? Du kannst nun wirklich nichts dafür!“

Sie blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Wenn es dieses Foto nicht gegeben hätte, wäre Inge nie auf die Idee gekommen, jemanden zu erpressen.“

„Karin!“ Er sprach ihren Namen schärfer aus als beabsichtigt. Wieso nur mussten sich Frauen immer wieder Schuldgefühle einreden? Es machte ihn jedes Mal grässlich wütend. Zu oft schon hatte er erlebt, dass eine grün und blau geschlagene Ehefrau die Anzeige gegen ihren Mann wieder zurückzog, weil sie eigentlich selbst Schuld war. Schließlich hatte der Mann ja nur zugeschlagen, weil sie das Essen zu spät, zu kalt oder zu warm auf den Tisch gebracht hatte.

„Karin!“, sagte er noch einmal und fasste seine Freundin hart an den Oberarmen. „Du verwechselst Henne und Ei! Inge war habgierig und hat das dicke Geschäft gerochen. Sie wollte Geld, Macht, der Tönnessen eins auswischen. Aber sterben musste sie nur, weil ein Mann beschlossen hatte, sie zu foltern! Nicht mehr und nicht weniger. Wen auch immer sie erpresst hat, er hätte unter tausend Möglichkeiten wählen können. Er hätte zahlen können, zur Polizei gehen, was weiß ich. Aber er hatte nicht das Recht, sie zu quälen. Er hatte nicht das Recht, einem Menschen das Leben zu nehmen. Niemand hat das!“

Chris redete sich richtig in Rage, beinahe wie vor Gericht. Hatte zum Schlussplädoyer angehoben in der Sache „Berndorf gegen ihren Schuldkomplex“. Jetzt holte er tief Luft und hoffte, dass es da ankam, wo es hinsollte.

Karin sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Dann drehte sie sich um und sah einem Wildschwein zu, das hinter dem dicken Maschendrahtzaun in der Erde wühlte. Ab und zu sah es auf und blickte über die dreckverkrustete Nase hinweg misstrauisch zu den beiden Menschen hinüber.

Es dauerte eine Weile, aber dann nickte Karin. „Ich verstehe, was du meinst“, sagte sie langsam und lachte auf. Das Wildschwein zitterte mit den Flanken und machte sich verschreckt davon. „Um bei deinem Bild zu bleiben: Das Foto war das Ei, aber ohne Henne und ohne Hahn wäre da nie ein Küken draus geworden.“

Damit ging sie weiter und zeigte Chris den „Zottigen Klappertopf“, dessen gelbe Blüten beinahe die Form einer Narrenkappe hatten.

Es war angekommen.

 

„Die Italiener waren ausnahmsweise mal schnell“, sagte Susanne und nippte an ihrem Wasser.

Sie hatte sich mit den beiden in einem Café schräg gegenüber dem Präsidium getroffen. Der Besitzer schien eine Vorliebe für Schwarz zu haben. Schwarz gefliester Boden, schwarze Tische und Stühle, schwarz gekleidete Bedienung. Dagegen sah ein Beerdigungsinstitut freundlich aus. Aber der Kaffee war gut.

Und schwarz.

Die Kommissarin setzte ihr Glas ab, bevor sie die Neuigkeiten berichtete, die sie am Telefon angekündigt hatte. „Ein Portier im Hotel hat sich erinnert, dass sich jemand nach der großen blonden Frau erkundigt hat. Ein Deutscher übrigens, um die sechzig, Halbglatze. Der Portier hat gegen ein kleines Bakschisch ein wenig erzählt, den Namen genannt und gesagt, dass sie aus Köln kommt.“

„Dann wäre die Verbindung also klar“, konstatierte Chris.

„Ja, ich denke mal, dieser Deutsche war der zweite Mann auf dem Foto. Wir haben daran übrigens noch ein bisschen gebastelt. Das Vergleichsbild ist zwar mehr als zehn Jahre alt, aber es gibt keinen Zweifel, dass da Manuel Viego den toskanischen Sonnenuntergang genossen hat.“

Susanne löffelte sich Zucker in den Kaffee und sah Chris eindringlich an. „Zumindest seinen Neffen müssen wir nicht mehr fürchten. Er hat wohl versucht, nach Spanien zu kommen. Irgendwie hat er sich nach Lyon durchgeschlagen und dort ein Auto geklaut. Ein hellwacher Beamter der französischen Polizei hat das Kennzeichen erkannt und ihn angehalten. Carlos hat ihn niedergeschossen und ist geflohen. Hinter der spanischen Grenze ist er aber dann von der Guardia Civil hopsgenommen worden. Er war sehr geschwächt von der Schussverletzung an der Schulter und hat sich beinahe widerstandslos festnehmen lassen. Wenn er auch im Moment die Aussage verweigert — er sitzt hinter Schloss und Riegel und wird niemanden mehr quälen.“

„Glaubst du, sein Onkel schickt einen Neuen?“, fragte Chris. Er konnte kaum aufhören, Susanne anzustarren. Sie trug himmelblaue Hosen und eine quittengelbe Bluse und erinnerte ihn in all dem Schwarz fatal an einen Papagei.

„Ich denke nein“, erwiderte sie. „Er wird jetzt erst mal damit beschäftigt sein, seine eigene Haut zu retten. Die Italiener haben das Ferienhaus ausfindig gemacht, das er in der Nähe von San Filomento unter falschem Namen besitzt. Laut Aussage der Nachbarn hat er es vier bis fünf Mal im Jahr für ein paar Tage benutzt. Meist war er in Begleitung eines Deutschen, um die sechzig, Halbglatze. Also wohl der, der sich im Hotel erkundigt hat. Seine Identität bleibt allerdings absolut schleierhaft. Die Italiener versprechen sich aber eine Menge von der Spur — zumindest was Manuel Viego betrifft.“

„Und wenn dieser Deutsche jetzt nochmal Chris ans Leder will?“, fragte Karin dumpf.

„Der Anschlag ist über eine Woche her. Es sollte also jedem klar sein, dass wir längst reagiert hätten, wenn wir mehr wüssten.“

„Was ist mit Geseke?“, hakte Chris nach.

„Geseke! Zenker wird Anklage erheben, aber nur wegen illegalen Drogenhandels. Etwas anderes ist ihm nicht nachzuweisen. Und so, wie sich die Dinge entwickelt haben, sagt er höchstwahrscheinlich die Wahrheit. Er hat mit dieser ganzen Sache nichts zu tun.“

„Und wie geht es jetzt weiter?“, schaltete sich Karin wieder ein, während sie an einem Kaffeefleck herumrieb, den sie sich auf die Jeans gekleckert hatte.

„Gute Frage! Der Deutsche aus der Toskana ist unser fehlendes Puzzle-Stück. Er ist wahrscheinlich derjenige, dem Chris zu nahe gekommen ist. Aber solange unserem gemeinsamen Freund nichts dazu einfällt …“

„Scheiße! Meinst du, ich zerbreche mir nicht den Kopf darüber?“, explodierte Chris. Tatsächlich grübelte er schon seit Tagen darüber nach, hatte versucht, die Zeit zwischen dem Tod von Inge und dem Anschlag auf ihn minutiös zu rekonstruieren. Für jeden Tag hatte er ein schriftliches Protokoll fixiert mit Abläufen, Terminen, den Gesprächen, die er geführt hatte. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, das alles möglichst lückenlos wiederzugeben. Gebracht hatte es nichts. Auch Karin, die mehr Abstand dazu hatte, las alles mehrmals aufmerksam durch, fand aber auch keinen noch so kleinen Hinweis.

„He, reg dich ab! Ich wollte doch damit nur sagen, dass die Chancen zurzeit ziemlich schlecht stehen, ihn zu finden. Wenn Carlos nicht redet oder in dem Ferienhaus keine Visitenkarte von ihm liegt, kommen wir keinen Schritt weiter.“

„Es muss sich doch feststellen lassen, wo Carlos sich hier in der Stadt aufgehalten hat.“

„Wir sind da dran.“ Susanne rührte heftig in ihrem Kaffee. „Aber bisher scheinen wir ein Phantom zu jagen. Wahrscheinlich ist er nicht in einem Hotel abgestiegen, und er hat sich keinen Leihwagen gemietet. Zumindest nicht im Stadtgebiet. Wir ziehen unsere Kreise jetzt weiter. Aber viel Hoffnung hab ich nicht.“

Mit einer resignierten Bewegung legte sie den Löffel zur Seite. „So langsam gehen mir die Ideen aus.“

„Mal angenommen“, begann Karin zögernd, „,mal angenommen, an der Theorie von Chris mit dem Liebhaber alter Kameras ist was dran. Könnte man da nicht ansetzen? Ich kenne zwei, drei Fotohändler, die auf alte Kameras spezialisiert sind. Über die käme man mit Sicherheit an Sammler, Vereine und so.“

Die Polizistin zögerte kurz. Aber dann griff sie nach dem einzigen Strohhalm, den dieser Fall noch bot. „Wer sind die Händler?“, fragte sie und schlug ihr Notizheft auf.

„Der eine ist Zabel in Ehrenfeld. Der andere hat seinen Laden in Lindenthal. Foto Hundgeburt.“

Chris und Susanne wieherten gleichzeitig los.

Als Susanne schließlich grinsend die Angaben notierte, murmelte sie: „Großer Gott, konnte der nicht den Namen seiner Frau annehmen?“

„Seine Frau ist eine geborene Jungverdorben“, versetzte Karin trocken.

„Oh!“ Susanne hob irritiert den Kopf. „Ja, dann!“

 

Auf dem Weg ins Marienkrankenhaus, wo Chris sich auf Geheiß von Anne die Fäden ziehen lassen sollte, haderte Karin mit Staatsanwalt Zenker. Susanne hatte ihnen zum Schluss nämlich eröffnet, dass er für Chris keine akute Gefahr mehr sah, da Viego in Haft saß. Auch die Sonderkommission war drastisch verkleinert worden. Der Personenschutz für Chris wurde also aufgehoben.

„Und wenn die Spanier doch einen anderen schicken?“, wetterte Karin und bremste hart vor einer roten Ampel. „Was dann? Ein Arschloch von Staatsanwalt ist das!“

„Das ist er“, lachte Chris und sah einer Gruppe von Schulkindern nach, die vor ihnen die Straße überquerte. „Aber im Ernst. Ich glaube, Zenker hat Recht. Wer auch immer Viego beauftragt hatte, mich umzubringen — ihm sollte längst klar sein, dass er mich überschätzt hat. Er weiß, dass ich nichts weiß.“

„Heißt das, es ist vorbei?“

Er biss sich auf die Lippen. Rational hätte er nicht begründen können, warum er jetzt „Nein!“ sagte. Er machte nicht einmal den Versuch, und auch Karin verlangte keine Erklärung. Irgendwie war beiden klar, dass dieses intuitive „Nein“ seine Berechtigung hatte.

Gleichzeitig setzte sich in ihm die bittere Erkenntnis fest, dass sie vielleicht nie würden klären können, wer der zweite Mann in der Toskana war. Wie sollte die Polizei einen Sammler von Kameras mit Manuel Viego in Verbindung bringen? Wenn es denn überhaupt eine Verbindung gab. Sicher, es war einen Versuch wert. Andererseits konnte es gut sein, dass Susanne nur Zeit und Steuergelder verschwendete.

Chris musste ein paar Minuten warten, ehe Anne Zeit für ihn hatte. Außer einem gläsernen Instrumentenschrank gab es in dem kleinen Behandlungszimmer nicht viel zu sehen, und er langweilte sich. Nachdem er eine Weile in den tristen Innenhof des Krankenhauses geblickt hatte, setzte er sich auf die  Behandlungsliege, summte „Nights in White Satin“ vor sich hin und ließ die Beine im Takt dazu baumeln. Karin wartete draußen im Gang, saß auf einem dieser grässlichen grauen Plastikstühle, die den Hintern im Winter eiskalt und im Sommer feucht machten.

Als Anne endlich kam, murmelte sie nur einen kurzen Gruß. Sie sah bitterer aus denn je. Die Mundwinkel waren herabgezogen, und die Falten daneben tief eingekerbt. Während sie den Verband am Oberschenkel aufschnitt, griff sie an. Frontal und ohne Vorwarnung.

„Was willst du mit der?“

Chris verschlug es im ersten Augenblick die Sprache. „Wie meinst du das?“, fragte er dann mühsam beherrscht.

„Sie passt nicht zu dir!“, zischte die kleine Ärztin. „Halt gefälligst still!“

„Okay, Anne. Können wir uns darauf einigen, dass ich mein Leben lebe, ich mit dieser Frau zusammen sein möchte und nicht du?“

„Von mir aus. Hose hoch, und beweg den Kopf nicht. Komm dich nur nicht ausheulen irgendwann!“

Er schluckte die Bemerkung hinunter, dass sie mit Sicherheit die Letzte wäre, bei der er sich ausheulen würde. Er schluckte auch seine Wut hinunter — wieder einmal.

„Was soll das, Anne? Erst versuchst du ständig, mich zu verkuppeln, und jetzt ist es dir auch nicht recht.“ Plötzlich dämmerte es ihm. „Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“

Sie rupfte den letzten Faden aus der Stirn. „Eifersüchtig? Nee, du, das hab ich nicht nötig. Ich hab ja schließlich noch zwei Beine!“

Was Chris davon abhielt, ihr einfach ins Gesicht zu schlagen? Vielleicht der letzte Funke Verstand. Vielleicht auch ihr mit einem Mal feuerrotes Gesicht, ihr Gestammel: „Gott, was hab ich gesagt? … Chris … es tut mir Leid … Ich wollte …“

Den Rest hörte er nicht mehr. Er stürzte nach draußen, rannte an der verdutzten Karin vorbei Richtung Ausgang. Um sich herum nahm er nichts mehr wahr, alles wurde überschwemmt von ohnmächtigem, hilflosem Zorn.

Kurz vor der Tür ging ihm auf, dass Karin unmöglich so schnell folgen konnte. Schuldbewusst ging er über die roten Markierungen am Boden zurück, traf sie auf der Hälfte des Weges und passte sich ihrem Schritt an.

Sie hatten Gott sei Dank Karins Wagen genommen, denn er war so voller Wut, dass er am Steuer eine Gefahr für seine Mitmenschen geworden wäre. Der Zorn knipste jeden klaren Gedanken in ihm aus, ja, er merkte nicht einmal, dass Karin nicht nach Hause fuhr, sondern stadtauswärts abbog.

Erst als sie auf einem Parkplatz in der Nähe des Decksteiner Weihers hielten und sie sagte: „Komm, lass uns ein bisschen gehen“, kam er halbwegs zu sich.

Karin wartete, bis sie schon ein Stück am Kanal entlanggegangen waren, ehe sie fragte: „Und?“

„Dieses … dieses … Stück Scheiße!“, platzte es aus ihm heraus. „Dieses widerliche Stück Scheiße! … Ich könnte ihr den Hals rumdrehen, ich schwör´s dir! Dieses bösartige Luder müsste der Schlag treffen!“

Er rannte ein paar Schritte vor und brüllte: „Ich habe acht Jahre meines Lebens mit einem Stück Scheiße verbracht! Ist dir das klar?“

Ein älterer Mann mit einem Pudel an der Leine drehte sich erschrocken zu ihm um, während er mit in die Hüften gestemmten Fäusten direkt am Wasser stehenblieb.

Karin trat hinter ihn und fragte ruhig: „Sie hat was über mich gesagt, hm?“

Als sie keine Antwort erhielt, kombinierte sie weiter: „Sie hat was über mein Bein gesagt, richtig?“

Chris knurrte unwillig.

„Komm.“ Sie nahm seinen Arm und drückte ihn auf eine Bank ein paar Meter weiter. Sofort schwammen ein paar Enten heran und bettelten schnatternd um Brot.

Karin zündete zwei Zigaretten an und steckte ihm eine zwischen die Lippen. Aber erst nachdem sie beide einen tiefen Zug inhaliert hatten, sprach sie weiter. „Es wird immer wieder Leute geben, die Bemerkungen machen und blöd gucken, Chris.“

Sie malte mit ihrem Stock Kreise in den Sand. „Erinnere dich an unseren Spaziergang vor ein paar Tagen.“

„Aber warum, zum Teufel?“, rief er aufgebracht. „Du bist ein wunderbarer Mensch. Und wenn du den Kopf unterm Arm tragen würdest, bliebst du doch dieser Mensch!“

„Weißt du, was sie mir früher in der Schule alles nachgerufen haben?“ Der Stock zeichnete jetzt Quadrate und Rechtecke.

„Aber das waren Kinder!“, protestierte Chris.

„Es hat deshalb nicht weniger weh getan“, gab sie leise zurück.